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Selbsterkenntnis und Selbsterziehung

Selbsterkenntnis und Selbsterziehung als Lebensbedingung wahrer Pädagogik.


Ohne Selbsterkenntnis ist wahrhafte Pädagogik nicht möglich. Ohne echte Selbsterkenntnis handelt man blind - so sehr und so gut man sich zu "kennen" glaubt.

Einerseits kennt man sich selbst am besten, andererseits ist man gerade sich selbst gegenüber in vielem blind. Inzwischen gehört es zum psychologischen Allgemeinwissen, dass vieles, was einen an anderen Menschen stört, zur verborgenen Seite auch des eigenen Wesens gehört.

Nicht nur in dieser, sondern auch in vielen anderen Hinsichten ist wahre Selbsterkenntnis die allerwichtigste Aufgabe eines jeden Menschen - insbesondere aber für jeden Erzieher. Man kann sagen: Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung, um wirklich Mensch werden zu können. Man ist nicht wahrhaft König, solange man dies noch gar nicht weiß - und auch nicht, wo man noch unkönigliche Seiten hat. Und wie erst wollte man dann Andere zu Königen erziehen können?

Ohne Selbsterkenntnis wird ein Erzieher immer nur dem natürlichen Drang folgen - er wird Andere mehr oder weniger "nach seinem Bilde" erziehen. Dies jedoch steht im stärksten Widerspruch zum Wesen wahrer Pädagogik, die dem anderen Menschen den Weg zu seinem eigenen wahren Wesen eröffnet und ebnet.

Eine Pädagogik, die nicht auf Selbsterkenntnis beruht, kann immer nur in die Irre gehen, wird immer nur weitere Hindernisse schaffen, statt Hindernisse zu beseitigen; kann also niemals eine Erziehung zur Freiheit sein.

Wo immer man jedoch mit der Selbsterkenntnis ernst macht, schließt unmittelbar die nächste Bedingung an - die Selbsterziehung. Erkenntnis allein ändert noch nichts. Es macht zwar einen ganz entscheidenden Unterschied, wenn ich eine Schwäche von mir erkannt habe - doch ändern wird sich nur etwas, wenn ich dann auch den Willen aufbringe, diese Schwäche zu überwinden.

In der Regel hat man Schwächen nicht so gern - das ist ja gerade auch der Grund, warum man sie (bei sich selbst) meist gar nicht "sieht". Hat man sie erkannt, wird man sie fast immer fortwünschen. Doch dass eine eigene Schwäche einem unsympathisch ist, wird nur in den seltensten (d.h. nur in den leichtesten) Fällen dazu führen, sie ablegen zu können. Für alle anderen Schwächen reicht es nicht aus, dass sie einem irgendwo "unangenehm" sind. Denn man hätte sie gar nicht, wenn sie einem nicht auch in vieler Hinsicht sehr angenehm wären...

Um seine Schwächen wirklich überwinden zu können, muss man sie immer tiefer und klarer als Schwächen erkennen - und man muss ein tiefes, wirkliches Streben nach Vervollkommnung des eigenen Wesens entwickeln.

Dann erst wird man auch wahrhafter Erzieher. Zum einen werden die überwundenen Schwächen immer weniger als Hindernisse wirken. Zum anderen zeigt sich in der Selbsterziehung das Wesen des Menschen. Mensch sein, bedeutet, immer mehr Mensch zu werden. Nur wenn die heranwachsenden dies an einem Erzieher erleben - und sei es ganz unbewusst -, eröffnet sich ihnen das eigentliche Geheimnis von Lernen, Bildung und Erziehung. Es geht immer um Selbsterziehung. Doch gerade diese braucht zunächst das lebendige Vorbild!

Der werdende Mensch kann immer nur selbst er selbst werden. Doch damit dieses wunderbare Geschehen sich tatsächlich ereignet, brauchen die jungen Menschen lebendige Vorbilder dieses Geheimnisses: Dass man sein Leben lang Mensch wird, dass man täglich danach streben muss, darf und kann.

Für den wahren Erzieher ist es eine erlebte Tatsache, dass er nur in dem Maße wahrhaft erziehen kann, wie er sich selbst zu erziehen vermag.

Weiterführendes

Michaeli und der Mut des Geistes (2013).
Von der heiligen Aufgabe der Selbsterziehung der Erziehenden (2010).
 "Im Grunde will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen..." (2010).
"Jede Erziehung ist Selbsterziehung" (2009).
Der Weg in die Welt und zum wahren Selbst für die Kinder, für den Lehrer (2009).
Über die Widersachermächte und das Ernstnehmen Michaels (2009).