Rudolf Steiner über die Notwendigkeit und das Wesen des reinen Denkens

Immer wieder wies Rudolf Steiner auf die Notwendigkeit einer Verwandlung des Denkens hin - als Grundvoraussetzung für Anthroposophie und im weiteren für die Entwicklung der Menschheit überhaupt, aber auch als Voraussetzung wahrer Erziehungskunst. In der Waldorfbewegung wird dies heute nicht berücksichtigt - denn man kennt das reine Denken, von dem Rudolf Steiner sprach, überhaupt nicht. Die Bücher und Seminare von Mieke Mosmuller sind der wichtigste Hinweis auf dieses reine Denken. 

"Es ist wirklich das Hereinziehen des vorirdischen Daseins in das Leben des Menschen, was dadurch bewirkt werden kann, und so ist es die Vorbereitung zu dem Berufe des Lehrers, des Unterrichters, des Erziehers." (Rudolf Steiner, 13.10.1922, GA 217). 

Längere Zitate

Von der Notwendigkeit und dem Wesen des reinen Denkens. Längere Auszüge aus GA 217, "Pädagogischer Jugendkurs".

„Das hat man eben nicht mitgemacht...“ - Von der „Philosophie der Freiheit“ als Übungsbuch des reinen Denkens (6.2.1923, GA 257, S. 50-58).

„...sonst kommt das Denken zum bloß Richtigen, nicht zum Wahrhaftigen.“ (27.12.1911, GA 134, S. 18-27).

Weitere Zusammenstellungen

Vom Erleben der Idee zum Geist-Erleben – Zitate Rudolf Steiners (GA 1-17).

Vom Geist-Erleben in Rudolf Steiners „Lebensgang“ (GA 28).

Kürzere Zitate

Demgegenüber habe ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ das aktive Element im menschlichen Denken betont, habe betont, wie der Wille einschlägt in das Gedankenelement, wie man gewahr werden kann die eigene innere Tätigkeit im sogenannten reinen Denken, indem ich zugleich gezeigt habe, daß aus diesem reinen Den­ken herausfließt alles dasjenige, was in Wirklichkeit moralische Impulse sein können.
6.2.1923, GA 257, S. 51f. 

Bis zum neunten Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha stand der Mensch anders zu seinen Gedanken als später. Er hatte nicht die Empfindung, daß er die in seiner Seele lebenden Gedanken selbst hervorbringe. Er betrachtete sie als Eingebungen einer geistigen Welt. Auch wenn er über das Gedanken hatte, was er mit seinen Sinnen wahrnahm, waren ihm die Gedanken Offenbarungen des Göttlichen, das aus den Sinnesdingen zu ihm sprach.
Wer geistige Schauungen hat, begreift diese Empfindung. Denn, wenn ein geistig Wirkliches sich der Seele mitteilt, so hat man niemals das Gefühl, da ist die geistige Wahrnehmung, und man formt selber den Gedanken, um die Wahrnehmung zu begreifen; sondern man schaut den Gedanken, der in der Wahrnehmung enthalten und mit ihr gegeben ist, so objektiv wie sie selbst. [...]
Sobald man in die geistige Welt mit seiner Anschauung hinaufdringt, kommt man an konkrete geistige Wesensmächte heran. In alten Lehren hat man die Macht, aus der die Gedanken der Dinge erfließen, mit dem Namen Michael bezeichnet. [...] Vom neunten Jahrhundert an verspürten die Menschen nicht mehr, daß ihnen Michael die Gedanken inspiriert. [...] Die Nominalisten vollzogen in ihrem unbewußten Seelenteil den Abfall von Michael. Sie betrachteten nicht Michael, sondern den Menschen als den Eigentümer der Gedanken. [...]
[V]om letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts an will er in den Menschenseelen leben, in denen die Gedanken gebildet werden. Vorher sahen die Michael verwandten Menschen Michael im Geistbereich seine Tätigkeit entfalten; jetzt erkennen sie, daß sie Michael im Herzen wohnen lassen sollen; jetzt weihen sie ihm ihr gedankengetragenes geistiges Leben; jetzt lassen sie sich im freien, individuellen Gedankenleben von Michael darüber belehren, welches die rechten Wege der Seele sind. [...]
Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen.
GA 26, S. 59-62, Anthroposophische Leitsätze, Im Anbruch des Michael-Zeitalters.

Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.
GA 1, S. 126.

Ich entnehme ja alle Bestimmungen des Gedankens aus der Gedankenwelt. Von dem Sinnesobjekte fließt in diesen Inhalt ja doch nichts ein. Ich erkenne in dem Sinnesobjekt den Gedanken, den ich aus meinem Inneren herausgeholt, nur wieder. Dieses Objekt veranlaßt mich zwar, in einem bestimmten Augenblicke gerade diesen Gedankeninhalt aus der Einheit aller möglichen Gedanken herauszutreiben, aber es liefert mir keineswegs die Bausteine zu denselben. Die muß ich aus mir selbst herausholen. [...]
Man übersieht vollständig, daß die bloße Anschauung das Leerste ist, was sich nur denken läßt, und daß sie allen Inhalt erst aus dem Denken erhält. Das einzige Wahre an der Sache ist, daß sie den immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form festhält, ohne daß wir nötig haben, zu diesem Festhalten tätig mitzuwirken. Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, daß der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und daß wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muß sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen.
GA 2, S. 66f.

