02.11.2010

Von schwarzer Pädagogik und mangelnder Ehrfurcht

Ein verhärteter „Anthroposoph“, der ohne jedes Lächeln beim Adventsbasar einer Waldorfschule das Kerzenziehen betreute... Eine Waldorflehrerin, die ausdrücklich den Standpunkt vertrat, dass die Kinder alle „krank“ und die Eltern unfähig seien... Eine Waldorferzieherin, die eine neu angestellte, hervorragend ausgebildete Gruppenleiterin einer anderen Gruppe „fernsteuern“ wollte, indem sie ihr bis ins Einzelne die zu verwendenden Farben, das zu verwendende und nicht zu verwendende Spielzeug, die zu singenden Lieder und Reigen usw. vorgeben wollte...

Das sind einige der Eindrücke, die ich in der letzten Zeit wieder von Menschen erfahren habe, die mitten in der Waldorfbewegung stehen. Dazu kommt die immer wiederkehrende Erfahrung, dass Strafen wie Vor-der-Tür-stehen, Unterrichtsausschlüsse, nicht selten sogar körperliche Übergriffe und letztlich natürlich immer wieder auch Schulverweise offenbar weit verbreitet sind – und an jeder Schule vorkommen (wenn auch hoffentlich nicht die Übergriffe!).

Sicherlich sind das die dunklen Seiten (natürlich erst recht der Staatsschulpädagogik), aber dass diese dunklen Seiten in der real existierenden Waldorfpädagogik überhaupt eine Realität sind, ist tief beschämend. Viele Menschen aus der Waldorfbewegung würden mich auch jetzt wieder erschüttert oder wütend als bösen Nestbeschmutzer oder gar als Gegner der Waldorfpädagogik bezeichnen – ohne zu sehen, dass man gerade dann ein Gegner dieser Pädagogik ist, wenn man sich den wirklich erschütterten Tatsachen gegenüber blind macht, dazu schweigt und zugleich ebenso wenig sieht, wo die Ursachen dieser immer wiederkehrenden und oft alltäglichen Schrecklichkeiten liegen.

Die oben nur kurz angedeuteten Erfahrungen mögen die Spitze eines Eisberges darstellen, der in seinen ausgedehnteren Niederungen gar nicht derart „schlimm“ sein mag – es bleibt aber doch ein riesiger Eisberg, den man trotz allem nur als Realisierung von Elementen der schwarzen Pädagogik bezeichnen kann. In seltenen Fällen mag ein Vor-die-Tür-Stellen eine fruchtbare erzieherische Tat sein – in fast allen Fällen aber ist sie Ausdruck der eigenen Ohnmacht und der eigenen Unfähigkeit zu wirklich pädagogischem Handeln in diesem Moment und schon vorher. Und ein Schulausschluss ist für das pädagogische Tun immer eine Bankrotterklärung.

Diese „Maßnahmen“ sind also allgegenwärtige Realität auch in der Waldorfbewegung, und sie stehen auch in dieser fast immer als „notwendige“ Maßnahmen da, die der Pädagoge – notfalls unterstützt vom Kollegium und vom Geschäftsführer – vollzieht, wodurch das Kind bzw. der Jugendliche dann immer als der Schuldige dasteht. Die Selbstimmunisierung ist perfekt! Der blinde Fleck gegenüber dem eigenen Anteil an der Situation ist offenbar noch schwärzer als die angewandte pädagogische Maßnahme... Selbst wird man die eigene Ohnmacht vielleicht noch empfinden, zugeben tut man sie in den seltensten Fällen.

Was aber ist das für eine Pädagogik, in der die Kinder und Jugendlichen letztlich immer die Schuld haben (weil man sie ihnen gibt)? Sollte man lieber Schule ohne Kinder machen? Weil dann ja glücklicherweise die Probleme ausbleiben? Wo bleibt die Ehrfurcht und die Dankbarkeit, die Rudolf Steiner als Grundlage für das Übernehmen dieser tief verantwortungsvollen Erziehungsaufgabe so sehr und immer wieder betonte? Diese Stimmung ist heute in nahezu keiner Waldorfschule auch nur noch ansatzweise zu finden – und schon gar nicht so zu empfinden und zu erleben, dass sie wirklich die Atmosphäre, die Gesinnung, den Geist der Schule bildet...

