23.02.2011

Die real existierende Waldorfbewegung und die ehemalige DDR

Und ich wiederhole: Auch dies ist keine Kritik am einzelnen Waldorflehrer und keine Missachtung seiner täglichen Leistung. Es ist ein tief besorgter Mahnruf in Bezug auf das, was alle erkennen können, denen die spirituelle Essenz dieser Pädagogik ein echtes Anliegen ist. Es ist vor allem eine Kritik an den führenden Verantwortungsträgern – und ein Aufruf an jeden Menschen, der die Entwicklung sieht.


In mancherlei Hinsicht drängt sich in Bezug auf die real existierende „Waldorfpädagogik“ der Vergleich mit dem einst real existierenden „Sozialismus“ auf.

Vieles in der DDR hatte irgendwo sehr mit „Sozialismus“ zu tun (sonst hätte der Westen nicht so dagegen gekämpft), aber von der realen Idee war es dennoch abgrundtief und polar entfernt (sonst hätte der Osten sich nicht so schnell absorbieren lassen).

Wenn der Kern einer Idee verloren geht, steht das ganze Gebäude, das übrig bleibt, auf tönernen Füßen. Es wird zum Kartenhaus, das man zwar fortwährend überlackieren und bejubeln kann, dessen Hohlheit aber dennoch jeder durchschauen wird, der selbstständig denken kann.

Auch in der Waldorfbewegung und an einzelnen Waldorfschulen gibt es sozusagen Parteibonzen, Seilschaften, graue Eminenzen und wie immer man sie nennen will. Radikale Kritiker – von Revolutionären will ich gar nicht reden – werden mundtot gemacht, indem man sie als Volksfeinde bzw. Feinde der Arbeiterklasse definiert. Wenn ich z.B. auf die fehlende Substanz in der Waldorfbewegung verweise, beleidige ich sozusagen jeden redlich arbeitenden Waldorflehrer persönlich! Denn die „Substanz“ ist natürlich per definitionem immer anwesend und jeder Angehörige des Einheitsverbandes bemüht sich nach Kräften, sie immer weiter zu stärken...

Der Kritiker wird an den Rand gedrängt, er hat keine Möglichkeiten, sich frei zu äußern. Ein freies Geistesleben gibt es im Lande der Unfreiheit (bzw. innerhalb der Bewegung einer „Erziehung zur Freiheit“) nicht. Die Publikationsorgane des Verbandes sind tabu.

Ja, wenn er sich mäßigen würde! Wenn er die hohe Wahrheit der Partei anerkennen und schuldbewusst in ihren Schoß zurückkehren würde ... dann, ja dann würde er mit aller Anerkennung für seine früheren Verdienste und zweifellos vorhandenen Fähigkeiten wieder aufgenommen...

Wie aber könnte man sich mäßigen (wollen), wenn man die Katastrophe unmittelbar empfindet? Die DDR-Oberen wollten an ihren eigenen Untergang nicht glauben. Kaum jemand hat ihn so schnell kommen sehen, doch jeder wusste, wie marode das System war.

An den Ausbildungsstätten wird auf ewig-gestrige Art (freilassend-dogmatisch, in wechselnden Variationen) die reine Lehre weiterzugeben versucht, mit der die immer mehr ausbleibenden Studenten immer weniger anfangen können, zumal sie auch die Dozenten oft kaum ernstnehmen können – und wohl auch umgekehrt. Der Bruch der Generationen wird überall sichtbar, in den Klassen so sehr wie in den Seminaren. Dennoch herrschen die Durchhalteparolen vor: Weiter so!

Zu Tagungen und Kongressen sprechen stets dieselben altgedienten Kämpen; Gesichter, die man an zwei Händen abzählen kann. Schon ihre Substanz ist teilweise sehr zweifelhaft, und sie sind doch offenbar die crème de la crème der realen Bewegung heute – wie wird es erst in zehn, zwanzig Jahren sein?

Diejenigen, die es mit der Idee wirklich ernst meinen, sind wahrscheinlich am ratlosesten. Zugleich verbietet ihnen ihre Loyalität – die bei ihnen wirklich etwas Edles und zugleich rührend Hilfloses hat – Kritik an den Kollegen. Vielleicht ist ihnen sogar irgendwo klar, dass sie damit die Idee doch gerade verraten, aber sie bringen es nicht über ihr Herz, Kritik zu äußern. Es schiene ihnen auf einen „Bruderkampf“ hinauszulaufen, wo doch gerade die innere Einheit so sehr vonnöten ist... Schon immer konnten „Macher“ aller Art von solcher Loyalität, solcher Scheu vor radikaler Wahrhaftigkeit profitieren!

Und so siegen eben doch die Untergangskräfte. Das System geht unter, weil niemand in der Lage ist, die Zeichen zu deuten – oder vielmehr: das offene Geheimnis auch offen auszusprechen. Man sieht, dass der Geist entschwunden ist und jeden Tag mehr entschwindet, aber keiner wagt, den Mund aufzumachen, denn noch steht der Palast der Republik, noch scheinen die Mauern nicht zu wanken, noch gelten die täglich ausgegebenen Parolen: „Großartig, Genossen, weiter so! Wir steigern die Produktion Tag um Tag!“ – „Jawohl, Genosse, wir sind stolz, zur Bewegung zu gehören!“

Die DDR ging unter, weil die echte Gesinnung des Sozialismus bis zum letzten zerstört und pervertiert worden war. Und auch das Wesen der Waldorfpädagogik wird überhaupt gar nicht sichtbar, sondern immer mehr durch einen mehr oder weniger schönen Schein ersetzt, der aus MSA- und Abi-Kompatibilität, viel „Engagement“ und „gutem Willen“ besteht, während von Substanz immer mehr jede Spur fehlt und hinter den Kulissen immer mehr die gleichen Probleme oder sogar Kämpfe zwischen Kollegen, Eltern und Schülern toben wie woanders auch.

Das heißt natürlich auch: Die Waldorfschule wird nicht zusammenbrechen wie der sogenannte „real existierende Sozialismus“. Sie wird einfach mehr und mehr ganz im normalen Schulsystem ankommen, im doppelten Sinne, nämlich auch („endlich!“) anerkannt von den anderen. Das bisschen Lehrplan-Besonderheit (und „Selbstverwaltung“), das man dann noch umzusetzen versucht, interessiert dann niemanden mehr. Der Rest fehlt, und darauf kommt es an.

Dann hat sich „Waldorf“ äußerlich vollständig etabliert, weil es sich innerlich völlig entkernt hat, hohl geworden ist bis an den Rand einer hauchdünnen Schale. Und während die Waldorfbewegung in der äußeren Welt dann einen gewissen Namen hat – immerhin einen Namen –, immerhin eine Randerscheinung ist, wird in den geistigen Welten der völlige Zusammenbruch verkündet, die Auflösung. Die Waldorfschule wurde – immer geistig gesehen – vom üblichen Schulsystem übernommen, aufgesogen, die Wiedervereinigung hat stattgefunden...

Doch: All diese Gedanken darf man gar nicht denken! Sie zersetzen die Arbeitsmoral, sind Verrat an der Staatsmacht, die natürlich vom Volke ausgeht! Alle Kritiker sind Geheimspitzel der Gegenmächte!

Hoch lebe der Waldorf-ismus! Siegreich durch die nächsten fünf Jahre! Vorwärts Genossen! Fest und treu im Sinne Rudolf Steiners, wie unsere obersten Genossen es uns immer wieder versichern...