15.03.2011

Peter Fox und die Zartheit einer Pflaumenblüte

Eine kleine Geschichte als Erwiderung auf die heutige Popwelt. 


Professor Klang war in seinem Element. Als Vorsitzender der Gesellschaft zur Rettung des Ohres e.V., kurz GZRDO genannt, war er den Quellen der Klangverödung auf der Spur und plante neue Aktionen. Leider hatte die GZRDO nicht die erforderliche Zahl an Gründungsmitgliedern gehabt und bewegte sich somit am Rande der Illegalität. Genau genommen war er ihr einziges Mitglied – aber das störte ihn nicht. Seine Freunde nannten ihn Professor GZ. Solange man das nicht mit der GEZ verwechselte, war es ihm recht.

Neulich hatte er ein Mädchen kennengelernt, das so wunderbar schreiben konnte, dass er ihr spontan vorgeschlagen hatte, eine Gesellschaft zur Rettung der schönen Sprache zu gründen. Sie hatte ihn angeschaut und lachend abgelehnt. Und dann hatte sie ihm versprochen, ihm noch eine Geschichte zu schicken.

Dies war sein einziger Lichtblick in diesen dunklen – draußen dunklen, aber vor allem in der Musikwelt dunklen – Tagen. Nein, es gab noch einen: Ihr Name. Er war so wohlklingend, dass die Welt nicht mehr schlecht sein konnte, wenn man an ihn dachte. Leider schien man ihm dies aber unmittelbar anzusehen, denn seine Haushälterin hatte ihn gestern so verdächtig angeschaut, und so dachte er fortan nur noch an Das-Mädchen-mit-dem-streng-geheimen-Namen... Bis sie ihm ihre Geschichte schicken würde, hatte er schwere Zeiten vor sich. Kein Trost, nur Trübnis.

Die GZRDO musste endlich einen durchschlagenden Erfolg erzielen. Die Welt ging sonst ihrem Untergang entgegen – oder besser gesagt: Die Ohren und die Welt mit ihnen. Welche Aktion konnte er durchführen? Ein Attentat auf Peter Fox? Ihn mit klebrig-gelbem Fliegenfängerband umwickeln und vor dem MTV-Sender in New York an eine Straßenlaterne fesseln? Dort müsste er dann dem Gesumme der angezogenen Insekten zuhören, was noch immer besser war als seine eigenen Sprachverbrechen... Das wäre eine Story! Die GZRDO und ihr Anliegen wären mit einem Mal in aller Munde! Aber, er schüttelte den Kopf, es war leider nicht sein Stil... Dafür war er einfach zu gutmütig.

Oder Hannah Montana auf dem Broadway in Manhattan in einen goldenen Käfig sperren und sie zwingen, eine Endlosschleife ihrer eigenen Musik anzuhören? Nein, grausam, grausam! So etwas würde er seinem ärgsten Feind nicht antun.

Aber warum nur wurde die Welt mit diesem ekelhaften Einheitsbrei aus schlechtem Geschmack überzogen? TINA? Das war oft die Antwort auf schwierigste Fragen. TINA bedeutete: There is no alternative... Gab es keine Alternative? Doch – er kannte Hunderttausende. Aber Hunderttausende von Menschen kannten keine einzige.

Es war die Kohle. Mit Millionen wurden die Stars und Sternchen hochgepuscht und auf den Markt gebracht. Super gestylt, super angezogen, super geschminkt, beleuchtet, jede Bewegung eintrainiert, immer lachen, super erfolgreich, coole Texte und irgendeine nette Variation des all-bekannten Rhythmus, dem heute schon die Babys nicht entgehen konnten. Und dann: Single-Charts, Aufkleber, Fangruppen, Autogrammstunden, „Bravo“-, „Mädchen“-, „Wendy“-Berichte, Blogs im Internet usw. usf.

Es war für die Veranstalter eine Erfolgsstory – Profit pur. Die „Musik“-Industrie steckte Millionen in jeden einzelnen fabrizierten „Superstar“ – und sie nahm mit ihm Dutzende von Millionen ein.

Diese kleinen Sternchen waren selbst bemitleidenswerte Opfer einer seelenlosen Maschinerie. Wer will kein Star sein? Aber nach wenigen Jahren ist man kaputt. Berühmt und am Ende. Als ob man nie gelebt hätte. Und die ganzen kleinen und großen Fans, die sich die „Musik“ täglich ins Ohr stecken? Sie sehen beim Hören diese hochgestylte Erfolgsmarke vor sich – und nicht den armseligen Menschen, der hinter der Bühne auf den Super-Stress und die Fans schimpft, der es vielleicht irgendwann ohne Drogen gar nicht mehr aushalten kann... Würden sie die Musik noch genauso gern hören, wenn sie vor ihrem inneren Auge nicht den strahlenden Star sähen, sondern das müde Sternchen? Mit tiefen, dunklen Augenringen am Morgen, und einem hohlen, verzweifelten, einsamen Herzen?

