02.05.2010

Wieviel Steiner braucht die Waldorfschule? Oder: Der einzige Weg zum Wesen des Kindes.

Gedanken nach einem Seminar mit Mieke Mosmuller.


Inhalt
Distanz oder wirkliche Liebe und Erkenntnis?
Vom Wesen des Kindes
Der einzige Weg zum Kind
Vom Unwesen der Kinderbesprechung



"Wieviel Steiner braucht die Waldorfschule" unter diesem Titel stand ein zweitägiges Seminar von Mieke Mosmuller in Hamburg. Das Thema war die Frage nach dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik...

Gekommen waren zum Abendvortrag 60-70 Menschen, zum Seminar am nächsten Tag etwa 30 Menschen, ungefähr zwei Drittel aus Hamburg selbst.

Je mehr man von verschiedenen Waldorfschulen erfährt, desto mehr muss man erleben: Es besteht gar keine Frage mehr nach Rudolf Steiner. Wo man sich noch mit der Anthroposophie beschäftigt, da geschieht dies meist zweckgerichtet, auf die Methodik konzentriert, und vor allem immer abstrakt – und man glaubt, man würde damit irgendetwas gewinnen.

Distanz oder wirkliche Liebe und Erkenntnis?

Johannes Kiersch schreibt in der neuen Erziehungskunst unter dem Titel "Vom Heiligtum zum Klassiker", man würde zu Rudolf Steiner aus der historischen Distanz heraus einen ganz neuen Zugang und ein neues Verständnis für diesen "Menschheitslehrer" finden können.

Dies ist aber ein Widerspruch in sich, es ist eine Unwahrhaftigkeit nicht nur den Lesern, sondern schon sich selbst gegenüber. Wenn einem die Anthroposophie etwas bedeutet, wenn man sie als erschütternden Wegweiser erlebt, der die Seele den Weg zum Geist führt, dann kann man nicht von Distanz sprechen. Wo man umgekehrt aber von Distanz spricht, da ist alles Sprechen von einer "Verbindung zur Anthroposophie" leeres Gerede.

Distanz und Verbindung oder gar Liebe vertragen sich nicht, es ist ein Widerspruch in sich. Rudolf Steiner hat gesagt: Ich will nicht verehrt, ich will verstanden werden. Das ist das Entscheidende, und Kiersch zitiert diese Worte mit Recht. Man versteht Rudolf Steiner aber genau dann, wenn man die Anthroposophie versteht. Dann aber wird man diesen Menschheitslehrer liebe, wie man die Anthroposophie selbst liebt – und man wird ihn sogar verehren, ohne dass diese Verehrung ein faules innerliches Stehenbleiben ist.

Die Anthroposophie wird genau dann verstanden, wenn und insoweit sie verwirklicht wird. Wenn sie aber verwirklicht wird, wenn sie in der eigenen Seele eine alles verwandelnde Realität wird, wie kann man da von Distanz sprechen? Es ist Gerede, es ist Unwahrhaftigkeit, man versteht die Anthroposophie nicht im Geringsten.

Dies war dann auch das erste, worauf Mieke Mosmuller in ihrem Seminar aufmerksam machte. "Wieviel Steiner braucht die Waldorfschule?" Selbstverständlich so viel Steiner wie möglich. Die Frage ist nur, wie man das versteht.

Man kann der Meinung sein, dass man heute schon 100 Jahre weiter sei und Steiner in vielerlei Hinsicht "verbessern" und "erweitern" müsse und auch könne. Man kann der Meinung sein, dass man Steiner nicht verbessern könne und auch nicht sollte, sondern dass man in Fülle aus seinen Gedanken schöpfen kann.

