Das Soziale und das Unsoziale

Die „soziale Frage“ hat heute nur eine etwas weniger offensichtliche Gestalt angenommen, als sie z.B. vor 100 Jahren hatte, wo vor allem die materiellen Lebensbedingungen zur Frage standen. Heute geht es ganz direkt um das Menschliche selbst. Wo gibt es noch echte Kontakte mit den Mitmenschen? Überall erscheint der Egoismus als Wesen des Menschen: In der Biologie, in der herrschenden ökonomischen Theorie, im Staatsgedanken der Politologie. Tatsächlich fördert die Psychologie beim Menschen fast ausschließlich Egoismen zutage. Den Egoismus findet jeder in sich selbst. Je mehr man zu einer objektiven Selbstbeurteilung fähig ist, um so mehr wird man das ungeheure Ausmaß des Egoismus erkennen können. Gibt es denn überhaupt soziale Impulse?

Was ist überhaupt wirkliches Sozialsein? Zur Klärung dieser Frage kann man ganz konkret an der täglich erlebten Erfahrung des Gegenteils ansetzen, d.h. am Begriff des Unsozialen. Man kann hier zwei Bereiche unterscheiden, die mit „anti-sozial“ und „a-sozial“ bezeichnet werden sollen.

Antisozial muß der Mensch in allem Konsum sein. Wenn man etwas verbraucht, wurde dies immer aus dem Ganzen abgesondert – auf Kosten dessen, was für andere zur Verfügung steht. Alles ist begrenzt und es gibt keine „freien Güter“ (wie die Nationalökonomie noch vor einigen Jahren Luft, Wasser, Raum behandelte). Dieser Begriff des Antisozialen enthält keinerlei moralische Färbung, man kann ihm ja gar nicht entgehen. Die Moral beginnt erst mit der Frage, was das mit Antisozialität ermöglichte Leben nun für die Mitmenschen bedeuten kann.

Jede realistische ökonomische Theorie muß vom Egoismus ausgehen, doch das Modell des reinen Kampfes aller einzelnen nach optimaler Bedürfnisbefriedigung ist bereits eine Ideologie, weil es eine Teilwahrheit absolut setzt. Schon die Annahme eines atomistischen Marktes, wo jeder einzelne auf sich gestellt ist, ist eine theoretische Illusion, Realität ist die stetige Konzentration von Marktmacht. Man schätzt, daß 80% der Produktion in den Händen von 300-400 Konzernen liegen. Sie können z.B. Bestechungen in jeder Höhe zahlen und oftmals Regierungen stürzen. Sie erzwingen von den Regierungen eine für ihre Zwecke günstige Infrastruktur (auch und vor allem rechtlich in Form günstiger Gesetze) – der Staat wird ins Wirtschaftsleben gezogen. Im Geistesleben werden die ideenreichsten und schöpferischsten Menschen in den Dienst der Wirtschaft genommen, die Löhne in beliebiger Höhe zahlen kann.

Der Egoismus ist heute das Strukturprinzip der Wirtschaft, die sich die anderen Bereiche der Gesellschaft (Politik, Recht, Geistesleben) unterwirft. Doch der Mensch muß im Wirtschaftsleben nur insofern antisozial sein, als er auch ein biologisches Wesen ist. Erst als Begierdewesen macht der Mensch sich die Natur über das notwendige Maß hinaus untertan, und außerdem den Mitmenschen – es kommt zu Unterdrückung und Ausbeutung.

Asozial als Begriff soll zunächst bedeuten: ohne Kontakt mit der menschlichen Umwelt (und daher per se niemals antisozial). Wie der Mensch antisozial sein muß, um physisch existieren zu können, muß er asozial sein, um als geistiges Wesen auf Erden zu leben. Der nach Erkenntnis strebende Mensch geht auf einsamen Wegen dem noch Unbekannten nach. In der Meditation schließt er sich völlig von allem übrigen ab. Jede Fähigkeit, vom Lesen, Schreiben, Rechnen angefangen, muß man sich zunächst an-eignen und ist dabei voll mit sich beschäftigt. Das gleiche gilt dann bei der Ausübung vieler Fähigkeiten: Schon wenn wir etwas rechnen, müssen wir ungestört sein. Der Mensch muß als seelisch-geistiges Wesen sich immer wieder a-sozial auf sich selbst zurückziehen.

Auch hier beginnt der moralische Aspekt erst mit der Frage, wie ich mit diesem Bedürfnis und seinen Früchten umgehe. Der wirkliche Egoismus äußerst sich im antisozialen wirtschaftlichen Bereich im gierigen „Raffen“, im Geistesleben ist es genau umgekehrt: Egoistisch ist hier das Austeilen: Seine Ansicht durchsetzen, Recht haben und überzeugen wollen, missionieren. Asozialität verwandelt sich im Mitmenschlichen also in Intoleranz – warum? Der Mensch hat ein ständiges Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Das Selbstgefühl kann im Kern erschüttert sein, wenn andere andere Wahrheiten besitzen. Fast jeder Student ist völlig verunsichert, wenn der Prüfer fragt: „Glauben Sie das wirklich?“. Dazu kommt, daß wir meist zumindest unterbewußt wissen, daß wir nicht die ganze Wahrheit besitzen.

Je schwächer das eigene Seelenleben ist, desto mehr strebt der Mensch nach Anerkennung und danach, daß ihm seine Wahrheit auch aus allen Mitmenschen entgegenkommt. Wie der Mensch als biologisches Wesen stets anderen etwas wegnimmt, hat er im Seelischen die Tendenz, sich über alles auszubreiten (die Mitmenschen sollten im Grunde im Denken und Urteilen die Klone des eigenen Ich sein).

In der Theorie kennt der Kapitalismus nur den antisozialen, der Sozialismus nur den sozialen Menschen. Dies führte im Westen dazu, daß eine egoistisch strukturierte „liberale“ Wirtschaft sich das Ganze zunehmend unterwirft und die Gesellschaft in eine Summe von Egoisten zersplittert. Im Osten dagegen ergriff das Geistesleben als Ideologie die Macht, die Gesellschaft wurde zur Masse.

Das Recht zwischen Wirtschafts- und Geistesleben

Das Überhandnehmen egoistischer Triebe soll z.B. durch Strafgesetze verhindert und durch die Sozialgesetzgebung ausgeglichen werden. Meist wird das Rechtswesen nur als Einrichtung angesehen, die gegen die unsozialen Triebe schützen bzw. ihre Symptome und Folgen ausgleichen soll. Doch das Rechtsleben ist eine ureigene Sphäre mitten zwischen den beiden anderen. Denn der wirtschaftende oder im Geistesleben stehende Mensch ist als biologisches oder geistiges Wesen anti- bzw. asozial. Der Ursprung der Gesetze ist das Erleben des Unsozialen als ein solches.

Man erlebt die Möglichkeit des Sozialen in sich als das wirklich Menschliche. Es ist eine Tatsache, daß der Mensch bei aller Raffsucht und Rechthaberei sich doch auch - ab und zu, mehr oder weniger, bewußt oder unbewußt – als Hüter seines Bruders fühlt. Ihm ist also als drittes auch der Trieb eigen, zu fragen, was ihm im Verhältnis zu seinen Mitmenschen gebührt – dies ist die Rechtsfrage. Wie sehr das Soziale ureigentlich mit dem Menschlichen zu tun hat, erkennt man z.B. daran, daß der Mensch in seinem Rechtsempfinden so empfindlich ist.

Warum wird die Rechtssphäre so wenig als eigene erkannt? Zum einen, weil sie eben als urmenschliche Sphäre gar nicht als „etwas besonderes“ bemerkt wird. Zum anderen weil der Mensch hier völlig frei ist (umgekehrt ist dies ein weiterer Grund, warum wir gerade hier beim eigentlich Menschlichen sind). Die Rechtssphäre ist nur da, insofern der Mensch es will, d.h. insofern ihm das Zwischenmenschliche zur Frage wird! In der biologischen Selbsterhaltung und im Geistesstreben ist der Mensch zwangsläufig un-sozial und auch sonst unfrei (in bezug auf das Geistesleben ist er nur darin frei, ob und inwieweit er sich ihm zuwendet, aber die Eigengesetze des Rechnens, den Inhalt einer Wahrheit etc. kann er nicht bestimmen). Seinem sozialen Trieb kann und muß der Mensch aus freiem Entschluß folgen, und auch sein soziales Handeln kann und muß er vollkommen selbst gestalten.