Und so sind auch die Waldorfschulen trotz aller positiven Bemühungen längst viel zu sehr Schule geworden, die nichts von jenem Geist hat, den eine Waldorfschule haben muss, um leben zu können. Dieser Geist besteht nicht aus „positiven Bemühungen“, sondern sein Lebenselement wäre erst die echte Ehrfurcht und diese wiederum gewänne ihre Substanz erst aus einer ernsten, wahrhaftigen Selbsterziehung. Wie könnte es auch anders sein? Einreden kann man sich Ehrfurcht und viele andere schöne Dinge sehr leicht... Immer solange, bis Probleme auftreten, die man dann mit Methoden löst, die den Mangel an Ehrfurcht und gutem Willen sehr deutlich offenbaren (auch wenn man sich selbst – gerade auch kollektiv – immer weiter belügen kann).

Von „all dem Positiven“ und der Selbst-Immunisierung

Selbst wenn man davon ausginge, dass viele Lehrer nie Kinder vor die Tür stellen würden oder Schlimmeres – oder dass sie, wenn sie dies tun, die eigene Ohnmacht sehr deutlich fühlen und vielleicht sogar zugeben würden: Entscheidend ist nicht der Hinweis auf irgendeine abstrakte „gute“ Mehrheit, sondern entscheidend ist die Tatsache, dass sich all diese Dinge täglich inmitten der Waldorfbewegung ereignen, dass man damit lebt, dass es Alltag ist. Und dass man dazu schweigt und es normal findet – oder aber zumindest nicht hören will! Entscheidend ist nicht der Hinweis auf die möglicherweise 90% der Unterrichtszeit, in der die Dinge mehr oder weniger „gut laufen“, sondern entscheidend ist die Frage, was ein einziger Moment schwarzer Pädagogik in Kinderseelen anrichtet (auch in denen, die es nur miterleben!), und entscheidend ist die Frage, welchen Abstand auch die „positiven“ 90% der Unterrichtszeit von dem haben, was wahre Waldorfpädagogik wäre.

Entscheidend wäre die Feststellung, dass alles, was man heute zu „Waldorfpädagogik“ erklärt (90% und 10%) nichts mit dem zu tun hat, was wahre Erziehungskunst wäre – also eine Pädagogik, die aus der Verwirklichung ihrer notwendigen Grundlagen und Bedingungen heraus allmählich eine Realität werden könnte. Man will von diesen Grundlagen heute nichts wissen – und wo man von ihnen vorsichtig noch etwas wissen will, steht man hilflos davor. Wie könnte also dasjenige, was daraus erst entstehen könnte, heute schon eine Realität sein? Wie könnte das, was heute als „Waldorfpädagogik“ bezeichnet wird, auch nur ansatzweise eine Ähnlichkeit mit dem haben, was Rudolf Steiner „Erziehungskunst“ nannte? Er kann keine Ähnlichkeit haben, es ist absolut unmöglich.

Dem gegenüber steht eine „Bewegung“, die sich gegen diese (Selbst-)Erkenntnis immunisiert. Schon die Tatsache, dass man nach wie vor von „Waldorfpädagogik“ spricht, erneuert die Lüge und den Selbstbetrug täglich. Auch das Wort „Bewegung“ oder die Tatsache der „Zusammenarbeit“ in Tagungen, Konferenzen usw. täuscht ein „Leben“ vor, dessen Nichtexistenz man dann kaum noch zu erkennen vermag. Natürlich – es existiert eine Bewegung. Eine Bewegung von Schulen, die aber nicht aus dem geistigen Impuls der Erziehungskunst heraus wirken; eine Bewegung von Menschen, die sich vielleicht noch mit den Lippen zu „Selbsterziehung“, „Grundlagenarbeit“ und so etwas bekennen, deren Tun dies aber Lügen straft. Der äußere Sinnesschein (die Worte, die Festreden, die Betriebsamkeit und sogar das „Steiner lesen“ usw.) mag also sehr weitgehend für eine „lebendige Bewegung“ sprechen – die fehlende innere Substanz aber spricht im Geiste eine deutliche Sprache.