Man kann aber auch erkennen, dass es möglich ist, sich seine Gedanken so zueigen zu machen, dass sie in einem selbst lebendig werden – und dass hier die Anthroposophie eigentlich erst anfängt. Dann hört wie gesagt alles Gerede von "Distanz" auf, aber auch alles Fragen, "wie viel Steiner...", sondern dann erlebt man, dass eine ganz andere Frage entsteht: Wie kann ich das, dessen Realität ich erst jetzt zu erleben beginne, in mir immer lebendiger werden lassen?

Distanz braucht man nicht gegenüber der Anthroposophie und Rudolf Steiner, sondern gegenüber dem eigenen Hochmut und Intellekt, der meint, es immer schon besser zu wissen als sogar der Begründer der Anthroposophie, den man selbst dann sogar noch "Menschheitslehrer" zu nennen wagt, was dann eigentlich eine Verspottung in sich ist.

Unserem eigenen Hochmut stehen wir distanzlos gegenüber und bemerken ihn daher nicht einmal ansatzweise, wenn wir glauben, die Distanz zur Anthroposophie hülfe uns, sie auch nur irgendwie zu verstehen.

Warum hält man sich überhaupt fortwährend bei jenen Stellen auf, gegenüber denen man Distanz haben zu müssen glauben – und fängt nicht stattdessen energisch mit dem inneren Schulungsweg an? Die einzige Antwort darauf ist: Weil einem die Distanz näher liegt; weil sie bequemer ist; weil sie die Signatur des Intellekts ist – und weil der Intellekt die Signatur unserer Zeit und unserer eigenen Seele ist.

Wenn man aber behauptet, dass man sich mit der Anthroposophie verbunden fühlt, dann kann diese Behauptung nur wahr sein, wenn man die tiefe Sehnsucht fühlt, den Intellekt zu überwinden, eine Distanz zu dem eigenen Intellekt zu bekommen – eine solche Distanz, dass er weniger das Eigene wird als jenes andere, das mehr und mehr an seine Stelle treten will.

Anthroposophia und Intellekt – das sind zwei Realitäten, die nicht gleichzeitig im Menschen leben können.

Es ist nun aber auch der Intellekt, der in den Waldorfschulen die Herrschaft hat – und mit ihm der Hochmut, von dem der Intellekt niemals zu trennen ist. Man glaubt, alles "für das Kind" zu tun, aber man weiß gar nicht, was ein Kind ist. Letztlich tut man alles nur aufgrund seiner abstrakten Vorstellungen, seines abstrakten Ideals (wenn überhaupt). Man hat vielleicht wunderbar seine Methodik, seine Didaktik für die einzelnen Fächer und auch im Allgemeinen gelernt – und dennoch weiß man nicht, was ein Kind ist.

Um zu wissen, was ein Kind ist, müsste man zuerst wissen und bemerken, wie man in seinem Erleben durch einen gewaltigen Abgrund vom Erleben des Kindes getrennt ist. Schon das will man nicht wahrhaben. Man will glauben, dass man die Fachmethodik so ohne weiteres anwenden kann und damit das Beste für das Kind tut. Man will glauben, dass man doch natürlich weiß, was ein Kind ist und auch wie ein Kind erlebt – und man will nicht den Abgrund zur Kenntnis nehmen, durch den das Erleben des Erwachsenen von dem des Kindes geschieden ist. Es reicht aber eben nicht, zu wissen, dass das Kind "bildhafte Geschichten braucht" und dass man ihm diese dann erzählt – das reicht überhaupt nicht.

Vom Wesen des Kindes

Was ist ein Kind?

Man müsste sich immer wieder mit dem größten Ernst klarmachen, dass ein Kind ein Wesen ist, das einen langen Weg hinter sich hat. Einen Weg durch viele Erdenleben, und dann einen langen Weg durch die geistige Welt, bis zur Weltenmitternacht und von dort zu einer neuen Verkörperung, sich umkleidend mit einem Leib, der die ganze Planetenweisheit umfasst, dann einen Ätherleib, der den physischen Leib gestalten wird, und schließlich den physischen Leib selbst...