Aus dieser mittleren Sphäre heraus kann der Mensch seine anti- und asozialen Triebe zunächst einmal erkennen. Aus dieser Sphäre heraus erkennt er auch andere Menschen erst als solche. Für den unsozialen, den selbstbezogenen, raffenden und zu geistiger Entfaltung drängenden Menschen sind die anderen Menschen nur Objekte der Ausbeutung und Missionierung. Erst das soziale Rechtsgefühl ermöglicht es, sich nicht als absolut zu setzen. Im Wirtschaftsleben sagt mir mein Rechtsgefühl, daß ich alles Konsumierte anderen Menschen verdanke und ebenfalls produzieren soll, was sie benötigen. Im Geistesleben erkenne ich, daß alle Selbstentwicklung nur möglich war, weil andere Menschen (schon seit Beginn der Menschheits- und Kulturgeschichte) mir den Weg ebneten und in den richtigen Augenblicken Hilfestellung gaben. Ich kann wiederum jenen Menschen helfen, die das Schicksal mir über den Weg führt.

Die sozialen Gesten sind eine Umkehrung der unsozialen: Der soziale Mensch gibt im Wirtschaftsleben, was andere benötigen; im Geistesleben nimmt er die Seelennot der Mitmenschen auf, um ihnen dann helfen zu können.

Auch das „Prinzip“ der Gleichheit aller Menschen als Basis des Rechts entstammt dem innersten, ganz konkreten Erleben. Sobald ich erkenne, daß ich allen „Besitz“ anderen zu verdanken habe, bedeutet dies, daß ich im Kern nur noch Geistwesen bin – wie alle anderen Menschen. Dieses soziale Urerlebnis begründet zugleich meine eigene Freiheit gegenüber meinen anti- und asozialen Trieben. Wo ich nichts als Eigenes beanspruchen kann, muß ich auch nicht egoistisch-antisozial meine Existenz sichern, nicht meine Ansichten verteidigen, nicht mich geltend machen. Nun erst kann ich wirklich frei meinen sozialen Trieben folgen. Ich kann weiter unsozial handeln oder aber sozial, nun beides aus Freiheit. Nun sind wir soweit, daß wir die Frage beantworten können, was sozial im Kern heißt: die Not des Mitmenschen zum Motiv des eigenen Handelns machen.

Durch das Vorhergehende konnte vielleicht auch deutlich werden, daß die drei Bereiche in der Gesellschaft unabhängig voneinander sein müssen, damit der eine nicht die anderen unterwerfen kann und sich das, was bei dem einen berechtigt ist, nicht auf die anderen ausdehnt. Wirtschafts-, Geistes- und Rechtsleben müssen unabhängig voneinander sein. Sonst kommt es zu all den unguten Verquickungen, die man heute zur Genüge erleben kann: Das abhängige Geistesleben unterwirft sich wirtschaftlichem Kalkül und wird durch Rechtsvorschriften eingeengt, das Rechtsleben wiederum sieht sich Einflüssen der beiden anderen Bereiche ausgesetzt (Lobbying), das Wirtschaftsleben wird vom Rechtsleben in eine bestimmte Richtung gedrängt.

Die Erkenntnis, daß Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben eigenständige Gebiete sind und auch praktisch sein sollen, bedeutet keineswegs, daß die ganze Gesellschaft in drei Teile auseinanderfällt. Die Gesellschaft ist ein sozialer Organismus, der aus diesen drei Gliedern besteht, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Das Vereinigende ist jedoch nicht ein abstrakter „Staat“, sondern es sind die konkreten Menschen selbst, die ja in jedem dieser Glieder drinstehen. Der Mensch selbst ist ständig im Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben unmittelbar beteiligt.

Die Autonomie der drei Gebiete bedeutet z.B. für die Rechtssphäre (insbesondere für die Politik als Legislative), daß ihr Bereich, auf den sie sich zu beschränken hat, die Regelung des rein Zwischenmenschlichen ist. Gesetze, die Erkenntnis- oder Wirtschaftsfragen regeln wollen, tun dem Individuum (als eigenständig Erkennendem und Konsumenten) Unrecht an. Damit hört auch der Staat auf, ein mysteriöses Eigenwesen zu sein, daß immer wieder dazu tendiert, alles zu kontrollieren und das Individuum zu unterdrücken. Der „Staat“ verwandelt sich in das Zusammenspiel der drei Bereiche, die jeweils der ihnen gemäßen Eigengesetzlichkeit folgen können.

Die „Staatsmacht“ beschränkt sich dann auf die im Sinne einer wirklichen Gewaltenteilung unabhängige Exekutive, die die gemeinsam bejahten Regeln der eigentlichen Rechtssphäre im Zweifelsfall durchzusetzen vermag. In jedem anderen Sinne ist Staatsmacht nicht mehr zeitgemäß, selbst nicht zum Erreichen einer „sozialen Gesellschaft“. Im Kommunismus versuchte man das Soziale zu erzwingen. Heraus kam nicht nur die schlimmste Diktatur, sondern erzwungene Handlungen können niemals wirklich sozial sein. Das Soziale setzt die individuelle Freiheit des Menschen voraus. Worauf es vielmehr ankommt, ist, daß das Soziale die Möglichkeit bekommt, sich zu entfalten, und das Unsoziale durch die Einrichtungen, die sich die Gesellschaft gibt, schlichtweg zunehmend unmöglich sein wird. Wie das geschehen kann, wird im weiteren klar werden.

Im folgenden werden immer wieder drei verschiedene Ebenen der Gesellschaft unterschieden: Die Makro-, Meso- und Mikrosphäre. Die Makrosphäre umfaßt solche Zusammenhänge, in denen die Menschen prinzipiell anonym bleiben (z.B. in ihren Rollen als Verkäufer und Käufer etc.). Die Mesosphäre umfasst das institutionelle Leben. Die Mikrosphäre beschreibt die Art wie sich ein Mensch zu seinen Mitmenschen verhält. Wiederum ist es der Mensch selbst, der persönlich, institutionell oder anonym seine Beziehungen gestaltet, daher durchdringen sich auch diese drei Sphären natürlich. Sie besitzen aber jede ihre eigenen typischen sozialen Probleme; man entdeckt sogar erst an den auftretenden Problemen, in welcher Sphäre man sich befindet.

Wie kann der soziale Impuls des Menschen sich bis in die konkreten Strukturen hinein äußern?

Im Wirtschaftsleben liegt das Soziale im Arbeiten für die Bedürfnisse der Mitmenschen. Damit dies möglich ist, muß der Zwang oder das Faktum verschwinden, daß man für sich selbst arbeitet. Institutionell bedeutet das die Trennung von Arbeit und Einkommen. Bisher ist das Einkommen eine rein wirtschaftliche Frage: Wieviel gibt der Unternehmer dem Angestellten? Die Arbeitskraft eines Menschen wird faktisch immer noch als Ware behandelt, was ein letzter Rest von Sklaverei ist, solange der Mensch diese Arbeitskraft verkaufen muß (auf dem Arbeits“markt“). Die Einkommensbildung müßte sozial gesehen eine Rechtsfrage sein: Wieviel vom verfügbaren Ganzen kann die Gesellschaft jedem einzelnen Menschen in seiner ganz konkreten Lebenssituation zuteilen? Wenn auf diese Weise das Einkommen nicht mehr an die Arbeit gekoppelt ist, wäre es überhaupt nicht mehr anders möglich, als aus den Bedürfnissen der Mitmenschen heraus zu arbeiten.

Im Wirtschaftsleben kann man sich aufgrund der gemeinsamen biologischen Grundlage in den anderen bzw. seine Bedürfnisse hineinversetzen. Im Geistesleben würde man sich selbst mitnehmen („wenn ich Sie wäre...“). Hier muß ich den anderen sich in mir aussprechen lassen. Ich darf mich erst aussprechen, wenn ich dazu eingeladen bin; ich muß mit Antworten warten, bis ich wirkliche Fragen vernommen habe (dies ist in etwa mit der alten Tugend der Keuschheit zu vergleichen). Im Wirtschaftsleben muß der Mensch als Konsument antisozial sein, als Produzent kann er sozial sein. Im Geistesleben muß der Mensch als Produzent asozial sein (und ist hier auch unfrei, s.o.), als Konsument kann er im Aufnehmen der Ideen anderer sozial sein.