Fichte [...]: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.“ [...] Wir wollen nun auf Fichtes Gedankengang noch einmal zurückblicken. Bei schärferem Zusehen stellt sich nämlich heraus, daß in demselben ein Sprung ist, und zwar ein solcher, der die Richtigkeit der Anschauung von der ursprünglichen Tathandlung in Frage stellt. [...] Kurz: das Setzen muß einen Inhalt haben. Diesen kann es aber nicht aus sich selbst nehmen, denn sonst könnte es nichts weiter als ewig nur das Setzen setzen. [...] Die Tätigkeit des Ich beruht darauf, daß das Ich aus eigenem freiem Entschlusse die Begriffe und Ideen des Gegebenen setzt. Nur dadurch, daß Fichte unbewußt darauf ausgeht, das Ich als „Seiendes“ nachzuweisen, kommt er zu seinem Resultate. Hätte er den Begriff des Erkennens entwickelt, so wäre er zu dem wahren Ausgangspunkte der Erkenntnistheorie gekommen: Das Ich setzt das Erkennen. [...]
Denn die Selbstbeobachtung liefert ja die Tätigkeit des Ich in der Tat nicht einseitig nach einer bestimmten Richtung hin, sie zeigt es nicht bloß Sein-setzend, sondern sie zeigt es in seiner allseitigen Entfaltung, wie es denkend den unmittelbar gegebenen Weltinhalt zu begreifen sucht. [...]
Fichtes Wissenschaftslehre ist ein Beleg dafür, daß es selbst dem scharfsinnigsten Denken nicht gelingt, auf irgendeinem Felde fruchtbringend einzuwirken, wenn man nicht zu der richtigen Gedankenform (Kategorie, Idee) kommt, die, mit dem Gegebenen ergänzt, die Wirklichkeit gibt. [...] Das Bewußtsein, als Gegebenes, kann nur der charakterisieren, der sich in den Besitz der „Idee des Bewußtseins“zu setzen weiß. [...]
Alle Bestimmung vom Ich aus bliebe leer und inhaltlos, wenn das Ich nicht etwas Inhaltsvolles, durch und durch Bestimmtes findet, was ihm die Bestimmung des Gegebenen möglich macht [...]. Dieses durch und durch Inhaltsvolle ist aber die Welt des Denkens. Und das Gegebene durch das Denken bestimmen heißt Erkennen. Wir mögen Fichte anfassen, wo wir wollen: überall finden wir, daß sein Gedankengang sofort Hand und Fuß gewinnt, wenn wir die bei ihm ganz graue, leere Tätigkeit des Ich erfüllt und geregelt denken von dem, was wir Erkenntnisprozeß genannt haben.
Der Umstand, daß das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren,
während in der übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.
GA 3, S. 74ff.

Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch die Wahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmten Wahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriff aus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zusammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch das Denken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv bestimmt. Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Begriffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zusammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt.
Anders stellt sich der Vorgang dar, wenn die Erkenntnis, wenn das in ihr auftretende Verhältnis des Menschen zur Welt betrachtet wird. In den vorangehenden Ausführungen ist der Versuch gemacht worden, zu zeigen, daß die Aufhellung dieses Verhältnisses durch eine auf dasselbe gehende unbefangene Beobachtung möglich ist. Ein richtiges Verständnis dieser Beobachtung kommt zu der Einsicht, daß das Denken als eine in sich beschlossene Wesenheit unmittelbar angeschaut werden kann. [...] Wer das Denken beobachtet, lebt während der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen. [...] Im Betrachten des Denkens selbst fallen in eines zusammen, was sonst immer getrennt auftreten muß: Begriff und Wahrnehmung. Wer dies nicht durchschaut, der wird in an Wahrnehmungen erarbeiteten Begriffen nur schattenhafte Nachbildungen dieser Wahrnehmungen sehen können, und die Wahrnehmungen werden ihm die wahre Wirklichkeit vergegenwärtigen. [...]
Wer aber durchschaut, was bezüglich des Denkens vorliegt, der wird erkennen, daß in der Wahrnehmung nur ein Teil der Wirklichkeit vorliegt und daß der andere zu ihr gehörige Teil, der sie erst als volle Wirklichkeit erscheinen läßt, in der denkenden Durchsetzung der Wahrnehmung erlebt wird. Er wird in demjenigen, das als Denken im Bewußtsein auftritt, nicht ein schattenhaftes Nachbild einer Wirklichkeit sehen, sondern eine auf sich ruhende geistige Wesenhaftigkeit. Und von dieser kann er sagen, daß sie ihm durch Intuition im Bewußtsein gegenwärtig wird. Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewußte Erleben eines rein geistigen Inhaltes. Nur durch eine Intuition kann die Wesenheit des Denkens erfaßt werden.
GA 4, S. 145f, Die Philosophie der Freiheit.

Erst wenn der Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet.
Dies ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. "Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen."
Zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht. Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart nicht an sich beobachtet. [...] Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. [...]
Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst.
Goethes Weltanschauung, GA 6, S. 84ff.