Immer wieder dachte er: Man muss doch hören, wie hässlich, wie gewöhnlich diese Musik ist? Aber er wusste, dass selbst das Hässliche noch faszinierte. Grober, großer Erfolg übt eine Faszination aus: Sogar der erfolgreiche kalte Manager im Nadelstreifenanzug. Sogar Angela Merkel. Sogar Bayern München. Wie das Kaninchen auf die Schlange, so starrt man auf das, was Erfolg hat, was glänzt und strahlt, was einem von allen Plakaten und aus allen Lautsprechern entgegentönt. Platz eins! Man nimmt es hin und wird ein „Fan“. Wie armselig! Welche Gehirnwäsche! Welche tägliche Ohrenwäsche! Kannte die menschliche Seele keine wirkliche Schönheit mehr?

Nein, dies war das Tragischste: Wenn man sich an das Hässliche gewöhnt, erscheint einem das Schöne als langweilig, gewöhnlich oder geradezu peinlich. Peter Fox und ein Sonnenaufgang passen einfach nicht zusammen. Das eine würde das andere zerstören. „Es kann nur einen geben...“ – und wofür entscheidet sich die Masse? Für Peter Fox & Co...

Und Das-Mädchen-mit-dem-streng-geheimen-Namen? Würde sie jemals Peter Fox hören? Nein, das war ganz undenkbar. Sie würde die Qualitäten sehr tief empfinden können. Sie würde sich schaudernd abwenden... Aber andere junge Menschen?

Er dachte plötzlich an das abendliche Zirpen einer Grille. Welcher Mensch würde heute noch vor einer ganzen inneren Welt stehen, wenn er ein solches stilles Zirpen hörte? Vielleicht vor der großen, weiten Welt der menschlichen Einsamkeit? Oder vor dem gewaltigen Erlebnis von Stille? Oder der Erinnerung an das Mädchen oder den Jungen im Schlafsack nebenan, in den man sich während dieses einen Zeltlagers so unsterblich verliebt hatte? Welcher Mensch würde das Zirpen der Grille heutzutage nicht einfach nur völlig überhören?

Während er an diesem dunklen Februarabend die Straße entlangging, begann plötzlich leise, Schnee zu fallen. Er blieb stehen und schaute im Schein einer Straßenlaterne nach oben. Zarte Flocken sanken zeitlos zur Erde nieder, zergingen auf seinem Gesicht... Himmelsboten von vollkommener Schönheit, in ihrer Gestalt und auch in ihrem Rhythmus. So musste Musik sein! Heute aber war die Popmusik nichts anderes als ein billiger, oft brutaler Hagel. Oder ein verwässerter Abklatsch von längst bekannten Melodien. So wie der ekelhafte nasse Nieselregen bei Tauwetter. Dagegen gab es wiederum auch sehr feinen, edlen Nieselregen. Sagenumwoben war jener Regen zur Zeit der Pflaumenblüte in Japan...

Ach, wie gut konnte er es verstehen, wenn man sich auch einmal mitten in einen kräftigen Hagel stellte! Alles hatte seine Zeit. Aber doch nicht tagtäglich sich behageln lassen! Was konnte man gegen den Terror der Einheitspopmusik tun? GZ seufzte. Wie sehr wünschte er den jungen Menschen das nötige Unterscheidungsvermögen. Sie hatten doch Empfindung! Wenn diese Empfindungsfähigkeit nur wachsen und blühen könnte und ihre Blüte dem Hagel standhalten könnte – anders als die vergänglichen Pflaumenblüten...

Man durfte sich nicht nur berieseln lassen, nicht nur das „Leben“ spüren wollen, man musste das Seelenvolle suchen, das Schöne, das Romantische. Sonst würde die eigene Seele niemals wirklich aufblühen können.

Sah man bei diesen ganzen Stars und Sternchen irgendetwas von Seele? Nein, man sah Styling, Show, Starallüren, Skandale, Sex und Storys. Mehr nicht. Sonst nur Leere, Hüllenhaftes, Austauschbares. Eine Mode folgte der nächsten. Nummer-1-Hits und dann wieder vergessen. In dieser Welt gab es nichts von Belang, nichts, was wirklich Interesse, liebevolles, seelisches Interesse verdiente. Eine einzige Geschichte des Mädchens-mit-dem-streng-geheimen-Namen enthielt mehr Seele als alle Nummer-1-Hits eines ganzen Jahres!

Wenn die jungen Menschen sich nur ihrer eigenen Seele und ihrer eigenen Sehnsucht bewusst werden würden! Dann würden sie das wahrhaft Menschliche finden, was sie wirklich suchen. Dann würden sie sich nicht mit etwas Geringerem abspeisen lassen...

Dann hätte auch seine gefahrvolle Mission der GZRDO ihre Aufgabe erfüllt, sogar ganz ohne spektakuläre Aktionen. Peter Fox würde weiterquatschen für alle, die darauf nicht verzichten konnten, das gelbe Fliegenband würde sinnvolleren Zwecken dienen. Während er die Haustür aufschloss, freute er sich auf die nächste Geschichte des Mädchens mit dem schönen Namen und lächelte. Seine Haushälterin sah es und lächelte auch...