Recht und Gesetz

Wir haben gesehen, daß das Recht, wenn es wirklich innerlich erlebt wird, mit dem Sozialen zusammenfällt. Dennoch gibt es oft eine Kluft zwischen Recht(sgefühl) und Gesetz: Die Trennung von Arbeit und Einkommen ist nur scheinbar durch die Sozialhilfe gegeben. Praxis ist, daß jemand, der keine erwünschte Arbeit anzubieten hat, wie unverkäufliche Ware auf dem Müllhaufen der Gesellschaft landet (während der „Verwaltung“ der „Asozialen“ Hunderttausende Beamte ihre Arbeit verdanken).

Ein weiterer Aspekt betrifft die Benutzung von natürlichen Reichtümern und Kapital. Erstere sind eine Gabe für die ganze Menschheit, das Kapital ist eine Errungenschaft der ganzen Menschheit (Kapital entsteht durch Umsetzung von Ideen des Geisteslebens, die immer auf geistigen Leistungen anderer aufbauen). Als Privateigentum werden sie jedoch zum Instrument der Ausbeutung. Die Dogmen des heutigen Eigentumsrechts sind u.a.: Jeder Gegenstand muß Eigentumsobjekt sein, Eigennutz ist der einzige Motor der Wirtschaft. Hier ist die Trennung von Verwaltung und Verfügung nötig.

Überall stehen dem gegenwärtigen Rechtsempfinden Dogmen aus einem früheren Geistesleben gegenüber, die sich im Wirtschaftsleben als Ideologien breitgemacht haben. Diese Dogmen sind einer bestimmten Macht höchst willkommen: dem antisozialen Streben selbst, das soziale Gesetze verhindert. Nachdem Gewohnheiten und Sitte nicht länger zwingend sind, steht das Rechtsgefühl auf unsicherem Boden, und so können Interessengruppen ihren Einfluß auf die Gesetzgebung geltend machen (Lobbying). Dann muß nur noch durch den Vorstoß ins Geistesleben mit Reklame und Propaganda das Rechtsempfinden der Bevölkerung korrumpiert werden. Das antisoziale Machtstreben bzw. seine gesetzliche Sanktionierung muß zumindest als unumgängliche Maßnahme erscheinen. Wie bei Orwell müssen Bezeichnungen her, die die gewünschten Gefühlsinhalte vermitteln (etwa „Entsorgungspark“ für Atommülldeponie).

Als drittes wird auf die menschlichen Beziehungen in den Konzernen mehr und mehr das reine Prinzip der Wirtschaftlichkeit angewandt. Dabei entsteht die neue Qualität des Funktionärs, für den die ganze Umwelt nur Zweck ist. Heute ist der Urwald von Gesetzen von keinem Beamten mehr in seinen Folgen zu durchschauen, gerade weil sie sich nicht auf das Rechtsleben beschränken. Die Gesetze verlieren ihren moralischen Wert – und haben zutiefst moralische, ungerechte Folgen: Durch Gesetze scheitern therapeutisch wirklich begabte Menschen am Numerus clausus (Geistesleben), werden Kleinbauern in den Bankrott gezwungen (Wirtschaftsleben). Den Funktionär brauchen die Folgen seiner Amtshandlungen nicht zu interessieren, denn für ihn ist das Gesetz Selbstzweck, sogar dem wirtschaftlichen Ziel entfremdet.

Gerade auf dem Rechtsgebiet dürfte es keine Funktionäre geben, weil das Rechtsgefühl mit der unmittelbaren Begegnung und sozialen Intuition verbunden ist. Der „Wohlfahrtsstaat“ aber ertötet durch die umfassende „Sozialgesetzgebung“ (samt Ausführungsbestimmungen) sowohl die soziale Tätigkeit der Bürger, als auch die soziale Urteilskraft der Beamten (Exekutive).

Die vier Grundelemente des sozialen Geschehens

Im anthroposophischen Sozialimpuls wirken vier Elemente zusammen: Zwei allgemeine Gesetze, ein zeitlich gebundenes Prinzip und der eigentliche Impuls, ohne den das Ganze Programm bliebe. Im folgenden werden diese vier Elemente (soziologisches Grundgesetz, soziales Hauptgesetz, Dreigliederung und soziales Urpänomen) kurz skizziert, um dann ausführlich auf sie einzugehen.

Das soziologische Grundgesetz ist in zwei Aufsätzen Steiners von 1898 zu finden: „Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von den Interessen der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.“ (GA 31, S. 255f).

Das soziale Hauptgesetz formulierte Steiner 1905/6 in den Aufsätzen „Theosophie und soziale Frage“: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen E. an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den L. der anderen befriedigt werden.“ (GA 34, S. 213).

Das soziale Urphänomen erwähnt Steiner so nur einmal am 12.12.1918 im Vortrag „Soziale und antisoziale Triebe im Menschen“, wo er sagt, daß „wenn Mensch dem Menschen gegenübersteht, der eine Mensch immer einzuschläfern bemüht ist, und der andere Mensch sich immerfort aufrecht erhalten will. Das ist aber, um im Goetheschen Sinne zu sprechen, das Urphänomen der Sozialwissenschaft.“ (GA 186, S. 175). Im selben Vortrag sagt Steiner, daß der Mensch heute eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt ist, wenn er schläft oder aber, wenn dies ins Wachen hereinwirken kann. Wenn der Mensch aus freiem Entschluß „für den anderen einschlafen“ kann, dann sind im Urphänomen Freiheits- und Liebesimpuls vereint.

Die Dreigliederung ist ein Prinzip, das sich ergibt, wenn der sozial Wollende (Urphänomen) mit den gegenwärtigen Verhältnissen zwischen gemein- und eigennütziger Arbeit (Hauptgesetz) in der gegenwärtigen Phase der Individuation (Grundgesetz) konfrontiert wird. Sie dient den eigenständigen Werten der ersten drei Elemente: Befreiung des Individuums, Erhöhung des Heils, sozialer Impuls. Steiner verwies nach eigenen Worten nie auf die Lösungen der sozialen Frage, sondern auf die Bedingungen, auf deren Grundlage man für diese Lösung tätig werden kann. Eine soziale Lösung kann nur aus unserer Fähigkeit entspringen, das soziale Urphänomen bewußt zu handhaben. Eine Lösung aus der Idee heraus ist immer asozial, Dreigliederung ist aber ein Impuls.

Das soziologische Grundgesetz

„Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von den Interessen der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.“ (GA 31, S. 255f).


Dies stellt die Quintessenz des wichtigsten Abschnittes der irdischen Menschheitsentwicklung dar. Die freie Individualität soll sich entwickeln und wird dann die Grundlage für neue, freie und in diesem Sinne wahrhaft soziale Gemeinschaften sein. Es entsteht die Frage, welche Gesellschaftsformen den verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen angemessen sind. 

Steiner sagte in bezug auf die heutige Zeit: „(...) die Fortgeschrittensten streben solche Gemeinschaftsformen an, daß durch die Arten des Zusammenlebens das Individuum so wenig wie möglich in seinem Eigenleben behindert wird. Es schwindet immer mehr das Bewußtsein, daß die Gemeinschaften Selbstzweck sein können.“ (GA 31, S. 253f). / Der Staat zum Beispiel würde sich dann „so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt. Sein Ideal wird die Herrschaftslosigkeit sein. Er wird eine Gemeinschaft sein, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will“ (S. 256).

Leider gibt es bis heute keine Geschichte, die auf der Beschreibung der sozialen Verhältnisse beruht. Es sind ja auch die nicht-staatlichen Gemeinschaftsformen weiter zurückliegender Zeiten nur sehr lückenhaft überliefert. Die Anfänge der Kultur sind nirgendwo sichtbar. Schon die ältesten Schriftzeugnisse weisen auf ein vergangenes „goldenes Zeitalter“ hin, während die eigene Gesellschaftsstruktur nur noch einen idealen Anspruch ausdrückte. In der Theokratie steht an der Spitze ein Priester und König, der wiederum Werkzeug höherer Mächte ist. Diese Persönlichkeit empfängt als unterste Spitze einer spirituell-göttlichen Pyramide die Eingebungen, wie sie das Volk zu einer irdischen Pyramide bilden soll (die dann eine Spiegelung jener darstellt). Ein ziemlich genaues Beispiel dieser Struktur fand man bei der Eroberung des Inkareichs vor. Der Inka verfügte über Land und Menschen in Überein­stimmung mit dem Kultus. Das Geistesleben (inkl. Handwerk) war Kultus, das Rechtsleben diente dem Kultus, Landbau und Viehzucht ermöglichten den Kultus.