Novalis hat geschrieben, ein Kind ist sichtbar gewordene Liebe... Damit ist in ganz wenigen Worten etwas ungeheuer Großes gesagt...

Man kann als Erzieher immer wieder nur erschüttert davor stehen, wie das Kind einem alle Fehler immer wieder verzeiht und einem immer wieder seine bedingungslose Liebe entgegen trägt. Immer wieder.

Mieke Mosmuller schrieb in ihrem Buch "Eine Klasse voller Engel": Das Kind liebt den Erzieher immer, die Frage ist nur: Liebt der Erzieher auch das Kind? Und man muss hinzufügen: Wie sehr liebt er es? Ist es wirkliche Liebe? Oder ist es letztlich vor allem Eigenliebe, die nur so lange hält, wie das Kind "lieb" ist?

Man muss sich sehr tief klar machen, dass selbst das Kind, das "Probleme" zu machen scheint, den Erzieher liebt. Was da vorliegt, wenn "Probleme" auftreten, hat seine Ursachen immer im Erzieher – in seiner mangelnden Liebe. Vom Kinde können und sollten wir lernen, was Liebe wirklich ist. Wenn wir dies lernen würden, wenn wir das Kind wirklich so sehr lieben würden, wie das Kind uns liebt, dann würden fast alle Probleme gar nicht auftreten – und diejenigen, die dennoch auftreten, könnten alle mit Hilfe dieser Liebe überwunden werden...

Das Zweite, was der Erwachsene heute fast niemals zu verstehen und zu erleben in der Lage ist, ist, dass das Kind eine tiefe Weisheit besitzt. Es glauben doch alle Erwachsenen und gerade die Lehrer immer wieder, dass sie klüger sind als das Kind – und ihm alles beizubringen hätten.

Worauf es aber vor allem anderen ankäme, ist, sich der Weisheit des Kindes bewusst zu werden und diese zu erleben. Wir können zum Beispiel die vielen Fragen der Kinder nach dem "Warum" einmal wirklich zu erleben versuchen. Die Kinder wollen von uns keine kausalen Erklärungen, sie wollen überhaupt keine toten, geistlosen, armseligen Erklärungen – sondern sie sehnen sich nach geistdurchtränkten Antworten.

Und zwar, weil sie alle Weisheit der Welt bereits unbewusst in sich tragen und wir die Aufgabe haben, sie daran zu erinnern und ihnen zu helfen, sich dieser Weisheit nach und nach bewusst zu werden. Dafür müssen wir aber selbst in den Realitäten leben lernen! Dafür müssen wir zum Beispiel auch selbst ein "Märchen" in seinem vollen seelischen Realitätsgehalt erleben lernen – und müssen im Erzählen in dieser Realität leben können.

Die Weisheit der Kinder können wir dann zum Beispiel auch in ihrem unendlichen Vertrauen in das Gute erleben lernen, in ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, in ihren natürlichen Gefühlen der Ehrfurcht und so weiter. Die Kinder wissen viel mehr über die Welt als wir – wir müssen uns zu dieser Weisheit überhaupt erst wieder wirklich erheben lernen, um für unsere Kinder wahre Erzieher werden zu können.

Das Dritte ist, dass die Kinder einen unermüdlichen Willen haben. Sie sind von morgens bis abends aktiv – mit einer Kraft, über die man nur staunen kann.

An den Kindern kann man immer wieder bemerken, wie müde, innerlich schwach und willenlos wir Erwachsenen geworden sind. In Wirklichkeit schenken uns die Kinder fortwährend ihre Lebenskräfte. Wenn man sich nach einem Tag mit Kindern müde fühlt, in schlechtem Sinne müde, dann zeigt dies nur, dass man es nicht wirklich vermocht hat, innerlich mitzuleben mit den Kindern.

Rudolf Steiner sagte einmal: "Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts."