Wenn der Mensch denkt, so ist sein Bewußtsein auf die Gedanken gerichtet. Er will durch die Gedanken etwas vorstellen; er will im gewöhnlichen Sinne richtig denken. Man kann aber auch auf anderes seine Aufmerksamkeit richten. Man kann die Tätigkeit des Denkens als solche in das Geistesauge fassen. Man kann zum Beispiel einen Gedanken in den Mittelpunkt des Bewußtseins rücken, der sich auf nichts Äußeres bezieht, der wie ein Sinnbild gedacht ist, bei dem man ganz unberücksichtigt läßt, daß er etwas Äußeres abbildet. Man kann nun in dem Festhalten eines solchen Gedankens verharren. Man kann sich ganz einleben nur in das innere Tun der Seele, während man so verharrt. Es kommt hierbei nicht darauf an, in Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben. Auf diese Weise reißt sich die Seele los von dem, was sie in ihrem gewöhnlichen Denken vollführt. Sie wird dann, wenn sie solche innere Übung genügend lange fortsetzt, nach einiger Zeit erkennen, wie sie in Erlebnisse hineingeraten ist, welche sie abtrennen von demjenigen Denken und Vorstellen, das an die leiblichen Organe gebunden ist. Ein gleiches kann man vollziehen mit dem Fühlen und Wollen der Seele, ja, auch mit dem Empfinden, dem Wahrnehmen der Außendinge. Man wird auf diesem Wege nur etwas erreichen, wenn man nicht zurückschreckt davor, sich zu gestehen, daß die Selbsterkenntnis der Seele nicht einfach angetreten werden kann, indem man nach dem Innern schaut, das stets vorhanden ist, sondern vielmehr nach demjenigen, das durch innere Seelenarbeit erst aufgedeckt werden muß. Durch eine Seelenarbeit, die durch Übung zu einem solchen Verharren in der inneren Tätigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens gelangt, daß diese Erlebnisse gewissermaßen sich geistig in sich "verdichten". Sie offenbaren dann in dieser "Verdichtung" ihr inneres Wesen, das im gewöhnlichen Bewußtsein nicht wahrgenommen werden kann. Man entdeckt durch solche Seelenarbeit, daß für das Zustandekommen des gewöhnlichen Bewußtseins die Seelenkräfte sich so "verdünnen" müssen und daß sie in dieser Verdünnung unwahrnehmbar werden. Die hier gemeinte Seelenarbeit besteht in der unbegrenzten Steigerung von Seelenfähigkeiten, welche auch das gewöhnliche Bewußtsein kennt, die dieses aber in solcher Steigerung nicht anwendet. Es sind die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und der liebevollen Hingabe an das von der Seele Erlebte. Es müssen, um das Angedeutete zu erreichen, diese Fähigkeiten in einem solchen Grade gesteigert werden, daß sie wie völlig neue Seelenkräfte wirken. Indem man so vorgeht, ergreift man in der Seele ein wirkliches Erleben, dessen eigene Wesenheit sich als eine solche offenbart, welche von den Bedingungen der leiblichen Organe unabhängig ist.
GA 18, S. 604f.

Man kann sich in innerer Erkraftung so aus dem Zustand des gewöhnlichen Bewußtseins herausheben, daß man dabei ein ähnliches Erlebnis hat, wie beim Übergange vom Träumen zum wachen Vorstellen. [...] Der Mensch kann in das gewöhnliche bewußte Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen. Im gewöhnlichen Bewußtsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. [...]
Es ist aber zu diesem Entdecken des Gedankenlebens die Aufwendung bewußten Willens notwendig. Das kann aber auch nicht ohne weiteres der Wille sein, der im gewöhnlichen Bewußtsein zutage tritt. Auch der Wille muß in anderer Art und in anderer Richtung gewissermaßen eingestellt werden, als er eingestellt ist für das Erleben in dem bloßen Sinnesdasein. Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich selbst im Mittelpunkte dessen, was man will, oder was man wünscht. Denn auch im Wünschen ist ein gleichsam angehaltener Wille wirksam. Der Wille strömt von dem Ich aus und taucht in das Begehren, in die Leibesbewegung, in die Handlung unter. Ein Wille in dieser Richtung ist unwirksam für das Erwachen der Seele aus dem gewöhnlichen Bewußtsein. Es gibt aber auch eine Willensrichtung, die in einem gewissen Sinne dieser entgegengesetzt ist. Es ist diejenige, welche wirksam ist, wenn man, ohne unmittelbaren Hinblick auf ein äußeres Ergebnis, das eigene Ich zu lenken sucht. In den Bemühungen, die man macht, um sein Denken zu einem sinngemäßen zu gestalten, sein Fühlen zu vervollkommnen, in allen Impulsen der Selbsterziehung äußert sich diese Willensrichtung. In einer allmählichen Steigerung der in dieser Richtung vorhandenen Willenskräfte liegt, was man braucht, um aus dem gewöhnlichen Bewußtsein heraus zu erwachen. Eine besondere Hilfe leistet man sich in der Verfolgung dieses Zieles dadurch, daß man mit innigerem Gemütsanteil das Leben in der Natur betrachtet. Man sucht zum Beispiel eine Pflanze so anzuschauen, daß man nicht nur ihre Form in den Gedanken aufnimmt, sondern gewissermaßen mitfühlt das innere Leben, das sich in dem Stengel nach oben streckt, in den Blättern nach der Breite entfaltet, in der Blüte das Innere dem Äußeren öffnet und so weiter. In solchem Denken schwingt der Wille leise mit; und er ist da ein in Hingabe entwickelter Wille, der die Seele lenkt; der nicht aus ihr den Ursprung nimmt, sondern auf sie seine Wirkung richtet.
GA 20, S. 161ff.

Das Ich lebt in sich, indem es seinen reinen Begriff hervorbringt und im Begriff als Realität leben kann. Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich. Hier fällt der Begriff des Schöpferischen mit dem Materiellen zusammen, und man braucht nur einzusehen, daß wir in allen anderen Erkenntnisprozessen zunächst an eine Grenze stoßen, nur beim Ich nicht: dieses umfassen wir in seinem innersten Wesen, indem wir es im reinen Denken ergreifen.
So läßt sich erkenntnistheoretisch der Satz fundamentieren, "daß auch im reinen Denken ein Punkt erreichbar ist, in dem Realität und Subjektivität sich völlig berühren, wo der Mensch die Realität erlebt". Setzt er da ein und befruchtet er sein Denken so, daß dieses Denken von da aus wiederum aus sich herauskommt, dann ergreift er die Dinge von innen. Es ist also in dem durch einen reinen Denkakt erfaßten und damit zugleich geschaffenen Ich etwas vorhanden, durch das wir die Grenze durchdringen, die für alles andere zwischen Form und Materie gesetzt werden muß. [...]
Um das "Ich" als dasjenige zu erkennen, vermittelst dessen das Untertauchen der menschlichen Seele in die volle Wirklichkeit durchschaut werden kann, muß man sich sorgfältig davor bewahren, in dem gewöhnlichen Bewußtsein, das man von diesem "Ich" hat, das wirkliche Ich zu sehen. [...] Aber ebenso gewiß ist, daß durch nichts anderes das wahre Ich erlebt werden kann als allein durch das reine Denken. Es ragt eben in das reine Denken, und für das gewöhnliche menschliche Bewußtsein nur in dieses, das wirkliche Ich herein.
Wer bloß denkt, der kommt nur bis zu dem Gedanken des "Ich"; wer erlebt, was im reinen Denken erlebt werden kann, der macht, indem er das "Ich" durch das Denken erlebt, ein Wirkliches, das Form und Materie zugleich ist, zum Inhalte seines Bewußtseins. Aber außer diesem "Ich" gibt es zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein nichts, was in das Denken Form und Materie zugleich hereinsenkt. Alle anderen Gedanken sind zunächst nicht Bilder einer vollen Wirklichkeit. Doch indem man im reinen Denken das wahre Ich als Erlebnis erfährt, lernt man kennen, was volle Wirklichkeit ist. Und man kann von diesem Erlebnis weiter vordringen zu anderen Gebieten der wahren Wirklichkeit.
GA 35, S. 102ff, Philosophie und Anthroposophie.