Nun kann man das Fehlen dieser Substanz – weil sie im Gegensatz zum Sinnesschein so oder so unsichtbar wäre – natürlich wunderbar leicht abstreiten. In der Regel tut man dies aber, weil man gar nicht weiß, was mit dieser Substanz gemeint ist. Ihr Fehlen wird gerade deshalb so heftig geleugnet, weil man sie nie kennengelernt hat! Dann ist die Illusion schnell bei der Hand, dass es doch auch sehr gut „ohne“ geht und das Resultat trotzdem sehr ähnlich aussehen wird, wie der heutige Erfolg doch beweist... Man kann die Argumentation sogar perfekt gegen jede Widerlegung sichern: Der heutige Erfolg beweist, dass das Notwendige eben doch stattfindet, und weil es eben doch stattfindet, ist die Bewegung so erfolgreich...

Wer dieser (selbst-)betrügerischen „Logik“ widerspricht, hat es zunächst schwer. Denn wenn eine ganze Bewegung über Jahrzehnte auf schleichende Abwege geraten ist und sich kollektiv vormacht, es sei alles in (fast) bester Ordnung, türmt sich vor der notwendigen Selbsterkenntnis ein ganzes Gebirge von Widerständen. Der größte ist eben die Macht des Faktischen: Was kollektiv „Waldorfpädagogik“ genannt wird, muss doch das sein, was Rudolf Steiner so nannte? Eine ganze Bewegung aus so-und-so-vielen Schulen und dreißigmal so vielen Lehrern kann doch nicht irren? Das Zweite sind die Lippenbekenntnisse, die natürlich von einzelnen konkreten Menschen auch mehr oder weniger verwirklicht werden, in allen Abstufungen. Und wiederum ist man in der Pflicht, zu verdeutlichen, was man meint, wenn man auch hier von „mangelndem Ernst“ usw. spricht. Das Dritte ist das unausgesprochene oder bei Bedarf auch scharf in Anschlag gebrachte Dogma, dass man doch nicht „kritisieren“ solle bzw. dürfe, sondern „freilassen“ müsse, es „selbst besser machen“ müsse, allenfalls „konstruktiv“ und „positiv“ wirken solle usw. – Versucht man dann, darauf hinzuweisen, dass das Positivste, was geschehen könnte, die notwendige Selbsterkenntnis ist, zu der man fortwährend aufruft, sieht man sich sogleich wieder mit den zuerst genannten Hindernissen konfrontiert... Und dann gibt es noch viele weitere Hindernisse.

Von zufriedenen Eltern und entlarvenden Zuständen

Dennoch fällt die aufgebaute Logik vor der Realität in sich selbst zusammen. Solange es Menschen gibt, die aus einer wahrhaftigen Beschäftigung mit Rudolf Steiners Werk heraus um den realen Impuls der Erziehungskunst wissen, werden solche Menschen die Illusion durchschauen – früher oder später und oft auch unmittelbar. Wenn man weiß, was Kleider sind, und wenn man sich und seine wahrhaftige innere Stimme nicht einschüchtern lässt, wird man des Kaisers neue Kleider immer als das entlarven, was sie sind...

Und selbst wenn man sich nicht sehr intensiv mit Rudolf Steiner, der Anthroposophie und seinen pädagogischen Schriften beschäftigt hat, sondern nur ein wenig, wird man auch an diesem Wenigen schon den eigentlichen Geist erlebt haben – und seine Abwesenheit in der Realität erkennen. Viele Eltern sind für diese Wahrnehmung sehr sensibel – sie erleben sehr genau, was Waldorfschule sein sollte ... und was sie ist. Nur stehen natürlich auch sie mit ihrem Erlebnis allein und sind gegenüber der Macht des Faktischen hilflos...

Selbstverständlich kann man auch dann noch dankbar für die Existenz der konkreten Schule sein – insofern sie in vielerlei Hinsicht besser als die bekannten staatlichen Schulen ist. Diese (relative, oft auch große) Dankbarkeit hat dann jedoch nichts mehr mit der Frage zu tun, ob eine Schule eine wirkliche Waldorfschule wäre – oder vielmehr, sie hat damit zu tun, aber in umgekehrtem Sinne: Man ist dankbar, obwohl es nun einmal keine wirkliche Waldorfschule ist...