Dass wir uns müde fühlen, liegt immer nur daran, dass wir nicht mit den Kindern mitleben können, dass wir mit ihrem lebendigen Erleben und Tun und Wollen nicht Schritt halten können; dass wir nicht die innere Ruhe haben, uns wirklich auf sie einzulassen. Und umgekehrt gilt: Wenn die Kinder in unserem Unterricht und unserer Erziehung müde werden, liegt dies nur daran, dass wir es ganz falsch anfangen – eben nicht kindgerecht.

Wir Erwachsenen erleben nicht, dass die Kinder uns immer lieben; wir sind unfähig, sie in genauso unerschütterlicher Weise zu lieben; wir erleben nicht ihre weltenweite Weisheit; wir glauben, dass wir alles besser wissen; wir bemerken nicht, wie sehr wir ihnen immer wieder nur Steine statt Brot geben; wir sind nicht in der Lage, mit den Kindern mitzuleben; wir denken, wir opfern ihnen unsere Kräfte, dabei ermüden wir nur uns selbst und die Kinder...

All dies ist die Realität – und trotzdem erkennen wir noch immer nicht, wie ohnmächtig wir sind, sondern sind hochmütig und stolz auf das, was wir "Waldorfpädagogik" nennen.

Schämen sollten wir uns – zum einen vor uns selber, zum anderen dafür, wie tief die "Waldorfpädagogik" inzwischen gesunken ist, wenn in allen Kollegien kaum noch Menschen zu finden sind, denen die Anthroposophie überhaupt noch ein Anliegen ist – und die dann auch noch tief ernst, innerlich und bescheiden nach echter Vertiefung streben.

Der einzige Weg zum Kind

Es gibt nur einen einzigen Weg zum Kind. Dieser führt durch ein Nadelöhr und man muss bereit sein, diesen Weg zu gehen. Wenn man den Weg nicht gehen will, wird man nicht zum Kind kommen können – man wird sich nur immer weiter vieles einreden können, und man wird zu seinen Illusionen keine Distanz haben...

Der Weg zum Kinde führt über das reine Denken.

Wenn man das reine Denken nicht erringen will, kann man noch so viel von Erkenntnis reden – man hat sie gar nicht.

Was aber ist reines Denken?

Nicht umsonst hat Rudolf Steiner die vielleicht klarste Antwort auf diese Frage in seinen Vorträgen zu einer "Allgemeinen Menschenkunde" gegeben – den werdenden Lehrern!

Im zweiten Vortrag schildert er zunächst, wie der Mensch in zwei Strömungen lebt. In den Vorstellungen äußert sich ein antipathischer Strom, der die Wirklichkeit des vorirdischen Daseins zum toten Vorstellungsbild absterben lässt. Wird die Antipathie noch stärker, kommt man zur Erinnerung – und schließlich zum ganz abstrakten toten Begriff.

Auf der anderen Seite ist der Wille mit den Sympathiekräften verbunden, und aus diesen geht die Phantasie hervor und wenn diese bis in die Sinne dringt, die sinnlichen Anschauungen.

Und dann sagt Rudolf Steiner im dritten Vortrag:

"Wenn der Mensch nicht etwas, was fortwährend ihm bleibt, retten könnte aus seinem vorgeburtlichen Leben durch sein Erdenleben hindurch, wenn er nicht etwas retten könnte von dem, was zuletzt während seines vorgeburtlichen Lebens zum bloßen Gedankenleben geworden ist, dann würde er niemals zur Freiheit kommen können. Denn der Mensch würde verbunden sein mit dem Toten, und er würde in dem Augenblick, wo er das, was in ihm selbst mit der toten Natur verwandt ist, zur Freiheit aufrufen wollte, ein Sterbendes zur Freiheit aufrufen wollen. Er würde, wenn er desjenigen sich bedienen wollte, was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, betäubt werden; denn in dem, was ihn als Willenswesen mit der Natur verbindet, ist alles noch keimhaft. Er würde ein Naturwesen sein, aber kein freies Wesen.
Über diesen zwei Elementen – der Erfassung des Toten durch den Verstand und der Erfassung des Lebendigen, des Werdenden durch den Willen – steht im Menschen etwas, was nur er, kein anderes irdisches Wesen, von der Geburt bis zum Tode in sich trägt: das ist das reine Denken, dasjenige Denken, das sich nicht auf die äußere Natur bezieht, sondern das sich nur auf dasjenige Übersinnliche bezieht, was im Menschen selber ist, was den Menschen zum autonomen Wesen macht, zu etwas, was noch über demjenigen ist, was im Untertoten und im Überlebendigen ist. Will man daher von der menschlichen Freiheit reden, so muß man auf dieses Autonome im Menschen sehen, auf das reine sinnlichkeitsfreie Denken, in dem immer auch der Wille lebt."


Die Realität des reinen Denkens findet man am sichersten immer mehr und mehr, indem man Sätze wie diese selbst so intensiv wie möglich durchdenkt. Indem man versucht, aktiv innerlich zu erleben, was ein solcher Satz eigentlich sagt. Man muss ihn in sich selbst "prüfen", das heißt aber, zur Wirklichkeit werden lassen.

Dann kommt man mit der eigenen inneren Seelenaktivität in das Gebiet, wo das reine Denken eine Realität ist. Man erringt sich das reine Denken. Man beginnt, anfänglich in einer Realität zu leben, die weder in toten Vorstellungen erstarrt, noch in Phantasien ausfließt. Man lernt immer mehr, sich an dem Punkt innerlich zu halten – in voller Aktivität –, der der Quell des Denkens ist.

Dieser Punkt ist aber zugleich der Quell des wirklichen Erkennens und der wirklichen Erziehungskunst.

Im Pädagogischen Jugendkurs sagt Rudolf Steiner:

"Das aber, meine lieben Freunde, ist eine Tätigkeit, die zwar auf Erkenntnisse in einem viel tieferen Sinne abzielt als die äußere Naturerkenntnis, und die zu gleicher Zeit künstlerisch ist, ganz identisch ist mit der künstlerischen Tätigkeit. In dem Augenblick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung. Und diese künstlerische Verfassung ist es auch, die der heutige Pädagoge braucht, um die Jugend zu leiten vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, oder sogar darüber hinaus."


Es ist im Grunde ganz sinnlos und kann nur zu größten Illusionen führen, wenn man in der Lehrerbildung und auf Tagungen "künstlerische Kurse" gibt, denn worum es eigentlich geht, ist das reine Denken. Ohne dies sind alle Bemühungen in dieser Richtungen eine Karikatur, und sie dienen nicht dem Kinde, sondern einzig und allein der Selbstbefriedigung der Lehrer und Dozenten.

Vom Unwesen der Kinderbesprechung

Vom Lichte des reinen Denkens aus gesehen fällt auch ein Licht auf das sogenannte "Instrument" der "Kinderbesprechung".

Dieses ist der größte Irrtum der Waldorfbewegung. Denn man glaubt ja gerade, dadurch dem Kinde nahe zu kommen. Das kommt man auch – aber man tritt dem Wesen des Kindes viel zu nahe, in ganz falscher Weise, unter völliger Missachtung seiner Freiheit, in völligem Unverständnis für das, was man da eigentlich tut.

