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Waldorfschule heute - uneingelöste Zukunft

Die real existierenden Waldorfschulen entfernen sich zunehmend vom Wesen der Waldorfpädagogik. Die Frage ist nur: Ist diese Entwicklung eine „Naturnotwendigkeit“? Oder ist es möglich, in sich einen anderen Geist zu erwecken, der eine innere Wende herbeiführen könnte?

"[...] Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß werden, dass wir keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen."
Rudolf Steiner, 17.6.1921.

"...ist nachgerade offensichtlich, dass die meisten der anthroposphischen ... Institutionen – darunter die Waldorfschulen ... – sich gegenwärtig in existentiellen Nöten befinden. Dies ... im Hinblick auf ihre geistige Substanz... In vielen 'anthroposophischen' Einrichtungen arbeiten kaum noch Anthroposophen oder auch nur Menschen, die sich für die Anthroposophie oder für die anthroposophischen Menschenkunde wirklich interessieren und aus ihr heraus tätig sind."
Peter Selg, in: Der Vorstand, die Sektionen und die Gesellschaft. Welche Hochschule wollte Rudolf Steiner? Ita Wegman Institut, 2011.


Mit Blick auf das Wesen der Waldorfpädagogik – also auf ihr eigenes Ideal – befinden sich die Waldorfschulen heute in einem ähnlich katastrophalen Zustand wie das staatliche Bildungswesen im allgemeinen – und dies ist eine erschütternde Tragik, an der auch viele Waldorflehrer leiden.

Meine leidenschaftlichen Aufsätze zu dieser Frage sollten nicht als vernichtende Kritik missverstanden werden, allenfalls als „Stein des Anstoßes“ – vor allem aber als feuriger Aufruf, diesen wirklichen Geist der Waldorfpädagogik in sich zu erwecken.

Viel von diesem Geist kann in den oft wunderbaren Büchern der ersten Waldorflehrer empfunden werden. Und natürlich bei Rudolf Steiner selbst. Die Fragen, die in ernster Selbstbesinnung gestellt werden müssen, sind Fragen wie die folgenden:

  • Wie tief habe ich die Anthroposophie lebendig und real in mich aufgenommen? Und wie sehr strebe ich fortwährend nach dieser Vertiefung?
  • Wie sehr ist meine spirituelle Menschenerkenntnis theoretisch aufgenommen, und wie sehr ist sie lebendig? Wie sehr befolge ich einen gegebenen Lehrplan – und wie sehr lebe ich in dem, was Rudolf Steiner angeben konnte?
  • Wie tief strebe ich nach Selbsterkenntnis und wie ernst ist es mir mit meiner Selbsterziehung? Wie steht es um meinen wahrhaft guten Willen? Wo bin ich noch immer der alte Mensch, und wo beginne ich, einen neuen Menschen ganz aus dem Geiste heraus zu gebären?


Und all diese Fragen muss sich auch ein Kollegium stellen. Auch ein Kollegium oder zumindest Teile eines Kollegiums müssten gemeinsam in dieser Richtung streben.

Es bleibt ganz unfruchtbar, diese Fragen als von außen kommend und als Kritik zu erleben. Erst wenn sie wirklich zu eigenen Fragen werden, wird ihr wahrer Inhalt erlebt und beginnt ein innerer Weg. Der wahrhaftige Waldorflehrer hat diese Fragen, und der, der diese Fragen hat, ist wahrhaft ein Werdender.

Niemals ist eine Schule eine Waldorfschule, wenn in ihr Lehrer tätig sind, die sich nicht tief mit der Anthroposophie verbunden haben. Selbstverständlich kann man immer sagen: „Das ist alles ein Prozess.“ Aber da wird es schon unwahrhaftig, wenn man nicht gleichzeitig zugibt, dass dann auch das „Waldorfschule-Sein“ ein Prozess ist! Erst wo mit dem Streben nach dem lebendigen Geist der Waldorfpädagogik tief, tief Ernst gemacht wird, kann man überhaupt von einem Werden einer Waldorfschule sprechen. Und die Größe oder Tiefe dieses Ernstes kann man eigentlich immer nur unterschätzen...

Sehr viele Kollegen an Waldorfschulen sind ungeheuer engagiert, und es geschieht ungeheuer viel an Waldorfschulen – und all dieses Engagement und Bemühen ist ehrlich und aufrichtig bewundernswert. Und doch muss man sich immer wieder fragen: Geschieht all dies nicht noch immer aus dem Alten heraus? Wo entspringt etwas aus einem tief innerlich aus echtem Geistesstreben heraus erweckten Keim des Neuen? Wo steht man wirklich „im Angesichte“ des Geistes? Wo handelt man wirklich aus dem Geist heraus?

