"Wenn man die Waldorfpädagogik zur Auferstehung führen will..."

Zitat aus: Mieke Mosmuller: Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst. Occident, 2009, S. 370ff. [Hervorhebungen ergänzt].


So, wie die Pädagogik, die Rudolf Steiner initiiert hat, heute angewendet wird, kann sie nur zugrunde gehen.
Es muss also entweder die heutige Pädagogik innerhalb der Schulen absterben, um triumphierend auferstehen zu können; oder die Schulen selbst müssen mit allem, was sie sind, weiterhin in die Dekadenz geraten – was zu einem andersartigen Absterben führen würde, welches dann nur mit ungleich viel mehr Mühe und Einsatz noch zur triumphierenden Auferstehung führen könnte.

Das Ganze hat eine genaue Entsprechung zu der Entwicklung in der heutigen Welt: Entweder innerhalb unserer Kultur wird die wahre Anthroposophie erweckt; oder die ganze Kultur muss zugrunde gehen, um neue Erweckungen zu ermöglichen.

Der ganze grobklotzige Apparat der heutigen Schulen ist nicht in Bewegung zu setzen, in Verwandlung zu bringen. Die Waldorfpädagogik ist zu einer sehr bestimmten Gewohnheit geworden, und Gewohnheiten sind bekanntlich schwer zu verwandeln. Eine alte Redensart sagt Folgendes: Willst du dir eine Gewohnheit abgewöhnen, dann strebe nach der Entwicklung einer anderen an ihrer Stelle. Das kann der Mensch, wenn er mit sich allein zu tun hat; mit Gruppen, mit ganzen Organisationen, bringt er es nicht zustande.

Dieses Buch könnte also sinnlos scheinen, denn Geschriebenes hat erst recht keine Verwandlungsmacht. Die Menschen jedoch, die das Geschriebene erkennend aufnehmen, haben diese Macht!

Für diese Menschen füge ich eine Zusammenfassung hinzu, eine Art Übersicht der notwendigen Änderungen, wenn die Pädagogik, die von Rudolf Steiner stammt, auferstehen soll. Diese Zusammenfassung soll eine picardische Terz sein, ein Klang, der auf Versöhnung hinweist...

Wenn man die Waldorfpädagogik zur Auferstehung führen will, dann

- muss zuallererst das Wesen der Auferstehung immer wieder und wieder darum gebeten werden, mit aller Kraft, aller Intensität, aller Sehnsucht, aller Überzeugung des Ideals, die der Mensch aufbringen kann. Ein Flehen muss es sein, ein Bitten, ein Fragen. Das können natürlich nur diejenigen tun, die eine lebendige Verbindung mit diesem Wesen empfinden, sei es als Glauben, sei es als Wirklichkeit.

- muss es zweitens eine Anzahl von Lehrern und Lehrerinnen geben, die sich ernsthaft auf den Weg der Verwandlung des Denkens begeben haben. Die Chance, dass es diese überhaupt gibt, wird viel, viel größer werden, wenn die Lehrer so ausgebildet wurden, wie es hier beschrieben wurde. Bis heute gibt es meiner Wahrnehmung nach keinen einzigen Lehrer, der durch und durch versteht, was gefordert ist und der diesen Forderungen auch gerecht zu werden versucht. Keinen einzigen. Wenn ich mich irre, mache ich mehr als gerne Bekanntschaft mit diesem Menschen. Bin ich denn allen Lehrern begegnet? Selbstverständlich nicht. Die richtige Umwandlung, wenn sie auch nur bei einem Lehrer Platz greifen würde, wäre ein Keim, ein Sauerteig. Das ganze Wesen der Pädagogik würde dadurch anders werden – heute dagegen verfällt sie immer mehr. Es geht nicht um aufrichtige Schüler der 'Philosophie der Freiheit'. Es geht um eine tatsächliche Verwandlung, die auf einem inneren Tun beruht, wobei die übliche innerliche Blickrichtung (vom Zentrum zur Peripherie) sich völlig umkehrt: Die Welt wird im Selbst(-Erleben) angeschaut.[1]

- muss die Waldorfpädagogik sehr streng nur für das Kind, für das Erziehen des Kindes da sein und nie für sich selbst. Zur heutigen Waldorf-Gewohnheit gehört, dass die Waldorfpädagogik einen eigenen Egoismus entwickelt hat, dass sie für sich etwas sein will, während sie sich in die Erziehung an sich entäußern sollte. Ohne wahre Waldorfpädagogik kann die Menschheitsentwicklung nicht weiterkommen – das steht fest. Mit dieser Feststellung muss sie aber vollständig in sich befriedigt sein und dann ganz in die Kraft und Gestaltung der realen Erziehung ausfließen. Die richtige optimale Entwicklung des Kindes ist das Ideal, und dies der einzige Besitz der Waldorfpädagogik. Ein Sich-Zubereiten für die Erfüllung mit diesem Ideal muss während der Ausbildung zum Lehrer erstrebt werden. Diese Erfüllung wirkt dann als Liebe zum Kind und seinem Schicksal.

