12.07.2009

Die Frage Michaels – und der Kinder

veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Michaeli 2009. [Mehr zu Michael > hier]. | PDF


Herbsteszeit. Dunkle Tage. Stürme ziehen über das Land. Wind und Regen verkünden das Ende des Sommers, künden von einer noch dunkleren und kälteren Zeit. Das Wetter verweist die Menschen nach innen, in ihre Wohnungen, aber auch in seelischem Sinne. Im Sommer kann man sich ganz an die äußere Welt verlieren, die Sonne genießen, in den Urlaub fahren, am Seeufer liegen... Im Herbst weist einen die äußere Natur zurück, auf einen selbst zurück. Im Sinne der Erntezeit könnte man auch sagen: Es taucht die Frage auf: "Was hast Du in dem vergangenen Jahr gemacht? Was davon hat wirklich Bestand trägt einen Wert in sich, der weiter und größer ist als alles Äußerliche?"

Der Herbst ist wie keine andere die Zeit Michaels.

Die unhörbare, überall ertönende Frage

Man mag sich unter "Engeln" vielleicht nicht so leicht etwas vorstellen oder solche Wesenheiten aus den verschiedensten Gründen nicht ernst nehmen wollen sei es, dass man im DDR-Materialismus aufgewachsen ist, oder eben im BRD-Materialismus, oder in einer erzkatholischen Gegend. Es gibt unzählige Gründe und Prägungen, diese spirituelle Dimension auszublenden und viel weniger, sie allmählich ernst und immer ernster zu nehmen. Doch letztlich zählen nicht all die scheinbar "vernünftigen" Gründe und seien sie unendlich an der Zahl, letztlich wiegt die Wahrheit schwerer als alle Vorstellungen, die man sich gemacht und in denen man sich eingerichtet hat.

Die Waage das ist auch etwas, was unmittelbar mit Michael zu tun hat. Die Waage und die Frage. Sein Name bedeutet: "Wer ist wie Gott?" Man mag von "Engeln" zunächst denken, wie man will. Immerfort ist an jeden von uns eine real-wesenhafte Frage gerichtet: "O Mensch, erkenne dich selbst!" Es ist Frage und Aufruf zugleich, aber die göttliche Welt lässt heute frei, sie kann und will uns nicht zu einer Antwort zwingen nicht einmal dazu, die Frage überhaupt zu hören. In Frageform lautet sie: Was ist der Mensch?

Und wir merken im Grunde wird diese Frage heute fortwährend gestellt, auch ganz irdisch. Sie ertönt eigentlich aus allen Zeitverhältnissen; sei es die "Wirtschaftskrise", die Diskussion um "Bankenrettungsschirme" oder bedingungsloses Grundeinkommen, sei es die Gentechnik, der weltweite Kampf um das Wasser und die natürlichen Ressourcen, seien es die Kriege und Konflikte an vielen Orten der Welt, sei es die Bildungsfrage...

Überall ertönt unhörbar: Was ist der Mensch? Und man kann etwa in der Bildungsfrage noch so schöne Worte machen blickt man etwas tiefer, so sieht man, dass der Mensch als spirituelles Wesen eigentlich fast überall verneint wird. Wenn man sich klarmacht, dass eigentlich nichts den Menschen so prägt, wie die "Bildung" (!), die er genießen darf oder erdulden muss, so ist deutlich: Der Mensch wird zu dem, was im Bildungswesen lebt. Eine Gesellschaft, die den Menschen materialistisch als biologisches Wesen ansieht, das im wesentlichen egoistisch handelt und auch handeln soll (da dies ja angeblich sogar dem Gemeinwohl dient), das sich möglichst schnell und effektiv für die Forderungen des Wirtschaftslebens ausbilden soll und entsprechende "Prüfungen" durchlaufen muss eine solche Gesellschaft bringt Menschen hervor, die mehr oder weniger in genau diesem Sinne denken, fühlen und "funktionieren"...