Man glaubt, man dürfte jemals eine Kinderbesprechung machen, ohne sich selbst zutiefst innerlich verwandelt zu haben. Wie man das Kind überhaupt nicht wirklich erlebt, so erlebt man auch hier überhaupt nicht, was man tut, wenn man sich als ganzes Kollegium oder auch nur mit fünf, vier, drei Kollegen um ein Kind gruppiert und es innerlich anschaut. Man stelle es sich doch nur einmal anwesend vor! Man würde es umringen und anschauen... Fühlt man nicht unmittelbar, wie man sich da furchtbar schämen müsste? Man darf ein Kind gar nicht so genau anschauen! Man wird es auf diese Weise niemals in der richtigen Weise anschauen. Es ist völlig egal, ob man meint, es geschehe aus bestem Willen. Wenn man es tut, ist der Wille eben noch blind gegenüber seiner eigenen Tat.

Wenn man das reine Denken verwirklicht, dann wird man erleben können, dass die "Kinderbesprechung" etwas Furchtbares ist. Und man wird erleben, dass man sie gar nicht braucht. Wie könnte man je etwas Furchtbares brauchen? Die wirkliche Erkenntnis des Kindes oder besser gesagt die Erkenntnis einer Lösung von "Problemen" erlangt man erst mit Hilfe des reinen Denkens.

Einmal sagte Rudolf Steiner:

"Solche Vorträge wie die, die ich gehalten habe, werden erst dann ihr Ziel erreicht haben, wenn sie nicht mehr gehalten zu werden brauchen (...), sondern wenn man wiederum eine Weltanschauung haben wird, eine Erkenntnis, in der schon die Erziehung so enthalten ist, daß wenn der Lehrer (...) diese Weltanschauung hat, daß er dann wiederum, und zwar aus seiner vollen Naivität heraus, die instinktive Kunst des Erziehens kann."
25.8.1922, GA 305, S. 177f.


Das ist nur durch ein errungenes reines Denken möglich dann aber ist es möglich. Dann braucht man ein Kind nicht stundenlang anschauen, erst recht braucht man nicht über ein Kind zu meditieren – sondern man sieht und erlebt das Kind, und man findet das Richtige.

Man sollte also nur um zwei Dinge bemüht sein: Um eine unerschütterliche Liebe zum Kind und um das reine Denken.

Solange man das reine Denken nicht übt und immer mehr verwirklicht, so lange wird man immer wieder in jedem Moment bewusst oder ganz unbewusst urteilen. Man wird einen ganzen Rucksack voller Urteile über das Kind mit sich tragen – und man wird von den meisten Urteilen nicht einmal etwas bemerken. Aber sie sind da, und sie machen das Kind unfrei, hemmen seine Entwicklung.

Selbst wenn man üben will, nicht zu urteilen, sollte man dies nie in einer Kinderbesprechung üben, denn die Kinderbesprechung ist an sich falsch, tritt dem Wesen des Kindes zu nahe. Wenn man üben will, nicht zu urteilen, sollte man dies fortwährend still für sich üben. Wenn man es im Kollegium üben will, sollte man es z.B. in einer Bildbetrachtung tun. Wenn man es unbedingt an einem Menschen üben will, dann sollte man eine Kollegenbesprechung machen – einen Kollegen besprechen! Wenn man dabei empfindet, wie furchtbar oder auch nur wie schwierig das ist – warum tut man es dann mit den Kindern?!

Die Antwort ist immer wieder: Weil man gar nicht versteht, erlebt und weiß, was ein Kind ist. Würde man es wissen, dann würde man ganz anders handeln. Um aber wirklich zu wissen, was ein Kind ist, muss man selbst ein ganz anderer Mensch werden. Man muss sich zum reinen Denken erheben wollen, man muss sich zur Liebe erheben wollen, man muss seinen Hochmut verlieren wollen.

Ohne dass man in dieser Weise ein vollkommen neuer Mensch wird, kann man nicht Waldorflehrer werden.

Wieviele Menschen wollen den Weg durch das Nadelöhr gehen, das wirklich zum Kinde führt, zum wirklichen Kind führt?

Einige Teilnehmer des Seminars waren wirklich so begeistert, dass sie unbedingt weiter an der Ausbildung des reinen Denkens arbeiten wollen – und so wird es weitere Seminare geben...