Welches sind die Phasen der Individualisierung? Zunächst entwickelt sich neben der allumfassenden Theokratie ein selbständiges Geistesleben. Schon in Ägypten umgibt sich der Pharao irgendwann mit Ratgebern, die nach und nach gewisse Selbständigkeit erlangen (vgl. Joseph). Die Residenz wird von Memphis nach Theben verlegt, es entstehen zwei Paläste für Pharao und Hohepriesterschaft. Weltliches und Kultisches beginnen sich zu trennen. In Griechenland wurde die Philosophie geboren, das selbständige Denken entwickelte sich. Das befreite Geistesleben glaubte nun seinerseits, die theokratische Herrschaft übernehmen zu sollen (vgl. Platos „Staat“, der von Philosophen gelenkt werden soll).

In der nachmythischen, griechischen Blütezeit begann aber auch schon die Befreiung des Rechtslebens und der aus dem Geistes- oder Rechtsleben hervorgehenden Aspekte des Wirtschaftsleben (Handwerk und freie Berufe sowie Handel). Auch in Rom tritt nach der Königszeit teilweise das menschliche (jus) an die Stelle des göttlichen Rechts (fas), auch hier bleiben die wirtschaftlich Tätigen (Sklaven und Plebejer) fest im theokratischen Gefüge, später erst wurden sie wenigstens indirekt durch den Volkstribun rechtlich vertreten. Als persönliches Recht erscheint zunächst das Eigentumsrecht – die Idee der totalen Verfügungsgewalt wurde von der Theokratie übernommen. Bis heute setzt sich der Juristenstreit fort, ob das Eigentumsrecht eine reale Beziehung zwischen Eigentümer und Objekt darstellt (religiös-magischer Charakter) oder nur die Verfügungsgewalt gegenüber anderen Menschen abgrenzt (wodurch die eigentliche Rechtsfrage erst entstünde). Das Sachenrecht ist noch mit magischen, heute fetischistisch gewordenen Zügen behaftet; die „Besitzenden“ sind selbst „besessen“.

Im Rechtsleben hat der Mensch Freiheit, wenn er untereinander vertragliche Beziehungen gestalten kann. Vor der Rezeption des römischen Rechts entwickelte sich im eigentlichen Mittelalter aus germanischen Rechtsauffassungen heraus ein System gegenseitiger Abhängigkeiten: Der Feudalherr hatte die Pflicht, für das Wohl der ihm wirtschaftlich untergeordneten Bevölkerung zu sorgen. Um 1200 setzten verheerende Rückfälle ein, Friedrich II. führte archaisch-orientalische Formen ein, auf kirchlicher Seite wurde jegliche Toleranz vernichtet (Kreuzzüge, Inquisition; noch bis zur Französischen Revolution galt: cuius regio eius religio). Papst und Kaiser nahmen sich das theokratische Recht, Bischöfe zu ernennen bzw. Kronen zu verleihen, eine doppelte Theokratie entstand. Das Kaisertum entfremdete sich dem germanischen Rechtsprinzip, das alle „Herrscher“ nur als primus inter pares anerkannte, deren Würde als Führer (princeps) von ihren Fähigkeiten bestimmt worden war. Das „Gottesgnadentum“ bzw. die „Statthalterschaft Christi“ waren nur noch juristische Legitimation weltlicher Machtansprüche.

Die Befreiung des Wirtschaftslebens begann noch zur Blüte des Mittelalters in Norditalien, Flandern und einzelnen deutschen Städten. Mehr und mehr Handwerker ließen sich selbständig nieder, bald schon entstanden eigene Organisationen (Zünfte, Hanse). Vor der Französischen Revolution ist die gesellschaftliche Struktur somit ein Dreiständestaat, durchkreuzt vom theokratisch eingestellten Absolutismus (als „vierter Stand“ kamen hinzu die mehr oder weniger hörigen Bauern und Landarbeiter, Diener und Proletarier). Das Wirtschaftsleben war nur dort frei, wo es nicht einer klerikalen oder feudalen Herrschaft unterstand, beherrschte aber seinerseits wieder das Proletariat. Jedes Gebiet der Pyramide beherrschte noch Teile der unter ihm liegenden Gebiete.

Als der Dreiständestaat völlig auseinanderzufallen drohte, weil gegenüber dem alles zusammenhaltenden Herrscher das theokratische Untertanen-Bewußtsein verschwand, wurden dem Volk archaische Gefühle (Nationalitätsprinzip, „Blut und Boden“ usw.) eingepflanzt und juristisch mit einem theokratischen Hoheitsbegriff untermauert. Die französische Revolution befreite die drei Stände aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den Interessen des „Gemeinwesens“ (vorher hatte der Herrscher die Macht gehabt, in diesem Interesse z.B. Zensur, Vereinsverbote oder Schutz­zölle zu verhängen). Der vierte Stand aber war faktisch nicht mit befreit. Die Proletarier hatten tatsächlich „nichts zu verlieren als ihre Ketten“.

Ein frei gewordenes Ich könnte seine Persönlichkeit in jeden der drei Bereiche schicken, an denen es nach eigenem Ermessen teilnimmt. Bis heute entwickelte sich jedoch ein Staatsmonopol in fast allen Bereichen, und in der modernen Technokratie ist der Staatsbürger ebenso in das Gemeinwesen eingereiht wie einst die Untertanen der Theokratie.

Auf Mesoebene kann man die verschiedenen Entwicklungsstadien wiederfinden. Am deutlichsten heben sich die theokratischen Strukturen hervor: In einer Werkstatt entscheidet der Meister bzw. ist in allem die oberste Instanz. In anderen Institutionen (Parteien, Vereine etc.) gibt es ebenso die „großen Männer“, gegenüber denen alle anderen nichts zu sagen haben. Zugleich wird die Theokratie vom Rest der Pyramide als solche anerkannt (heute natürlich nie mehr uneingeschränkt). Parteien gehören also nur scheinbar zur Makroebene, in Wirklichkeit entscheidet ein kleiner Kreis über alle Fragen, vor Wahlen sind die Abgeordneten schon bestimmt usw. (Mesoebene). In der Behörde ist der Minister verantwortlich bis zum letzten Angestellten. Umgekehrt ist für jeden anderen jeder eigene Entschluß ein Risiko, da der Vorgesetzte nicht einverstanden sein könnte. Solche Strukturen gehen bis hinunter zum Kaffekränzchen („Frau Doktor sieht das nicht gern“). Im Geistesleben regieren Ärzte ihr Therapeutikum, Künstler oder Rektoren ihre Schule wie ein Priesterkönig – und sind anerkannt! In Vereinen entscheidet der Vorstand meist alles Wichtige, man fragt meist nur noch, ob jemand gegen den jeweiligen Vorschlag sei.

Im Wirtschaftsleben, das ja das eigentliche theokratische Zeitalter nicht miterlebt hat, herrscht die „griechische“ Linien-Stab-Organisation vor, d.h. mehr oder weniger unabhängige Gremien beraten die Verantwortlichen. Im Rechts- und Geistesleben entartet diese Struktur meist zum reinen Alibi, zur Vereinnahmung des Geisteslebens (Schein-Beteiligung von NGOs etc.). Teilweise dienen „Kommissionen“ sogar der willkommenen Abschiebung akuter Probleme. Gegen echte Räte widersetzt sich die Hierarchie hartnäckig (nur wiederum auf „wirtschaftlichem“ Gebiet läßt man ab und zu ganze Abteilungen von Behörden von einer unabhängigen Organisationsfachberatung auf ihre Zweckmäßigkeit durchkämmen).