Wo aber ist da der Mensch? Wo ist da das freie Individuum, das sich die tiefsten Fragen stellen und auch Antworten finden kann? Wo ist in einer solchen Gesellschaft Platz für Liebe, Mitleid und ähnliche heilige Gefühle?

Was ist aus dem Menschen geworden, der einst zum „Ebenbild Gottes“ geschaffen, dem einst der göttliche Odem eingehaucht worden war?

Die Kinder und die Frage nach dem Menschen

Man mag solche Fragen als sentimental abtun sie sind es aber nicht. Es sind die entscheidenden Fragen gerade unserer Zeit. Eine Zeit, die diese Fragen überhaupt nicht mehr stellt  bzw. in all ihren Antworten das wahre Wesen des Menschen immer wieder verleugnet (und damit bekämpft!), entzieht der gesamten Menschheitszukunft den Boden. Man darf sich hier keinen Illusionen hingeben. Wir stehen in Bezug auf diese Entwicklung noch immer am Anfang die Verneinung alles wirklich Menschlichen wird mit Riesenschritten voranschreiten. Der Mensch wird immer noch mehr verwaltet, fremdbestimmt, kontrolliert usw. werden. Diese Entwicklung lässt sich nur aufhalten, wenn man sich den Ernst der Lage bewusst macht und wo auch immer um das Wesen des Menschen kämpft.

Mag man die Frage auch sonst noch nirgendwo bewusst erleben, einen Punkt gibt es, wo sie ganz deutlich wird die Begegnung mit Kindern. Man kann doch kein kleines Kind erleben und nicht diese Frage empfinden: Was ist der Mensch, was ist die Welt? Die Wahrhaftigkeit eines Kindes berührt doch auch das Beste in uns?

Was wir als Frage erleben können, ist für das Kind noch gar keine (und gerade darum können wir sie dennoch empfinden). Es kommt auf die Welt mit einem unerschütterlichen Urvertrauen, dass alles gut ist. Und wer kennt nicht die Scham, die man eigentlich empfinden muss, wenn man einen kleinen Säugling hinaustragen muss in den Autolärm, wenn man ihm Krach, Gestank und andere Überreizungen seiner empfindlichen Sinne antun muss? Man gewöhnt sich daran schnell ... aber im Grunde sollten wir die Welt immer so mit den Augen der Kinder erleben. Wir wissen sonst gar nicht, was wir ihnen antun, Tag für Tag!

Lernen wir also immer mehr empfinden, was die Kinder wirklich brauchen und was sie wirklich nicht brauchen und auch nicht vertragen. Dann wächst in uns ein Bewusstsein und ein Erleben dessen, was wahrhaft menschlich ist. Dann bekommen wir wieder eine deutliche, sehr schmerzliche Empfindung dafür, wie unmenschlich unsere Welt geworden ist und immer noch wird.

Wenn wir für die Kinder und ihr Erleben wirklich wieder offen werden, dann wird uns auch die ganze Größe und Tiefe der Frage nach dem Menschen mehr und mehr erlebbar werden.

Wenn wir uns wirklich ganz auf die Augen kleiner und auch größerer! Kinder einlassen, auf ihre Fragen, ihre Sehnsucht, dann bekommen wir eine reale Ahnung von einer höheren Welt. Es ist die Welt, aus der die Kinder kommen. Und in dieser Welt lebt die Frage nach dem Menschen in ihrer vollen unleugbaren Realität: O Mensch, wirst du dich selbst erkennen?

Es ist nicht nur Michael, der diese Frage stellt aber er ganz besonders. Und er ist es auch, der dem Menschen beistehen und ihm die innere Kraft geben will, die Frage substantiell zu beantworten. Doch dafür muss der Mensch die Frage hören und er muss sie aus tiefstem Herzen beantworten wollen. Tag für Tag.