Der Geistesforscher muß sich fähig machen durch scharfes Konzentrieren auf dasjenige Seelenleben, das sich in ihm durch die Symbole ergibt, den Inhalt der Symbole aus seinem Bewußtsein vollständig zu entfernen. [...] Das auf solche Art erlangte Weben in dem Seeleninhalte kann reale Selbstanschauung genannt werden. Es lernt sich dabei das [...] Selbst kennen, wie es ist, ohne Beziehung auf einen sinnenfälligen Inhalt; es erlebt sich in sich selber als übersinnliche Realität. Es ist dieses Erleben nicht so, wie dasjenige des Ich, wenn in der gewöhnlichen Selbstbeobachtung die Aufmerksamkeit von dem Erkannten der Umwelt abgezogen und auf das erkennende Selbst reflektiert wird. In diesem Falle schrumpft gewissermaßen der Inhalt des Bewußtseins immer mehr zu dem Punkte des „Ich“ zusammen. Dies ist bei der realen Selbstanschauung des Geistesforschers nicht der Fall. Bei ihr wird der Seeleninhalt im Verlaufe der Übungen immer reicher. Und er besteht in einem Leben in gesetzmäßigen Zusammenhängen, und das Selbst fühlt sich nicht wie bei den Naturgesetzen, welche aus den Erscheinungen der Umwelt abstrahiert werden, außerhalb des Gewebes von Gesetzen; sondern es empfindet sich innerhalb dieses Gewebes; es erlebt sich als Eins mit demselben.
Die Gefahr, welche in diesem Stadium der Übungen sich ergeben kann, liegt darin, daß beim Mangel an wahrer Selbstkontrolle der Übende zu früh das rechte Ergebnis erlangt zu haben glaubt und dann nur den Nachklang der symbolischen Vorstellungen wie ein inneres Leben empfindet. Ein solches ist selbstverständlich wertlos und darf nicht mit dem inneren Leben verwechselt werden, das im rechten Augenblick eintritt, und das wirklicher Besonnenheit dadurch sich zu erkennen gibt, daß es, obgleich es volle Realität zeigt, doch keiner vorher gekannten Realität gleichkommt.
Für ein so erlangtes inneres Leben ist nun eine übersinnliche Erkenntnis möglich, welche einen höheren Grad von Sicherheit in sich trägt als das bloße imaginative Erkennen. Es stellt sich auf diesem Punkte der Seelenentwickelung das Folgende ein. Es erfüllt sich nach und nach das innere Erleben mit einem Inhalt, der in die Seele von außen kommt, in ähnlicher Art wie der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung aus der physischen Außenwelt durch die Sinne. Nur ist die Erfüllung mit übersinnlichem Inhalt ein unmittelbares Leben in diesem Inhalt. [...]
Zunächst erweist sich der Inhalt gar nicht als objektiv. Man weiß ihn als einen erlebten; aber man fühlt sich ihm nicht gegenübergestellt. Das Letztere tritt erst ein, wenn man ihn durch Seelenenergie gewissermaßen in sich selbst verdichtet. Dadurch wird er erst zu dem, was man objektiv anschauen kann. In diesem Prozesse der Psyche wird man aber gewahr, daß zwischen der physischen Leibesorganisation und jenem Etwas, das man durch die Übungen von dieser abgetrennt hat, noch etwas dazwischenliegt. Will man Namen für diese Dinge haben, so kann man, wenn man mit diesen Namen nicht allerlei Phantastisches verknüpft, sondern lediglich das mit ihnen belegt, was hier charakterisiert ist, diejenigen gebrauchen, welche in der sogenannten „Theosophie“ üblich geworden sind. Es wird da jenes Etwas, in dem das Selbst als in einem von der Körper-Organisation unabhängigen lebt, der Astralleib genannt; und dasjenige, was zwischen diesem Astralleib und dem physischen Organismus sich ergibt, wird Ätherleib genannt.
Aus dem Ätherleib stammen nun die Kräfte, durch welche das Selbst in die Lage kommt, den subjektiven Inhalt der inspirierten Erkenntnis zur objektiven Anschauung zu machen. Mit welchem Rechte, so kann mit gutem Grunde gefragt werden, kommt nun der Geistesforscher dazu, diese Anschauung auf eine übersinnliche geistige Welt zu beziehen und sie nicht bloß für ein Erzeugnis seines Selbst zu halten? – Er hätte dazu kein Recht, wenn ihn nicht der Ätherleib, den er bei seinem physischen Prozeß erlebt, in seiner inneren Gesetzlichkeit mit objektiver Notwendigkeit dazu zwänge. Dies ist aber der Fall. Denn der Ätherleib wird erlebt als ein Zusammenfluß der allumfassenden Gesetzmäßigkeit des Makrokosmos. Wieviel von dieser Gesetzmäßigkeit dem Geistesforscher zum wirklichen Bewußtseinsinhalt wird, darauf kommt es dabei nicht an. Es liegt das Eigentümliche darin, daß in unmittelbarem Wissen klar ist: der Ätherleib ist nichts anderes als ein zusammengedrängtes, die Weltgesetzlichkeit in sich spiegelndes Bild der kosmischen Gesetzmäßigkeit. Das Wissen von dem Ätherleib erstreckt sich zunächst für den Geistesforscher nicht darauf, welchen Inhalt dieses Gebilde aus der Summe der allgemeinen Weltgesetzlichkeit spiegelt, sondern darauf, was dieser Inhalt ist.
GA 35, S. 123ff.