Im Geistesleben ist die griechische Struktur sehr labil. Entweder umgeben sich die Spitzen nur mit Gleichgesinnten, oder man gibt sogar Verantwortlichkeiten ab (damit ist man schon „römisch“). In Krankenhäusern haben Ärzte auf ihrem Fachgebiet (natürlich) unmittelbar Entscheidungsgewalt, sobald sie dieses aber verlassen, entsteht ein Konflikt z.B. mit dem Vorstand. – Ein freies Rechtsleben, d.h. römische Verhältnisse, gibt es heute kaum: Wo haben die Mitarbeiter wirklich eigene Rechte, wo gibt es Schiedsstellen mit Richtern des persönlichen Vertrauens? Die staatlichen Gesetze in ihrer makrosozialen Abstraktion werden den wirklichen Bedürfnissen selten gerecht. Institutionen haben eine immanente Tendenz zu wachsen und ein Machtgleichgewicht (die Waage als Symbol des Rechts!) zwischen „Institution“ und Mitarbeiter zu verhindern.

Das feudale Muster des Mittelalters finden wir ebenfalls in Vereinen und größeren Institutionen. Die „Feudalherren“ bekommen Bewunderung und Schützenhilfe und haben die Pflicht, für die Interessen ihrer Anhänger einzutreten. Den Ständestaat findet man in diversen experimentellen Strukturen, etwa als dreigegliederte Direktion von Konzernen, wobei in der Praxis dann doch der Kommerz die Führung übernimmt. In den Regierungen trennen sich die Ministerien meist in einen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, auch hier sind andere Minister (Innen, Außen) letztlich übergeordnet. Auch in den anthroposophischen Einrichtungen gibt es in der Regel höchstens einen „Ständestaat“, der letztlich doch irgendwie von einem vierten Organ im Ernstfall theokratisch geleitet wird.

Obwohl die Befreiung des Individuums noch lange nicht erreicht ist, kündigt sich schon die nächste Stufe an. Die Befreiung aus den Verbänden ist ein Vorspiel. Das Gesetz ist danach zwar erfüllt. Aber aus der Freiheit heraus ist nun der Entschluß der Liebe möglich: sich zum Dienst für den anderen zu entscheiden, die Not des Menschenbruders wie die eigene zu empfinden.

Hinter dem soziologischen Grundgesetz verbirgt sich manichäisches Christentum. Die Alternative besteht darin, der luziferischen Versuchung zu erliegen und den Menschenbruder im Stich zu lassen. Mit der auf sich gestellten Persönlichkeit eröffnet sich aber das Streben, sich des eigenen Ich in seiner wahren Gestalt bewußt zu werden. In dieser spielt nun der Andere eine entscheidende Rolle: „Jeden Mißklang zwischen sich und einem anderen fühlt er als Ergebnis eines noch nicht völlig erwachten Selbst.“ (GA7, S. 37). Ohne die geeigneten Institutionen, die diesen Mißklang harmonisieren können, wird die Kluft zwischen Veranlagung und gesellschaftlicher Wirklichkeit immer breiter, und es ergibt sich das soziale Chaos.

Was aus der Befreiung des Individuums in der Zukunft entstehen wird, ist aufgrund der dann gegebenen Freiheit nicht planbar oder voraussehbar. „Jede nach irgendwelchen Prinzipien in ihrem Wesen vorherbestimmte Organisation muß notwendig die volle freie Entwicklung des Individuums unterdrücken, um sich als Gesamtorganismus durchzusetzen.“ (GA 30, S. 259).

Das Soziale Hauptgesetz

„Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“ (GA 34, S. 213).


Steiner erläutert: „Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. – Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit solch einer Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz (...) In der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann (...) Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.“ (GA 34, S. 213). 

Warten auf sozialere Zeiten hat gar keinen Sinn, denn: „Wer für sich arbeitet, muß allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden.“ (S. 214).

„Die Menschenwohlfahrt ist umso größer, je geringer der Egoismus ist“ (ebd.). Die klassische Ökonomie behauptet genau das Gegenteil! Die Unternehmensführungen behalten den Großteil des Gewinns gerade für sich, die Arbeiter bekommen eine Abfindung, „Lohn“ genannt. Der Staat zweigt zwangsweise Steuern ab, um für all das zu sorgen, was sonst keiner übernimmt: Ordnung, Straßen etc., ohne die die Gesamtheit sofort zerfiele.

Ein Mensch kann nur dann wirklich für die Gesamtheit arbeiten, wenn sie von einem wirklichen Geist erfüllt ist, an dem ein jeder Anteil nimmt. „Sie muß so sein, daß ein jeder sich sagt: Sie ist richtig und ich will, daß sie so ist. Die Gesamtheit muß eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muß beitragen wollen, daß diese Mission erfüllt werde.“ (GA 34, S. 215). Statt im Produkt seiner Arbeit muss der Mensch heute den Impuls zu seiner Tätigkeit in der Liebe für seine Mitmenschen finden (GA 56, S. 246). Tatsächlich aber ist der Mitmensch heute in weite Ferne gerückt und bleibt abstrakt-anonym.

Im Versorgungsstaat mit seiner Form der Trennung von Arbeit und Einkommen manifestiert sich eher ein dunkles Gegenbild. Wer arbeitet, tut dies mehr denn je zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Wer nicht arbeitet, will zum Teil einfach nicht (was wiederum die Arbeitenden erbittert), wenn aber andere Arbeit freiwillig geleistet wird, wird dies u.U. sogar mit Entzug des Sozialgeldes bestraft. Die furchtbarsten Maßnahmen werden oft in bester Absicht beschlossen. Das heutige Prinzip der Sozialversicherung belohnt Schlauheit, ist für die eigentlich Betroffenen entwürdigend und halst den Unternehmen zunehmend arbeitsunwillige Menschen auf.

„Es kommt darauf an, daß jeder einzelne in voller Freiheit imstande ist, dieses Prinzip [die Trennung von Arbeit und Einkommen] zu respektieren und in das Leben umzusetzen“ (GA54, S. 100). Niemand kann aber zur Arbeit, zu sozialem Handeln usw. gezwungen werden. Steiner nennt den Freiheitsfaktor den Fundamentalbegriff des sozialen Lebens (GA73, S. 178). Jeder kann auch seine Arbeit statt als Mittel zum Verdienst als Dienstleistung für den Mitmenschen durchführen (dann erst wird z.B. das Wort „Raumpflegerin“ von einem abscheulichen Euphemismus zum wirklichen Begriff). Die Mesoebene ist der Bereich, wo die Menschen ihre sozialen Verhältnisse bis in die Struktur hinein noch in gewissem Maße selber regeln können. Nur auf Mesoebene ist heute jene geistige Mission denkbar, zu deren Erfüllung „jeder einzelne“ beitragen will, weil die Gesamtheit nicht im Anonymen verschwindet.

Dennoch ist jeder kleine Ansatz wertvoll: „Wo immer dieses Gesetz in Erscheinung tritt, wo immer jemand in seinem Sinne wirkt, so weit es ihm möglich ist (...): da wird Gutes erzielt, und wenn es im einzelnen Fall auch in einem noch so geringen Maße der Fall ist. Und nur aus Einzelwirkungen, welche auf solche Art zustandekommen, setzt sich ein heilsamer sozialer Gesamtfortschritt zusammen.“ (GA 34, S. 218).

Das soziale Urphänomen

„Wenn Mensch dem Menschen gegenübersteht, (ist) der eine Mensch immer einzuschläfern bemüht, und (will) der andere Mensch sich immerfort aufrecht erhalten.“ (GA 186, S. 175).


Wenn man z.B. von einem Vortrag „hingerissen“ ist, schläft man mehr oder weniger ein, und der Inhalt rutscht direkt ins Unterbewußtsein, so daß man ihn nachher gar nicht wiedergeben kann. Am 10.11.1919 sagt Steiner über die Art des Einschläferns, die „man das soziale Prinzip, den sozialen Impuls der neueren Zeit nennen kann“: „Wir müssen uns hinüberleben in den anderen; wir müssen seelisch in dem anderen aufgehen“ (GA 329, S. 297). Wir sind nur im Schlaf sozial bzw. dann, wenn wir etwas in unser Tagesbewußtsein herüberretten. Steiner beschreibt den Vorgang des „Hineinschlafens“ und wieder Aufwachens ausführlich in GA 186 (S. 90ff). 