- Daraus geht hervor, dass die ganze Lehrtätigkeit sich nur auf das richtige Werden richten soll, sowohl auf das Werden der eigenen Tätigkeit, als auch auf das Werden der Erziehung. Pantha rhei, ohne andere Zielsetzung als das 'Hüten der Fährte'.

- Zwei Seiten hat der Lehrer: In stillen Stunden arbeitet er hart an sich, im übrigen Leben vergisst er sich völlig – auch in der Lehrerkonferenz. Das Arbeitsfeld – das Kind – ist der Altar, wo die Selbstbezogenheit geopfert wird.

- Und dann schließlich ... wie soll der Lehrer mit den Erkenntnissen der pädagogischen Geisteswissenschaft umgehen, wenn er sie (vorläufig) nur abstrakt hat? Man kann selbstverständlich nicht fordern, dass jeder Lehrer sein Denken aus der Abstraktheit erlöst haben soll. Höchstens kann man – und muss es auch – erhoffen, dass jeder Lehrer einsieht, dass er sich unbedingt auf diesen Weg begeben muss. Wie kann der Mensch mit dem abstrakten geistigen Wissen fruchtbar umgehen?

Wer die Liebesfähigkeit als Anlage in sich trägt, wird aus ihr sicher wissen, wie er die geistigen Erkenntnisse, die von Rudolf Steiner herrühren, anwenden kann, ohne in die oben beschriebene Krankheit zu geraten. Die Liebesfähigkeit wird aber meistens durch die Selbstbezogenheit – den Egoismus – übertönt. Darf man die Erkenntnisse denn gar nicht anwenden? Das kann nicht sein. Die falsche Anwendung hängt mit einer ganz bestimmten Überhebung der Lehrerschaft über Kinder und Eltern zusammen. Diese lässt sich kaum beschreiben, sie ist wie eine Essenz oder ein Geruch, die man sehr genau wiedererkennt, sich jedoch nicht einprägen kann, und die sich noch weniger definieren lassen. Vielleicht gelingt es mit einer umschreibenden Denkbewegung, trotzdem den Kern zu erfassen.

Es gibt zwei grundverschiedene Erkenntnisprozesse. Der erste ist der gewöhnliche. Durch Beobachtung und Wahrnehmung gewisser Merkmale, Tatsachen, Eigenschaften, Phänomene, kommt man zu einer Erkenntnis, indem man diese Wahrnehmungen sammelt und sie dem eigenen oder gemeinsamen beruflichen Begriffsapparat eingliedert. [...]

Solches Wissen gibt Überhebung, und die Überhebung führt zu leiser oder auch weniger leiser Verärgerung. Es ist für die Selbsterkenntnis des Menschen sehr heilsam, ab und zu das Antlitz Luzifers (Luzifer im Menschheitsrepräsentanten) anzuschauen und zu sich durchdringen zu lassen. Es gibt im Bilde diese Überhebung, die sich sonst so schwierig erfassen lässt. Er sitzt ja in jedem, es gibt keine Ausnahme. Das macht auch gar nichts, man muss ihn nur in sich erkennen lernen. Der Lehrer muss sich so stark wie nur möglich bewusst werden, dass es dieser Erkenntnisprozess ist, den er verwendet und der auch in der Lehrerkonferenz verwendet wird. Es ist der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozess, der übliche Erkenntnisprozess – es ist ein liebloser Prozess, der Überhebung verursacht. [...]