Im Denken waltet etwas, das nicht aus der Erinnerungsfähigkeit in dasselbe eindringt. Etwas, das dem Menschen nicht deshalb die Richtigkeit eines gegenwärtigen Gedankens verbürgt, weil aus der Erinnerung ein ihn tragender früherer Gedanke auftaucht, sondern deshalb, weil diese Richtigkeit unmittelbar erlebt wird. Dieses Erlebnis verbirgt sich dem gewöhnlichen Bewußtsein aus dem Grunde, weil der Mensch die in Frage kommende Kraft innerhalb dieses Bewußtseins für das denkende Wahrnehmen vollständig verbraucht. Im denkenden Wahrnehmen ist diese Kraft wirksam, aber der Mensch glaubt, indem er wahrnimmt, daß ihm die Wahrnehmung allein die Richtigkeit dessen verbürgt, was er in einer Betätigung seelisch ergreift, die aus Wahrnehmen und Denken stets zusammenfließt. Und wenn er dann im bloßen Denken, das er von den Wahrnehmungen abgezogen hat, lebt, so hat er es wirklich nur mit einem solchen Denken zu tun, das seine Stützen in der Erinnerung findet. In diesem abgezogenen Denken ist der physische Organismus mittätig. Ein Denken, das dem Organismus nicht unterworfen ist, lebt für das gewöhnliche Bewußtsein nur, während der Mensch im sinnlichen Wahrnehmen begriffen ist. Dieses sinnliche Wahrnehmen selbst ist vom Organismus abhängig. Das in ihm enthaltene und in ihm mitwirkende Denken ist aber ein rein übersinnliches Element, an dem der Organismus keinen Anteil hat. In diesem Denken hebt sich die Menschenseele aus dem Organismus heraus. Wer dieses Denken im Wahrnehmen sich zum abgesonderten Bewußtsein zu bringen vermag, der weiß durch unmittelbares Erleben, daß er als Seele sich unabhängig von seinem Leibe ergreift.
Dieses erste Sich-Erleben des Menschen als übersinnliches Seelenwesen ergibt sich der entwickelten Selbsterkenntnis. Es ist in jedem Wahrnehmungsakt unbewußt vorhanden. Es handelt sich nur darum, die Selbstbeobachtung so weit zu schärfen, daß bemerkt wird: im Wahrnehmen offenbart sich ein Übersinnliches. Und was sich so offenbart, als schwächste erste Ankündigung eines Erlebens der Seele im Übersinnlichen: es kann weiter entwickelt werden. Das geschieht, wenn der Mensch in einem meditativen Leben ein solches Denken entwickelt, das aus zwei Seelenbetätigungen zusammenfließt, aus derjenigen, welche im gewöhnlichen Bewußtsein in dem Wahrnehmen lebt, und aus der andern, die im gewöhnlichen Denken wirkt. Das meditative Leben wird dadurch zu einem verstärkten Denken, zu einem solchen, das in sich diejenige Kraft aufnimmt, welche sonst in das Wahrnehmen ausfließt. Das Denken muß sich so erkraften, daß es in derselben Lebendigkeit wirkt, die sonst nur im Wahrnehmen vorhanden ist; und ohne sinnliches Wahrnehmen muß ein Denken sich betätigen, das sich nicht auf Erinnerungen stützt, sondern in unmittelbarer Gegenwart seinen Inhalt so erlebt, wie man ihn sonst nur aus der Wahrnehmung schöpft. [...] Man muß durch Selbstbeobachtung dahin gelangen, diejenige Seelenverfassung genau zu kennen, in welcher man während des Wahrnehmens eines Sinnes ist; und in dieser Seelenverfassung, in der man sich bewußt ist, daß der Inhalt des Vorgestellten nicht aus der Tätigkeit des Organismus aufsteigt, muß man Vorstellungen erleben lernen, die ohne äußere Wahrnehmung so im Bewußtsein erregt werden wie sonst nur die im besonnenen, wahrnehmungslosen Nachdenken im Bewußtsein vorhandenen. [...]
Durch die Entwickelung des meditativen Lebens in der geschilderten Art erhebt sich die Menschenseele zum bewußten Erfühlen ihrer selbst als eines von der Leibesorganisation unabhängigen übersinnlichen Wesens. Das erste Sich-Erleben als übersinnliche Wesenheit, auf das oben hingedeutet worden ist, schreitet zu einer zweiten Stufe übersinnlicher Selbsterkenntnis fort. Auf der ersten Stufe kann man nur wissen, daß man ein übersinnliches Wesen ist; auf der zweiten erfühlt man dieses Wesen als vollinhaltliches, wie man durch die Leibesorganisation das Ich des gewöhnlichen Wachlebens erfühlt.
GA 35, 397ff.