Um einen anderen Menschen wahrhaft zu verstehen, muß ich mein Selbstbewußtsein aufgeben, damit der andere mich dank meines Opfers mit seinem Wesen erfüllen kann. In diesem Moment bin ich wirklich sozial und nehme die Individualität des anderen wahr, bis ich ihn mit Hilfe meines asozialen Triebes wieder „hinauswerfe“ und wiederum zu mir selbst aufwache. Wie kann der Mensch nun lernen, aus dem sozialen Schlaf etwas in die Wachheit herübernehmen? Die nötigen Fähigkeiten, die hier geübt und entwickelt werden müssen, sind: Interesse, zuhören können, Verstehen von innen heraus (von Herz zu Herz), Geistesgegenwart, Objektivität. Es muß zur „sozialen Gewohnheit“ werden, den anderen zu respektieren, ihn aussprechen zu lassen, nicht ungefragt Kritik zu üben, selbst nicht länger zu reden als notwendig und so weiter. Denken und Wollen können allein in der Meditation geübt werden, der Herzensweg des Sozialimpuls wird nur in der alltäglichen Begegnung geübt.

Im leider normalen Gespräch versteht man nie wirklich, was der andere meint, sondern denkt immer nur von sich aus; nur Worte, die Gedankenassoziationen erregen, dringen ein, die „Antwort“ ist ein Gedankengang, der wenig mit dem Geäußerten zu tun hat. Ein weiterer Aspekt sind intellektuelle („akademische“) Debatten. Ein anderer Fall ist, daß man vor allem aufgrund von Sympathie und Antipathie (jeweils verstärkt) reagiert.

Das soziale Urphänomen enthält die Frage, inwiefern es zulässig ist, den anderen einzuschläfern und zu erfüllen. Die Unverletzlichkeit der Leiblichkeit gehört zu den grundlegenden Menschenrechten, im Seelischen ist dies aber ebenso entscheidend. „Die Tatsache, daß du irgendeine Wahrheit erkannt hast, oder daß du von ihr überzeugt bist, darf für dich kein Grund sein, diese Wahrheit anderen Menschen aufzudrängen. Du sollst sie nur jenen mitteilen, die in rechtem Sinne und in völliger Freiheit sie von dir verlangen dürfen.“ (GA 34, S. 284). Der Einschlafende gibt dem anderen Gelegenheit, asozial zu sein (sich auszudehnen); dieser darf dies im Grunde nur, wenn das Geschenk ganz frei gegeben wurde, und er muß dem Eingeschläferten Gelegenheit geben, wieder aufzuwachen (d.h. antisozial bzw. ob-jektiv zu werden). Das freie Einschlafen ist ein Liebesopfer: Nicht ich, sondern der andere in mir.

Das soziale Urphänomen ist die Richtlinie des Rechtslebens, indem wir in ihm die Grundlage alles Sozialen erfassen. Daher ist es zugleich auch im Wirtschafts- und Geistesleben die soziale Kraft. Im Rechtsleben ist es aber nicht nur treibende Kraft, sondern direkte Verwirklichung dieser Sphäre: Im intuitiven Rechtsempfinden prägt das Gewahrwerden des anderen unmittelbar die Antwort auf die Frage, was ihm gebührt. Auf Meso- und Makroebene muß sich das Prinzip bis in die Struktur und Form (Gesetz) hinein inkarnieren.

Die Dreigliederung des sozialen Organismus oder die zeitgemäße Form

Elementar gesagt beinhaltet die Dreigliederung die Autonomie von Wirtschafts-, Rechts- und Geistesleben. Sie soll verhindern, daß die anti- und asozialen Kräfte aus dem Wirtschafts- und Geistesleben auf andere gesellschaftliche Gebiete übergreifen, indem sie zwischen jene ein eigenes, regelndes Gebiet schiebt. Der Gedanke der Dreigliederung ist ein Ordnungsprinzip ohne inhaltliche Bestimmung. Als solches hat er aber für das gesamtgesellschaftliche Leben dieselbe existentielle Bedeutung wie das Verfahrensrecht für das Rechtsleben. Dieses verhilft einem zu dem Recht, was einem zusteht, die Dreigliederung kann das, was an sozialer Initiative da ist, fruchtbar machen. Was man inhaltlich zu ihr sagen kann, kann höchstens als Beispiel gelten.

In der mittleren Sphäre des Rechtslebens kann sich das Prinzip der Gleichheit aller Menschen verwirklichen. Vollkommen gleichberechtigt sucht man hier gemeinsam Antworten auf die Frage, was recht ist. Das Rechts­leben hat nun die Aufgabe, den antisozialen Trieb auf das Gebiet des persönlichen Konsums einzuschränken. Dann könnte sich im Wirtschaftsleben das Prinzip der Brüderlichkeit enfalten.

Die Wirtschaft müßte eine solche Ordnung bekommen, daß ihr die Instrumente entnommen werden, durch die sie ausbeutend werden kann: der Privatbesitz an Grund und Boden sowie an Kapital, der Warencharakter der Arbeit. Die Erdoberfläche ist ein Geschenk aus der Vergangenheit für die ganze Menschheit. Sie konnte nur durch Okkupation und Usurpation in private Hände übergehen und zu künstlichen Rechtstiteln Anlaß geben. Das Un-Recht des Privateigentums an allen natürlichen Reichtümern wird rückgängig gemacht, wenn diese wieder in die Hände der wirtschaftenden Gemeinschaft übergehen, die unter Auflagen Nutzungsrechte zu vergeben hat.

Kapital ist die Frucht von angewandten geistigen Fähigkeiten: der mittels Maschinen und Betriebsorganisation ermöglichte Überschuß. Der eigentlich Berechtigte ist das Geistesleben als Ganzes. Kapital muß sich ebenfalls in Nutzungsrechte für begabte Produzenten verwandeln. Der Verkauf von Arbeitskraft ist ein Rest von Sklaventum; erst durch die Trennung von Arbeit und Einkommen kann die Einkommens- zu einer Rechtsfrage werden (was gebührt mir im Verhältnis zu meinem Mitmenschen). Mit diesen Änderungen wird schließlich auch das Geld jeden Rechtscharakter verlieren.

Das Rechtsleben muß weiterhin dafür sorgen, daß der asoziale Trieb sich nur in der Selbstverwirklichung ausleben kann. Dann könnte sich im Geistesleben das Prinzip der Freiheit entfalten. Der einzelne Mensch ist hierbei frei in der Richtung seines Erkenntnisstrebens; in diesem selbst ist er jeweils eigentlich nicht frei: Eine Wahrheit kann nicht beliebig gestaltet werden, sondern die Winkelsumme in einem Dreieck z.B. ist unveränderlich vorgegeben. Überzeugungen können nicht beliebig gewechselt werden, sondern werden vielmehr i.a. heftig behauptet. Man kann von seiner eigenen Meinung geradezu besessen sein. Deswegen bedeutet Freiheit im Geistesleben immer zuallererst die Freiheit des Andersdenkenden. Während dem Wirtschaftsleben vor allem angemaßte Rechte zu nehmen sind, ist das Geistesleben mit neuen Rechten zu schützen.

Das soziale Urphänomen offenbart sich im Pendelschlag zwischen fortschreitender Individualisierung (Geistesleben, soziologisches Grundgesetz) und zunehmender, freier Zusammenarbeit der Menschen (Wirtschaftsleben, soziales Hauptgesetz). Die Frage ist: Wie viele der freigekommenen Persönlichkeitskräfte können in soziale Aufbaukräfte umgesetzt werden? Überall müssen die konkreten Formen ein gleichberechtigtes Nebeneinander ermöglichen, d.h. für materielle Gleichheit der Lebensbedingungen sorgen. Diese ist nicht da, wenn sich nur einige Menschen z.B. Informationsraum (Werbung) kaufen können; wenn nur bestimmte Schulabschlüsse Rechte gewähren; aber auch nicht, wenn höhere Schulen jeden Absolventen aufnehmen müßten.

Die Ordnung einer Sache muß jeweils dahin verlegt werden, wo man sofort im Sinne der Sache reagieren kann. Die drei Glieder müssen also jeweils eine eigene Gesetzgebung und Verwaltung bekommen und dem Staat nur die Kontrolle überlassen, ob man sich noch innerhalb der dreigliedrigen Struktur bewegt.

Erst die auf ihre eigenen Füße gestellten Glieder des Gesamtorganismus können das leisten, wozu sie ihrem Wesen nach fähig sind: eine wirtschaftlichere Art von Bedürfnisbefriedigung, ein Aufblühen der Begabungen, ein Konkretwerden der Rechtsgefühle in Gesetzgebung und Ausführung.