Weil dies so ist, sind also auch Tausende von zufriedenen Eltern kein Argument für die Existenz einer wirklichen Waldorfschule – denn die Eltern vergleichen mit der realen Alternative und vor allem: Viele Eltern wissen von Rudolf Steiners Werk nichts, und damit kennen sie das Wesen der Waldorfpädagogik noch weniger als die Lehrer. Wenn schon die Lehrer sich selbst betrügen oder aber das Wesen und die Bedingungen dieser Pädagogik wirklich nicht kennen, wie sollten es dann Eltern? Soll das aber heißen, dass die „Bewegung“ sich angesichts all dieser zufriedenen Eltern damit begnügen will, besser als die Staatsschule zu sein? Mit dem Hinweis auf zufriedene Eltern würde man gerade offen zugeben, dass es einem um das Ideal überhaupt nicht mehr geht. – Ich spreche auf diesen Webseiten fast nirgendwo von der positiven Differenz zu den Staatsschulen, sondern von dem Wesen der Waldorfpädagogik. Und um dieses sollte es „Waldorfschulen“ doch gehen!

Die große, gut gehütete Illusion von der real existierenden „Erziehungskunst“ fällt also von selbst in sich zusammen, weil sie der Realität nicht standhalten kann. Sie wird von Eltern durchschaut, sie wird von den Schülerinnen und Schülern durchschaut, sie wird von allen Kollegen durchschaut, die ernsthaft streben. Und wodurch wird sie durchschaut? Weil man sehr genau empfindet, wie der reale und lebendige Geist erlebt werden würde; weil man sehr genau weiß, wie das „Ideal“ – selbst wenn man nur wirklich danach streben würde – „sich anfühlen“ würde; und weil reale Probleme auftreten, und zwar schwerwiegende Probleme, und zwar oft täglich. Also nicht der Geist ist real, sondern die Probleme sind es – und genau daran erlebt man das Ausmaß, in dem der Geist fehlt; den Abstand, den die Realität von diesem Geist hat.

Die Probleme müssen dabei gar nicht immer akute Vorfälle sein, sie können auch in Zuständen bestehen, auch wenn diese als „Problem“ etwas schwerer zu durchschauen sind. Es muss nicht gleich einen katastrophalen Konflikt im Kollegium oder zwischen Lehrern und Eltern geben, es kann das allgegenwärtige Erlebnis sein, dass „die Kommunikation nicht wirklich funktioniert“, dass Antipathien walten, dass man sich fremd und fern gegenübersteht, auch wenn es nur Nuancen sind... Es muss nicht gleich ein Schulverweis bzw. eine Vertragskündigung sein, es kann das allgegenwärtige Erlebnis sein, dass das innige Band zwischen Kindern und Lehrer(in) fehlt, eigentlich noch nie da war (was wiederum überdeckt wird, solange die „Kleinen“ brav und „süß“ sind, wobei viele Schüler natürlich viele Jahre lang „brav“ bleiben können...).

Es kommt einzig und allein auf eine einzige Erkenntnis an: Dass all diese Vorfälle und auch all diese Zustände, die scheinbar normaler Alltag sind, Symptom für eine schwere Krankheit sind. Das Schlimme ist, dass sie wirklich Alltag sind (alltägliche Realität) und zugleich als „Alltag“ hingenommen und oft auch als „normal“ empfunden werden.

Nicht die Kinder machen Probleme – sondern die Erziehungskunst macht Probleme! Das Ideal macht Probleme, weil es nicht so leicht verwirklicht werden kann (oder sogar immer schon im Zustand der Verwirklichung ist), wie man es gerne behauptet. Das Ideal macht Probleme, weil seine Bedingungen einem schwer im Magen liegen und man sie von sich weist, wodurch im Äußeren Probleme entstehen. Das Ideal und seine Bedingungen kann man von sich weisen – die dann notwendig auftretenden Probleme begegnen einem wieder... Der nächste Schritt ist dann, die Verantwortung für diese Probleme ebenfalls von sich zu weisen und den Kindern selbst die Schuld zu geben...

