Menschenerkenntnis

Menschenerkenntnis als Lebenselement wahrer Pädagogik.


Um wahrhaft erziehen zu können, muss man das Wesen des werdenden Menschen immer tiefer verstehen können.

Es nützt gar nichts, sich wunderbare, plausible Vorstellungen von "guter", "richtiger" Pädagogik zu machen - man kann dennoch ganz und gar in die Irre gehen und das Wesen des Menschen völlig verfehlen und verschütten.

Man kann sogar den Grundsatz nehmen: "Erziehung ist Selbsterziehung" - abstrakt gedacht wird man selbst damit nur Fehler über Fehler machen.

Heute zeigt sich dies in so "modernen" Vorstellungen wie: "Jedes Kind muss seinen individuellen Lernweg finden". Das ist eine Viertelwahrheit, und der Rest ist falsch.

Zum einen ist die Individualität im Kindesalter noch gar nicht erwacht - das soll ihr ja erst im Laufe vieler Jahre ermöglicht werden. Was jedoch sehr vielfältig ist, sind die Hindernisse, die auf dem Weg jedes einzelnen Kindes liegen - damit muss sich der Erzieher in der Tat auseinandersetzen.

Zum anderen führen das moderne "Individualisieren" und die "individuellen Lernwege" oft dazu, dass der Erzieher geradezu wegfällt! Er wird zum reinen "Lernbegleiter". Das Kind soll sich selbst "seine" Zugänge zur Welt suchen. Was es da finden kann, ist von vornherein klar. Das Kind findet die Welt, wie sie sich heute darlebt - geistlos, seelenlos, abstrakt, materialistisch.

Man macht sich dies in seinem vollen Ernst nicht so leicht klar, denn für die Kinder ist die Welt in allen Einzelheiten interessant, faszinierend, wunderbar. Doch was sie wirklich aufnehmen, aufgenommen haben, das sieht man spätestens, wenn sie in der Pubertät sind. Und man stellt es heute ja bereits viel früher fest. Schon in der vierten, dritten, zweiten Klasse sind die Kinder oft altklug, intellektuell sehr weit, haben die Fähigkeit zu staunen nicht selten weitgehend verloren usw.

Das kommt heraus, wenn die Kinder ihre "eigenen" Wege suchen sollen. Es sind aber gar nicht ihre eigenen Wege, sondern es ist die Signatur unserer heutigen Welt, die sie dadurch aufnehmen, ohne ihr von innen heraus etwas entgegensetzen zu können.

Am Anfang bringen die Kinder Fähigkeiten mit: Phantasie, Staunenkönnen, echte Fragen, Ehrfurcht, Seelenfülle. In der heutigen Welt verlieren sie all dies innerhalb kürzester Zeit. Es sei denn, sie haben einen Lehrer, der ihnen die Welt in eigener seelenvoller Erfahrung und durchgeistigter Darstellung nahebringen kann. Dann kommt ihnen das, was sie selbst in sich tragen, in verwandter Form vom Lehrer entgegen; dann können die Fähigkeiten, die die Kinder mitbringen, bewahrt, vertieft, verwandelt werden.

Dann finden die heranwachsenden Menschen im Laufe von 12, 13 Jahren wirklich zu ihrem je Eigenen.

Die Kunst ist nicht, die Kinder von Anfang an ihren "eigenen" Weg gehen bzw. suchen zu lassen, sondern die entscheidenden Fähigkeiten und noch lange verborgen liegenden Keime so weit zu bewahren und zu nähren, dass sie sich am Ende entfalten und offenbaren können.

Es kommt darauf an, Keime zu pflegen, damit am Ende überhaupt etwas da ist, was sich dann als Eigenes offenbaren wird.

Mit welcher Seelenfülle und Geistestiefe man die Welt erleben kann, das ist natürlich auch für jeden Erzieher unterschiedlich. Aber auch hier stellt sich wieder als wichtigste Aufgabe die Selbsterziehung. Was ich im eigenen Erleben nicht kenne und nicht vermag, das kann ich auch niemals den Kindern nahebringen.

Wirkliche Menschenerkenntnis führt zu einem lebendigen Wissen davon, was dem werdenden Menschen je nach Alter und Entwicklung entspricht. Der wahre Erzieher weiß aus lebendiger Anschauung, was er an die Kinder zu jedem Zeitpunkt heranbringen soll - und vor allem, wie er es gestalten soll.

Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, hat in seinem Gesamtwerk eine unglaublich differenzierte spirituelle Menschenkunde entfaltet, die jedem Erzieher eine unendliche Fülle von Anregungen für ein vertieftes Studium gibt.

Wahre Pädagogik beginnt erst mit einer solchen lebendigen Anschauung, einem solchen wirklichen Verständnis des werdenden Menschen.

Weiterführendes

Peter Fox und die Zartheit einer Pflaumenblüte. Eine kleine Geschichte als Erwiderung auf die heutige Popwelt (2011).
Wer sind die „Erzieher“ unserer Kinder? Über das perverse Marktsegment „Kinderprint“ (2011).
Vom erschütternden Wesen des Kindes und seiner Vergewaltigung (2010).
Über die Vernichtung der Moral durch den Intellekt (2010).
Die Frage Michaels und der Kinder (2009).