Über den Inhalt dessen, was dann innerhalb der Glieder entsteht, sagt Dreigliederung nichts aus. In Zukunftsmodellen denken, die inhaltlich erfüllt sind, ist Utopie. Eine Entwicklung vorwegnehmen, die sich über die konkreten Menschen hinwegsetzt, indem sie Zukünftiges als strukturbedingt-notwendig annimmt, ist Marxismus. Dreigliederung ist praktizierte Freiheit. Sie ermöglicht nur, daß der Impuls des sozialen Urphänomens in das Gesellschaftsleben einschlagen und daß den beiden Gesetzen Rechnung getragen werden kann.

Dreigliederung als Ordnungsprinzip ist für jeden vorurteilsfreien Menschen nicht nur verständlich, sondern evident (jeder Mensch will sich selber frei entwickeln; ist daran interessiert, die knappen Ressourcen brüderlich zu verteilen; fordert in seinem Rechtsempfinden, daß in Rechtsfragen jedes Menschen Stimme gleich zählt). Dreigliederung führt nicht ins Paradies, sie will und kann auch keine äußeren Einrichtungen gestalten, die durch sich selbst den Menschen ein sozial befriedigendes Leben ermöglichen (GA 24, S. 70), sondern sie gibt den Rahmen, „solche Einrichtungen zu treffen, innerhalb welcher die Menschen wirklich soziale Triebe entwickeln“ (GA 191, S. 46). Sie gibt die Antwort auf die Frage: „Wie müssen die Menschen sozial organisiert sein, damit sie in diesem Zusammenleben die richtigen sozialen Impulse finden?“ (GA 330, S. 48).

Die antisozialen Impulse der Ausbeutung haben ihre Rechtsform schon gefunden: den Kapitalismus; die sozialen Impulse ringen noch darum - im Hintergrund die dritte Forderung der französischen Revolution: Brüderlichkeit. Innerhalb der Dreigliederung kann der anthroposophische Sozialimpuls zu seinem Recht kommen – wie jeder andere auch.

Das Zusammenwirken der vier Elemente des anthroposophischen Sozialimpulses

Der Dreigliederung Inhalt verleihen, erfordert das Einnehmen eines Standpunktes. Wenn dieser der anthroposophische Sozialimpuls als solcher ist, geht es um die Frage, wie dem Zusammenhang der vier Prinzipien in einer zeitgerechten Weise Ausdruck verliehen werden kann. Das Ordnungsprinzip der Dreigliederung gliedert den sozialen Organismus. Die Kraft des sozialen Urphänomens kann alle drei Bereiche durchziehen. In den aus mitgebrachten Begabungen entstehenden irdischen Fähigkeiten lebt Luzifer (asozial), in den Bedürfnissen Ahriman (antisozial). Wir können nun unser Denken aus Willenskräften heraus durchchristen und uns den Gedanken anderer öffnen, der Entwicklung anderer dienen (damit hängt die Rückgabe der Intelligenz an Michael zusammen). Dies ist „eine innere Brüderlichkeit, eine solche der Gedanken, von der alle äußere das Abbild sein muß“ (GA 34, S. 179). Auf der anderen Seite können wir den Willen vom Denken aus durchchristen und aus Verantwortlichkeit dem anderen gegenüber für ihn arbeiten.

Bei Trennung von Arbeit und Einkommen hat jeder die Freiheit, dort zu arbeiten, wo es seiner Überzeugung nicht widerspricht. Für die Bedürfnisse des anderen kann wirklich nur der arbeiten, der allein dem Ziel der Produktion frei folgen darf. Auch der „Vorgesetzte“, der Anweisungen gibt, dürfte dies nur als Mittler zum Erreichen des Ziels tun. Wirtschaftliche Entschlüsse müssen aus Fähigkeiten heraus gefaßt werden, deren Anerkennung nur aus freiem Verständnis der Mitarbeiter kommen kann.

Damit hier Ideologie- und Machtgelüste nicht mitwirken können, müßten die Strukturen selbst so sein, daß nur sachgerechte Entscheidungen getroffen werden können. Dies ist in den Assoziationen der Fall, in denen die wirtschaftliche Vernunft aus dem Zusammenfluß der Erfahrungen vieler Beteiligter hervorgeht. Die Assoziationen verhindern eine Produktion gegen die Möglichkeiten und Tätigkeiten anderer Produzenten (horizontal) bzw. die konkreten Bedürfnisse (vertikal).

In der Produktion kann der freie Unternehmer seine Fähigkeiten voll geltend machen (verliert aber heute immer mehr Boden an das Management). Dies gilt auch für die neue Subwirtschaft, alternative Projekte verschiedenster Art. Hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit, das Kapital vom Geistesleben verwalten zu lassen.

Es lassen sich immer teurere Anlagen in Universitäten, Krankenhäusern, Schulen etc. denken, die die kulturellen Aufgaben immer „besser“ erfüllen. Wie muß das Geistesleben gestaltet werden, damit es nicht wie ein Egel das Wirtschaftsleben aussaugt? Die Gesellschaft braucht kein Geistesleben, das wie ein Selbstläufer immer mehr nimmt, als es zu geben vermag. Wirtschafts- und Geistesleben müßten als autonome Körperschaften gemeinsam darüber verhandeln, was aus dem Erlös des Wirtschaftslebens dem Geistesleben zustehen soll. Der Mehrgewinn gehört seiner Herkunft nach nämlich dem Geistesleben (und könnte ihm als Schenkungsgeld ohne staatlich-steuerlichen Umweg wieder zufließen). Umgekehrt will und kann das Wirtschaftsleben das Geistesleben nur tragen, wenn ihm aus dessen Überfluß Ideen und Impulse zugehen. Eine weitere Art von Schenkungsgeld kommt aus dem Opferwillen des einzelnen und betrifft vor allem die Förderung nicht-institutionellen geistigen Schaffens, für das (noch) nicht genügend Interesse besteht (junge Künstler, Erfinder).

Auf Mesoebene gilt: Institutionen haben ein Ziel; wer dies nicht teilt, kann jederzeit wieder austreten. Aber auch eine Institution bräuchte drei Organe, in denen Erfahrungen und Bedürfnisse zusammenfließen, Ideen aufeinanderprallen und Entschlüsse gefällt werden (Rechtsorgan). Erst in letzteres gehört z.B. die Finanzierbarkeit einer Idee, sonst nur ein Totschlagargument. Im Wirtschaftsorgan geht es um Bedürfnisse (z.B. schulfreier Samstag), die nicht mit Argumenten des Geisteslebens ausgehebelt werden dürfen. Im Rechtsorgan verhindert nichts stärker die Beschlußfähigkeit, als wenn noch einmal Ideen und Erfahrungen ausgebreitet werden. All dies kann von einem „Hüter der Regeln“ zurückgewiesen werden, der im Dienste aller die Regeln schützt, die alle bejaht haben.

Die Anomalien des Soziallebens

Die Grundprinzipien der Statik muß heute jeder lernen, auch wenn er nicht Architekt ist. Die Jugendlichen schickt man noch immer ohne eine Ahnung von den sozialen Gesetzmäßigkeiten in die Welt. Wären sie ihnen bekannt, man würde mit den Fingern auf die sozialen „Architekten“ oder besser Kurpfuscher weisen.

Im Wirtschaftsleben heißt es heute auf der Mikroebene: Jeder für sich, der Staat für die letzten. Ein Wirtschaftsleben, in dem sich jeder um seine eigene Sicherheit kümmern muß, macht das Leben immer teurer (jeder muß den Extremfall mit einrechnen). Auch die Ersatzleistungen des Staates (Kindergeld, Wohngeld, Gefängnisse, Polizei) sind sehr viel teurer als offenbar wird, weil die dem Geistesleben zu dankenden technischen Fortschritte den Großteil der Kosten verschleiern.