Zunächst im unmittelbar sinnlichen Leben richtet der Mensch nicht einmal seine Aufmerksamkeit auf die eigene Tätigkeit, welche er verrichtet, wenn er den Inhalt einer Wahrnehmung zum Ich-Erlebnis macht. Um von dieser Tätigkeit etwas zu wissen, muß er das Ich abwenden von dem Wahrnehmungsinhalt und auf die eigene Tätigkeit lenken. Er kommt dabei so weit, in sich Seelenvorgänge zu finden, welche er verrichtet, während die Wahrnehmung im Ich als Erlebnis gegenwärtig ist. [...]
Steht man einem äußeren Dinge oder einer äußeren Tatsache gegenüber, so kann man diese mit denselben Erkenntniswerkzeugen weiter beobachten, durch welche sie zuerst wahrgenommen worden ist. Eine seelische Tatsache ist aber vorüber, wenn sich die beobachtende Erkenntnis auf sie richten will. [...]
Die Freude oder das Leid, die der Mensch an gewissen Wahrnehmungen hat, kann er innerhalb der Sinnenwelt wahrnehmen, nicht aber diejenigen Seelenvorgänge, welche ablaufen, während das Ich an die Wahrnehmung der Außenwelt ganz hingegeben ist. Denn diese Seelenvorgänge sind vor dem Wahrnehmen noch nicht da, nach dem Wahrnehmen aber sind sie für das gewöhnliche Bewußtsein verschwunden. Die gewöhnliche innere Wahrnehmung erstreckt sich nämlich nur auf solche Seelenvorgänge, in Bezug auf welche der Mensch mit dem inneren Erleben nicht völlig an die Außenwelt hingegeben ist. [...]
Es muß das Ich die Erkenntnis richten können auf Vorgänge, welche beginnen, wenn die Aufmerksamkeit auf einen Sinnengegenstand sich richtet, und welche verschwunden sind, wenn diese Aufmerksamkeit aufhört. [...] Es müßte das Erlebnis einer Wahrnehmung nicht bloß innerhalb der Sinnenwelt da sein, sondern der Mensch müßte auch die Aufmerksamkeit auf dieses Erlebnis so gerichtet haben können, daß er seine eigene Tätigkeit während des Erlebens wahrnimmt.
GA 45, S. 150ff, Anthroposophie – ein Fragment.

Man kann, wenn man diese Freiheit erfassen will, die ja ein unmittelbar mit dem Menschen identisches Erlebnis ist, nicht an Äußeres sich anlehnen. Man muß das Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen der äußeren Natur entwickelt.
Was Goethe so gefallen hat, als Heinroth sein Denken ein gegenständliches genannt hat, das muß auf einer noch höheren Stufe zutage treten, wenn man die Offenbarung der Freiheit erfassen will, denn Goethe verband sein Denken mit dem Äußerlich-Sinnlichen der pflanzlichen Welt. Da gelang es ihm, das Denken untertauchen zu lassen in das Objekt, mit dem aktiven Denken in dem Objekt selbst drinnen zu leben; aber das Objekt blieb passiv. Will man dieses, wenn ich es da noch so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges, das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu einem freien Flusse, der das eine aus dem andern hervorströmen läßt. Es erfüllt sich der Seeleninhalt mit etwas, das er selber erzeugt und das in seiner Erzeugung zu gleicher Zeit objektiv ist. Der Geist naturwissenschaftlicher Denkungsweise ist heraufgetragen in das Aufsuchen der dem Menschen wichtigsten Seelenresultate. [...]
Qualitativ ist dasjenige, was da erstrebt worden ist als seelische Beobachtungsresultate, nichts anderes, als was später von mir geltend gemacht worden ist mit Bezug auf die Erforschung der verschiedenen Gebiete der übersinnlichen Welten. Man [...] verfährt mit Bezug auf das Innerste der Seelenverfassung auch für diese übersinnlichen Gebiete nicht anders, als man zu verfahren hat, wenn man das Wesen der menschlichen Freiheit untersucht, so daß man eine wirkliche Erkenntnis dieses Wesens erhält.
Man beschränkt den Gegenstand der Untersuchung zunächst auf den Menschen als freies Wesen innerhalb der physischen Welt, aber dieses freie Wesen wurzelt in einem Übersinnlichen. Man bewegt sich in den Freiheitsuntersuchungen in einem Strom übersinnlicher Forschung. Wer dann in vollem Sinne ernst nimmt, was er da eigentlich tut, was da eigentlich in ihm geschieht, indem er sich in diesem Strom übersinnlicher Forschung bewegt, bei dem bietet sich nach und nach selbst der Weg, dasjenige, was er nun angewendet hat behufs Untersuchung der menschlichen Freiheit, auch für weitere Gebiete anzuwenden.
31.8.1921, GA 78, S. 49-51.