Der wahre Geist der Waldorfpädagogik würde alles verwandeln. Man findet ihn immer wieder in den Worten Rudolf Steiners – auf Schulfeiern, auf Elternabenden, in Konferenzen.

Wo stehen wir heute? So würde eine wahrhaftige Frage lauten können. Wie sind heute meine/unsere Beziehungen zu den Schülern? Und untereinander im Kollegium? Und zu den Eltern? Das Feld der unmittelbaren Begegnung ist wirklich ein feiner Gradmesser für das Alte und das Neue. Überall und immer wieder gibt es Konflikte, eingefahrene, gewohnte Beziehungen, Unverständnis, Antipathie, Teilnahmslosigkeit, Resignation. All das aber sind Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung des sozialen Organismus. Es sind Symptome dafür, dass das wirkliche, tief ernste, innere Streben nach dem Geist noch nicht stark genug ist – oder vielleicht auch noch gar nicht begonnen hat.

Haben wir den Mut, uns dies einzugestehen? Und was geschieht dann...?

Weitere Texte und Aufsätze

Zitate aus der Waldorfbewegung selbst.  

Waldorfschule – Therapie bei den Engeln? Ein Totalverriss in der ,Süddeutschen’ – und die notwendigen Fragen (2019).
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Will man die Waldorfpädagogik tot oder lebendig? Entgegnung auf Prof. Schierens Vortrag „Die spirituelle Dimension der Waldorfpädagogik“ (2013).
Die Waldorfbewegung und ihre angeblichen „Freunde“.  Wer privat unbequeme Wahrheiten ausspricht, wird gekündigt (2011).
Die langen Hebel der Macht – oder: 58 Wochen Warten auf ein Zeugnis  (2011).
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Von der hohen Gesinnung. Oder: Welches Menschenbild hat die heutige Waldorfschule wirklich? (2011). 
Zum Geburtstag Rudolf Steiners (2011). 
Die real existierende Waldorfbewegung und die ehemalige DDR (2011).
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Vom Wesen dieser Seiten und vom Wesen der Erkenntnis – ein sokratisches Gespräch (2010).
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Eine öffentliche Klarstellung (2010).
Reden über das Christuswirken im Ätherischen – und die Wirklichkeit? [Stöckli - Zimmermann] (2010).
Der Leiter der pädagogischen Akademie in Dornach offenbart die Spaltung. Von den Angriffen auf den Kern der Waldorfpädagogik (2010).
Der Professor für Waldorfpädagogik und der tote Intellekt (2010).
Der Waldorfschüler das unbekannte Wesen (2010).
Der Waldorflehrer das unbekannte Wesen (2010).
Vom Verlust des spirituellen Wesens der Waldorfpädagogik. Entgegnung auf einen "Machtspruch von der Kanzel" (2010).
10 Fragen zur Gewissensprüfung der Waldorfschulbewegung (2009).
Waldorfpädagogik wohin? (2009).
90 Jahre Waldorfschule Vorschau auf die Jahrhundert-Feier? Eine Entgegnung auf Christoph Wiechert. (2009).
1919-2009 wo steht die Waldorfschule heute? (2009).
Waldorfpädagogik eine Gesinnungspädagogik (2009).
"90 Jahre Zukunft"?! (2009).
Der kompetente Waldorfschüler und die Lehrer? (2009).
Von angeblichem Hochmut und wirklichem Erleben (2009).
Vom rechten Verständnis von "Eine Klasse voller Engel" (2009).
Polarisierung und Spaltung? (2009).
Destruktive Kritik? (2009).
Vom Verlust der Anthroposophie in der Waldorfschule (2009).
Herausforderungen und Probleme in der Waldorfschule (2009).
Schlafen die Waldorfschulen oder nicht? Aspekte zur Selbstprüfung (2007).

Gedanken zur Waldorfpädagogik (Verschiedene kurze Texte der Webseite von Dieter Centmayer, 2009-10).
Freude am Unterricht Unterricht aus Pflichtgefühl. Die Eurythmie als Kulturfaktor? (Dieter Centmayer, 2010).
Wie geht es weiter mit der Waldorfpädagogik? (Dieter Centmayer, 2009).
Waldorfpädagogik ohne Anthroposophie? (Rüdiger Keuler, 2003).