Die Menschen sind nicht „schlechter“, sondern hilfloser geworden, weil der strukturelle Rückhalt der Verbände (und ihre Bevormundung) weggefallen ist und der moderne Mensch nicht mehr an die sozialen Kräfte in sich glaubt. Wahr ist, daß der Sozialimpuls in uns noch zu schwach ist, um sich ohne strukturelle Stütze halten zu können (man denke an den Trittbrettfahrer und das „Gefangenendilemma“). Unsere Staaten verführen uns immer wieder zu schlechten Lösungen, weil sie uns mit dem Drohbild der schlechtesten erpressen. Fast jede neue „soziale Errungenschaft“ entläßt die Bürger aus einer ihrer sozialen Verantwortungen, d.h. es werden moralische gegen Steuerpflichten eingetauscht. Wir brauchen Strukturen, die das Soziale im Menschen herausfordern, statt es einzuschläfern.

Der Staat ist gewissermaßen der soziale Doppelgänger eines Volkes, gebildet aus allen Defiziten, für die es selbst die Verantwortung nicht übernehmen wollte. Man könnte denken, der Staat trete stellvertretend auf, bis eine Mehrzahl der Menschen selbst soziale Impulse und Strukturen verwirklicht. Aber „der Staat muß, seiner Natur nach, auf Unterdrückung des Individuums ausgehen“ (GA 29, S. 55). Er verschmilzt mit den wirtschaftlichen Machtverhältnissen; wirtschaftliche Interessen schlagen sich in Gesetzen nieder.

Zur Pathologie des anthroposophischen Sozialimpulses

Ein Sichhineinstellen in den anthroposophischen Sozialimpuls kann durchaus zur Folge haben, daß manches fachlich gesehen schlechter gemacht wird als vorher. Es wird öfters sogar darum gehen, „schlecht zu sein mit der schlechten Menschheit, (...) weil eine soziale Ordnung, die überwunden werden muß, den einzelnen eben dazu zwingt, so zu leben.“ (GA 189, S. 72). Der kleinste soziale Impuls ist aber für die Menschheit wertvoller als die perfekte Fachleistung.

Beim Umgang mit den sozialen Gesetzmäßigkeiten liegen die Fehler meist im Zuviel oder Zuwenig. Die Freiheit des einzelnen ist auch durch die Pflichten seiner Tätigkeit beschränkt. Viel öfter aber wird wegen des „Wohles der Einrichtung“ in die Mitarbeiterfreiheit eingegriffen. Vorwürfe dürfen nur bei einer Verletzung einer im Rechtsorgan getroffenen Vereinbarung und nur von dem dazu Beauftragten gemacht werden. Besteht keine auf die Situation zutreffende Vereinbarung, müßte man im Rechtsorgan eine solche vorschlagen. Meist kommt es dagegen als Alternative zum groben Vorwurf zur direkten Äußerung „naiver“ Verwunderung bzw. süßlicher Fragen („Nanu, sie rauchen?“).

Demokratisches Abstimmen stößt meist auf strikte Ablehnung. Man zitiert etwa Steiner: „Die Persönlichkeit hört auf in dem Augenblicke, wo aus dem Wollen die Abstimmung wird“ (GA 185, S. 69). Tatsächlich ist ja dieses Sichfügen ein Todesprozeß, aber dies gehört zum Wesen des Rechts. Die Alternative wäre das Erzielen von Einigkeit. Mit der Stimme wird auch Verantwortung übernommen, und keiner kann sich hinterher herausreden.

Das vielbeschworene republikanische Prinzip bedeutet nicht, daß (selbst)berufene Einzelne willkürlich die Geschicke der Institution lenken. Es setzt ein, wenn per Abstimmung eine Aufgabe delegiert wird, und besagt unter dieser Voraussetzung, daß die Institution dann dem einzelnen auch die Freiheit läßt, die Aufgabe zu vollbringen, und sich nicht wieder ungebeten in die Art und Weise einmischt. Das republikanische Prinzip sollte ein eisernes Gesetz sein. Und doch meldet sich sofort immer das Gefühl, man könnte bestimmte Dinge besser als der andere.

Wenn ein Verstoß gegen beschlossene Regeln bemerkt wird, ist nicht der einzelne berufen, den mutmaßlichen Täter zur Rede zu stellen, sondern kann sich an den Rechtsdelegierten bzw. den Vorsitzenden des Rechtsorgans wenden. Die persönliche Rüge aus Verantwortungsgefühl am falschen Platze macht die zwischenmenschlichen Verhältnisse radikal kaputt (man denke auch daran, daß etwa ein willkürlicher Bürger die Geschwindigkeitsübertretung rügt).

Schädlich ist auch Formfanatismus, der bei der Aufstellung von Regeln alle Eventualitäten berücksichtigen möchte, anstelle zunächst nur die Struktur zu regeln und Formen erst zu verdichten, wenn Probleme auf einen zukommen. Je mehr geregelt wird, um so mehr muß man sich stoßen und wächst die Verführung, sich über gemeinsam Beschlossenes hinwegzusetzen. Wir können schlichtweg nie alle Doppelgänger vollständig mit Verabredungen und Regeln festnageln; Menschen müssen auf dem Weg des „inneren Rechtes“ einander in ihrem Unvermögen mittragen und die Unvermögen der anderen als ihre eigenen sehen wollen.

Ein Problem ist die Übertreibung des sozialen Hauptgesetzes, was zur Selbstausbeutung und Ausnutzung anderer „um der Sache willen“ führt. Weiterhin fürchtet man meist die Folgen der Trennung von Arbeit und Einkommen. Man betrachtet statt des Seelenlebens den Geldstrom als diskrete Angelegenheit. Das Hauptgesetz fordert aber radikale Offenheit, es fordert von jedem, zu akzeptieren, was die Gemeinschaft ihm aus dem gemeinsam Erwirtschafteten geben will.

Der Mangel an sozialen Fähigkeiten ist es ja gerade, der die Dreigliederung fordert. Wie lernt man sozial zu werden? Unter Erwachsenen gilt das Prinzip der Selbsterziehung, alles andere ist asoziale Beeinflussung. Sozial ist es nur, dem Mitmenschen bei dem zu helfen, was er selber will. Jeder „gute Rat“ wirkt dem Sozialen entgegen und zeugt selber von sozialem Unvermögen. Für einen freien Geist ist sie überflüssig (weil er aus sich tut, was ihm möglich ist), den noch unfreien hinterläßt sie verletzt und/oder trotzig. Nur ein Erziehungsmittel ist nicht asozial: gemeinsame Regeln, die zur Form erstarrte, verobjektivierte Struktur. In ihr begegnen wir uns selbst wieder, weil wir sie bejaht haben. Wie der Tastsinn uns die innerliche Ich-Wahrnehmung verschafft, so können wir an den institutionellen Formen sozial erwachen. Stattdessen setzt man sich oft leichtfertig über Regeln und Gesetze hinweg (notwendig wäre dies im Geistes- und Wirtschaftsleben!). „Im menschlichen Zusammenleben ist dem Luzifer nichts so sehr verhaßt, als alles das, was irgendwie nach Gesetz riecht.“ (GA 184, S. 169).

Wo man eines der vier Prinzipien übertreibt, leidet das gegenüberliegende: Hauptgesetz bzw. Grundgesetz, Urphänomen bzw. Ordnungsprinzip. Die schönste Dreigliederung hilft nicht, wenn aus dem Liebesquell keine neuen Impulse mehr fließen; die tiefsten Impulse strömen ins Leere, wenn sie keine Form auffangen kann. Was hilft es, für den Mitmenschen zu arbeiten, wenn ich ihn in seiner Selbständigkeit nicht respektiere? Was hilft Respekt, wenn ich ihn verhungern lasse?

Statt eines Schlußwortes

Wie kommt es, daß der Sozialimpuls innerhalb der anthroposophischen Bewegung ein Winkeldasein führt? Daß so wenige sich mit ihm beschäftigen und manche ihn geradezu ablehnen? Zu gern bleibt man bei der Theorie des Makrosozialen stehen und geht nicht in die Praxis des Mesosozialen. Der anthroposophische Sozialimpuls ist aber der christliche Impuls für unsere Zeit. Dreigliederung ist keine Idee, sie ist ein Impuls. Und zwar ein manichäischer: Das Soziale nimmt auch das Böse in sich herein.

Durch die Dreigliederung und den in ihr wirkenden Sozialimpuls lernt der Mensch, die Gedanken des anderen mitdenken, im Rechtsleben die Gleichheit der Menschen erleben und im Wirtschaftsleben aus den Bedürfnissen des anderen heraus arbeiten. Der Sozialimpuls ist der Christus-Impuls unserer Zeit und das Herz der Anthroposophie.