Endlich kommen wir zu einem Vierten. Das ist jetzt ein Verhältnis des Ich zum astralischen Leib, und da tritt durch die luziferische Verschiebung ein Übergewicht des Ich ein über die Tätigkeit des astralischen Leibes. [...] Das heißt, daß das Ich sich nicht so zum astralischen Leib verhält, wie es eigentlich ursprünglich beabsichtigt war, bevor der luziferische Einfluß eintrat, sondern daß es egoistischer ist, ichlicher ist, als es hätte sein sollen. [...]
Es wird das Ich so, wie es ein regelmäßiges Verhältnis gibt, wenn der Mensch in weiser und energischer und geduldiger Selbstzucht sich aneignet die Dinge, die genannt worden sind als Staunen, als Verehrungsgefühl für das Erforschte, als Gefühl des weisen Einklanges mit den Welterscheinungen und als Ergebung. [...] Nur dadurch, daß man bis zur höchsten Stufe diese vier genannten Eigenschaften der Seele ausbildet, kann man das ursprüngliche Verhältnis wiederum herstellen. [...] In dem Zustand, wie der Mensch heute ist, ist er eigentlich fortwährend innig verwoben mit seinem Denken, Fühlen und Wollen. [...]
Verlangen Sie nur einmal von sich selber, daß Sie den reinen Gedanken des Ich fassen wollen. Unsere anthroposophischen Freunde, die keuchen fast unter der Anstrengung, den reinen Gedanken des Ich zu fassen, wenn Dr. Unger immer wieder und wiederum verlangt, man soll diesen reinen Gedanken des Ich, abgesehen von all unserem Denken, Fühlen, Wollen, nun wirklich denken. [...] Sie sehen daraus die Schwierigkeit, zu diesem Ich nur als Gedanken zu kommen, geschweige denn es wirklich herauszuschälen aus diesem Denken, Fühlen und Wollen. Wenn der Mensch so in seiner Seele für gewöhnlich ist, dann schießen diese Gedanken-, Gefühls- und Willensäußerungen durch die Seele; dann auch die Begierden. Da ist er nie abgesondert mit seinem Ich von Denken, Fühlen und Wollen. Das ist es aber, was man durch die vier geschilderten Zustände erreicht: außerhalb des Denkens, Fühlens und Wollens stehen zu können und dies anschauen zu können wie irgend etwas außer uns. [...] Zum Zuschauer seiner selbst war der Mensch bestimmt, nicht zum In-sich-Erleben. [...]
Ja, sehen Sie, der Mensch wäre überhaupt niemals [...] zu der vertrackten Idee gekommen, wenn nicht Luzifer damit herangetreten wäre: daß er eine Vernunft in sich habe, daß er Gedanken hege in sich, sondern er hätte gewußt, daß die Gedanken außer ihm sind, daß er also anschauen muß das Denken. Der Mensch würde immer betrachtet haben, bis der Gedanke gegeben ist, bis geoffenbart ist, was mit dem Denken gemeint ist. Das ist zum Beispiel in meiner „Philosophie der Freiheit“ dargestellt. Der Mensch würde nicht auf die Idee gekommen sein: Du sollst allerlei Gedanken zusammenfügen, du sollst in dir urteilen. Das Urteilen in sich, unabhängig von aller Offenbarung, ist ein luziferisches Wesen in uns. So ist die ganze Vernunft, insofern der Mensch sie als seine Eigenheit betrachtet, eigentlich ein Irrtum, es ist bloß durch die luziferische Verführung in den Menschen die Idee hineingekommen, daß er Vernunft haben soll. [...]
Hier ist die Stelle, zu begreifen, wie eigentlich die Vernunft als solche begrenzt ist. Daß die menschliche Erkenntnis begrenzt sei, dagegen ist von mir oft protestiert worden; aber die Vernunft als solche ist begrenzt.
29.12.1911, GA 134, S. 56ff.

Man sucht nicht Gedanken in ihrer Totheit dem Weltenrätsel entgegenzustellen; man stellt dem ganzen Menschen entgegen das, was aus dem ganzen Menschen heraus erlebt werden kann. Nur ganz langsam und allmählich konnte die Menschheit den Weg finden, um das zu verstehen. Und heute ist er ja noch nicht gefunden. Anthroposophie will diesen Weg eröffnen. Aber seitdem die Abstraktheit Platz gegriffen hat, hat man gewissermaßen sogar das Bewußtsein verloren, daß dieser Weg gesucht werden müsse.
18.2.1922, GA 210, S. 138.

In dem, was ich anthroposophische Geisteswissenschaft nenne, schon in meinem Vorwort zu der "Philosophie der Freiheit", tritt Ihnen etwas entgegen, was Sie nicht erfassen können, wenn Sie sich nur jenem passiven Denken hingeben, das man heute besonders liebt, jenem gottverlassenen Denken, dem sich die meisten Menschen hingeben, und das schon im vorigen Leben gottverlassen war; sondern Sie können es nur erfassen, wenn Sie in Freiheit den inneren Impuls entwickeln, Aktivität in das Denken hineinzubringen. Sie kommen eben mit demjenigen, was in der Geisteswissenschaft lebt, nicht mit, wenn nicht jener Funke, jener Blitz hineinschlägt, durch den das Denken voller Aktivität wird. [...] Es läßt sich dabei weder schlafen noch intellektualistisch träumen. Man muß mit, man muß das Denken in Bewegung setzen; in dem Augenblicke, wo man das tut, kommt man mit. Da hört auf dasjenige, was ich modernes Hellsehen nennen möchte, etwas Wunderbares zu sein.
10.10.1922, GA 217, S. 119f.

Und wenn Sie [...] fühlen, was dieses reine Denken ist, so fühlen Sie, daß ein neuer innerer Mensch in Ihnen geboren ist, der aus dem Geiste heraus Willensentfaltung bringen kann. [...]
In dieser Beziehung sollte mein Buch ein Erziehungsmittel sein. Es wollte nicht bloß einen Inhalt vermitteln, sondern es wollte in einer ganz bestimmten Art sprechen, so daß es als Erziehungsmittel hätte wirken können. Daher finden Sie in meiner "Philosophie der Freiheit" eine Auseinandersetzung über Begriffskunst, das heißt eine Schilderung dessen, was im menschlichen Seelenleben vorgeht, wenn man sich mit seinen Begriffen nicht bloß an die äußeren Eindrücke hält, sondern im freien Gedankenstrome leben kann.
Das aber, meine lieben Freunde, ist eine Tätigkeit, die zwar auf Erkenntnisse in einem viel tieferen Sinne abzielt als die äußere Naturerkenntnis, und die zu gleicher Zeit künstlerisch ist, ganz identisch ist mit der künstlerischen Tätigkeit. In dem Augenblick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung. Und diese künstlerische Verfassung ist es auch, die der heutige Pädagoge braucht, um die Jugend zu leiten vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, oder sogar darüber hinaus. Es ist dies die Stimmung, die man hat, wenn man aus dem Innerlich-Seelischen heraus zu einem zweiten Menschen gekommen ist, der [...] erlebt werden muß, daher er mit Recht "Lebensleib" oder "Ätherleib" genannt werden kann, wenn man die Ausdrücke nur nicht wieder im alten Sprachgebrauche nimmt. [...]
Nicht mit Phrasen, sondern aus einer pädagogischen Kunst heraus, die sich nicht scheut, sich auf wirkliche geisteswissenschaftliche Erkenntnis zu stützen, muß man die Kluft zwischen dem Alter und der Jugend überbrücken. Daher sagte ich vor einigen Tagen: Worauf geht diese Kunst? Sie geht auf ein Erleben des realen Geistigen.
12.10.1922, GA 217, S. 143-147.