Ich kann selbstverständlich selbst entgegnen: Die Anthroposophie gibt gerade die allgemeinen Begriffe, die Erkenntnis fließt aus diesen Begriffen, nicht aus den Wahrnehmungen. Man muss sich jedoch nur ehrlich selbst beim Erkennen zuschauen, sich zurückrufen, wie man die Erkenntnis gestaltet hat, und man wird zugeben müssen, dass die Art des Erkennens der Anthroposophenschaft voll und ganz ein Ausfluss der Empirie und Induktion ist, denn es sind gar keine lebendigen Formen im Bewusstsein vorhanden, es gibt nur Wahrnehmungen und Begriffe, die wie Steine zusammengebracht werden. [...] Das ist nicht ein Beobachten des Denkens, es ist eine unbewusste Überhebung über 'versteinerte' Erkenntnis-Teile! [...] Dass die Merkmale von einem Wesen getragen werden, wird vergessen. Natürlich nennt man den Namen des Kindes, es ist jedoch Name im Sinne des Nominalismus: dank des Namens weiß man, über wen gesprochen wird. Die Realität, die diesen Namen trägt, hat man vergessen.

Es gibt nun aber noch eine entgegengesetzte Art des Erkennens. Da geht man vom Wesen aus und sieht die Merkmale, Eigenschaften, Tätigkeiten, Phänomene als individuelle Prägungen; sie verhelfen nicht zur Erkenntnis des Wesens, das könnten sie nie; sie sind Bestätigungen des Wesens, man kann an ihnen wahrnehmen, wie das Wesen erscheinen will, wie es auch gehemmt und gehindert wird. Setzt man das Wesen beim Erkennen voraus, kann man die Liebe nie verlieren. Jeder Mensch, auch der liebloseste, würde das reine Wesen eines Menschen lieben, wie er sich selbst liebt. Das Wesen verbirgt sich jedoch, viel leichter sieht man die Eigenschaften.

Hier muss der Lehrer sich selbst streng und energisch erziehen. Erstens muss er sich morgens und abends so klar und kräftig wie nur möglich vorstellen, dass jedes Kind ein lebendiges reines Wesen ist. Er muss von den Äußerlichkeiten ganz absehen wollen und das reine Sein, das Dasein des Kindes denkend erleben. Eine Essenz, eine Entelechie kann man empfinden lernen – etwas, was mehr ist als alle Eigenschaften und Phänomene; etwas, was diese umfasst, aber auch übersteigt. Es wird nie gelingen, in der Turbulenz in der Klasse damit Fühlung zu haben. Das muss zuhause geschehen. Man kann ein Kind wählen, oder das Allgemeine des 'Kind-Seins'.

Das Erleben des Wesens muss wachsen, das Wahrnehmen und Denken der Merkmale muss abnehmen. Das Letztere darf erst wiederum in Erinnerung gerufen werden, wenn das Erleben des Wesens einigermaßen substantiell ist. Es ist eine lebendige Ahnung, eine Art Traumgestalt, die so flüchtig ist wie ein traumartiger Gedanke. Mit dem Erleben wird er festgehalten, beständig. Dann erst kann man liebevoll sehen, wie die Qualitäten, Talente, Prägungen des Wesens sind; wie Fehler, Krankheiten, Abweichungen, Hindernisse und Hemmungen sind, die dem Wesen in den Weg gelegt sind, weil es durch sie stärker werden soll oder weil seine Kraft geschwächt werden muss.

Wie könnte der Lehrer je Mitleid mit dem ringenden Wesen haben, wenn er die Fehler des Kindes, die Schwächen, nicht in diesem Licht real vorstellen könnte? Das Denken, das Vorstellen, kann noch immer ganz abstrakt sein, es wird es immer weniger sein: Das Wesen des Kindes, das große, das gewaltige, das reine Wesen, das im Hintergrund bereits als Zuschauer da ist, sollte der Mahner sein: Gründe dein Erkennen auf mich und verstehe von mir ausgehend die Merkmale! Nie werden die Merkmale dich zu mir führen, denn sie gehören zu dem Allgemein-Menschlichen. Das Wesen wird nicht durch sie bestimmt, es bestimmt sie. [...]

Der Erzieher muss das Wesen des Kindes ahnen und das daseiende Kind als Äußerung dieses Wesens verstehen. Der liebende Lehrer lebt sich in das Kind hinüber, wird damit eins, versteht es intuitiv – auch wenn das eigentliche Denken abstrakt ist. Er wird in seinem eigenen Wesen zart davon berührt, und diese Rührung zieht das reine Wesen des Kindes an, sie führt das Wesen ein wenig mehr in die Erscheinungsmöglichkeit hinein, immer wieder ein wenig. Und er wird sein Bestes tun, alle Hindernisse und Hemmungen – auch die, die ihn selbst hindern und hemmen –, zu beseitigen, zu überwinden, zu heilen.

Das ist der Durklang, die Picardische Terz, mit dem diese Ausführungen abgeschlossen sind.


[1] siehe dazu Mieke Mosmuller: Der Heilige Gral, Occident 2007.