Daher müssen wir aus diesem Denken durch die Entwickelung, die ich gestern angedeutet habe, heraus, indem wir das Denken ganz reinigen und es zum Willen machen, zum Willen gestalten. [...] Es ist wirklich das Hereinziehen des vorirdischen Daseins in das Leben des Menschen, was dadurch bewirkt werden kann, und so ist es die Vorbereitung zu dem Berufe des Lehrers, des Unterrichters, des Erziehers. [...] In jedem Menschen ist ein Erzieher; aber dieser Erzieher schläft, er muß aufgeweckt werden, und das Künstlerische ist das Mittel zum Aufwecken. [...]
Dann erzieht sich eigentlich das Kind selber an uns, und das ist auch richtig; denn in Wirklichkeit sind nicht wir es, die erziehen. Wir stören nur die Erziehung, wenn wir unmittelbar zu stark in sie eingreifen. Wir erziehen, indem wir uns so benehmen, daß durch unser Benehmen das Kind sich selber erziehen kann. [...] Aber wir können uns so verhalten, daß der Mensch dazu kommt, als Aufwachsender die in ihm vorhandenen Anlagen hervorzuholen. Das können wir aber nicht durch das, was wir wissen, sondern nur durch das, was auf künstlerische Art in uns regsam ist.
13.10.1922, GA 217, S. 155-157. 

Wenn der Mensch nicht etwas, was fortwährend ihm bleibt, retten könnte aus seinem vorgeburtlichen Leben durch sein Erdenleben hindurch, wenn er nicht etwas retten könnte von dem, was zuletzt während seines vorgeburtlichen Lebens zum bloßen Gedankenleben geworden ist, dann würde er niemals zur Freiheit kommen können. Denn der Mensch würde verbunden sein mit dem Toten, und er würde in dem Augenblick, wo er das, was in ihm selbst mit der toten Natur verwandt ist, zur Freiheit aufrufen wollte, ein Sterbendes zur Freiheit aufrufen wollen. Er würde, wenn er desjenigen sich bedienen wollte, was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, betäubt werden; denn in dem, was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, ist alles noch keimhaft. Er würde ein Naturwesen sein, aber kein freies Wesen. Über diesen zwei Elementen – der Erfassung des Toten durch den Verstand und der Erfassung des Lebendigen, des Werdenden durch den Willen – steht im Menschen etwas, was nur er, kein anderes irdisches Wesen, von der Geburt bis zum Tode in sich trägt: das ist das reine Denken, dasjenige Denken, das sich nicht auf die äußere Natur bezieht, sondern das sich nur auf dasjenige Übersinnliche bezieht, was im Menschen selber ist, was den Menschen zum autonomen Wesen macht, zu etwas, was noch über demjenigen ist, was im Untertoten und im Überlebendigen ist. Will man daher von der menschlichen Freiheit reden, so muß man auf dieses Autonome im Menschen sehen, auf das reine sinnlichkeitsfreie Denken, in dem immer auch der Wille lebt.
23.8.1919, GA 293, S. 51f, Allgemeine Menschenkunde, 3. Vortrag.

In meinem Buche „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ ist zwar durchaus ein sicherer Weg in die übersinnlichen Gebiete hinein charakterisiert, aber er ist so charakterisiert, daß er gewissermaßen für jedermann taugt, daß er vor allen Dingen für diejenigen taugt, welche nicht durch ein eigentliches wissenschaftliches Leben hindurchgegangen sind. Ich will ihn heute im Speziellen so charakterisieren, wie er eben mehr für den Wissenschafter taugt. Für diesen Wissenschafter muß ich [...] ansehen als eine richtige Voraussetzung dieses Erkenntnisweges das Verfolgen dessen, was in meiner „Philosophie der Freiheit“ dargestellt ist. Diese „Philosophie der Freiheit“ ist ja nicht in der Absicht geschrieben, in der heute zumeist Bücher geschrieben werden. [...] Meine „Philosophie der Freiheit“ ist so gemeint, daß man zur unmittelbaren eigenen Denktätigkeit Seite für Seite greifen muß, daß gewissermaßen das Buch selbst nur eine Art Partitur ist und man in innerer Denktätigkeit diese Partitur lesen muß, um fortwährend aus dem Eigenen heraus von Gedanke zu Gedanke fortzuschreiten. So daß bei diesem Buch durchaus immer mit der gedanklichen Mitarbeit des Lesers gerechnet ist. Und es ist ferner gerechnet mit demjenigen, was aus der Seele wird, wenn sie eine solche Gedankenarbeit mitmacht. Derjenige, der sich nicht gesteht, daß, wenn er dieses Buch nun wirklich in eigener seelischer Gedankenarbeit absolviert hat, er dann gewissermaßen sich in einem Elemente des Seelenlebens erfaßt hat, in dem er sich früher nicht erfaßt hat; derjenige, der nicht spürt, daß er gewissermaßen herausgehoben ist aus seinem gewöhnlichen Vorstellen in ein sinnlichkeitsfreies Denken, in dem man sich ganz bewegt, so daß man erfühlt, wie man in diesem Denken frei geworden ist von den Bedingungen der Leiblichkeit, der liest eigentlich diese „Philosophie der Freiheit“ nicht im richtigen Sinne. Und der versteht sie im Grunde genommen nicht richtig, der sich dies nicht gestehen kann. Man muß gewissermaßen sich sagen können: Jetzt weiß ich durch diese seelische Gedankenarbeit, die ich verrichtet habe, was eigentlich reines Denken ist.
3.10.1920, GA 322, S. 110f.