Das unbeobachtete Element

Wie sollten die Kinder auch nicht selbst schuld haben? Sie machen die Probleme doch! Man selbst hat sich ja alle Mühe der Welt gegeben! Und weil das so ist, kann es nur die Undankbarkeit oder Frechheit oder Unerzogenheit oder mangelnde Erkenntnis (der Mühe des Lehrers) sein, die dem Problem zugrunde liegt. Natürlich – wenn Kinder rebellieren, liegt die (böse) „Aktivität“ eindeutig auf ihrer Seite. Das, was sie rebellieren lässt, vielleicht ein langweiliger Unterricht oder das allzu schwache innere Band des Lehrers zu den Kindern oder vieles andere an möglichen Gründen – all das ist dem erkennenden Blick entzogen, weil das „Problem“ im „Stören“ besteht und alle Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist. Ursache des Problems ist also der „Störer“ – und damit sind die Ursachen des Problems gerade unsichtbar gemacht...

Es ist im Grunde genauso, wie Rudolf Steiner es in seiner „Philosophie der Freiheit“ formuliert: Wenn ich über einen Gegenstand nachdenke, ist mein Blick auf ihn gerichtet, mein eigenes Denken bleibt mir ganz unbemerkt. („Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, daß es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist.“). Wenn ich als Lehrer auf den „Störer“ schaue, ist mein Blick auf den „Störer“ gerichtet, mein Anteil an der Störung bleibt mir völlig unbemerkt. Mir bleibt sogar unbemerkt, dass mein Denken all diese Begriffe und Zuschreibungen erst schafft und schon dadurch den blinden Fleck nahezu unüberwindlich macht. Weil ich meinen eigenen Anteil nicht wahrhaben will, denke ich von vornherein den Begriff „Störer“ (auch wenn ich ihn nicht wörtlich denke!), und weil ich ihn denke, ist klar, dass die Ursache der Störung außerhalb von mir liegt, nämlich beim Störer...

Der einzige Ausweg aus diesem subtilen oder oft auch sehr krassen Selbstbetrug wäre eben: Selbsterkenntnis. Diese wird aber oft um keinen Preis gewollt. Und wenn sich die Praxis erst einmal eingeschlichen hat, ist sie erst recht kaum noch rückgängig zu machen: Auch Selbstbetrug wird zu einer Gewohnheit. Von Rudolf Steiner wissen wir, wie schwer Gewohnheiten zu ändern sind... Das Schlimmste am Selbstbetrug ist dabei gerade, dass er nicht einmal erkannt werden kann, weil sein Wesen gerade darin besteht, die Erkenntnis zu verhindern. Gegen Einzelfälle von Selbstbetrug erhebt sich zwar immer noch leise die innere Stimme des Gewissens, die Gewohnheit aber bringt dann auch diese zum Schweigen...

Die Gewohnheit kann jeden Selbstbetrug zu einem unauslöschlichen blinden Fleck machen: Die täglich wiederholte Annahme, man hätte eine „Waldorfschule“; man würde sich doch um „Selbsterziehung“ bemühen oder „Rudolf Steiner lesen“ und so weiter. Es läuft alles immer wieder auf das Folgende hinaus: Was täglich „wahr“ gewesen ist – noch dazu an so vielen Schulen –, kann nicht plötzlich falsch sein. Am schlimmsten sind jene Lügen aufzugeben, die zur Lebenslüge geworden sind. Und am allerschlimmsten jene Irrtümer, die mit einem vermeintlich schon halb oder weitgehend erreichten oder erstrebten Ideal zu tun haben... Wenn man sein Leben lang gemeint hat, nach besten Kräften einem Ideal zu folgen (oder sogar zu dienen!), wird es kaum möglich sein, zu der Erkenntnis zu kommen, dass man es nicht getan hat, dass man das Wesentliche gerade versäumt oder absolut nicht ernst genug genommen hat...

Es wird nur unter einer Bedingung möglich sein, zu dieser Erkenntnis zu kommen: Wenn man die Wahrheit wirklich liebt. Wenn man das Ideal wirklich liebt. Beide Bedingungen sind identisch, sind ein und dieselbe. Denn wenn man das Ideal wirklich liebt, liebt man es auch mehr als den eigenen „Erfolg“. Nur dann kann man sein Scheitern und seinen Irrtum zugeben – damit aber liebt man zugleich die Wahrheit. Andernfalls wird man die Wahrheit des eigenen Irrtums und damit das Ideal verleugnen, um der Illusion anzuhängen...

Von Sündenböcken und Opferlämmern

Die Schuldzuweisungen bei Problemen sind nicht selten sehr subtil. Oft ist es wirklich so, dass bei Problemen den Kindern die Schuld gegeben wird. Sie werden dann teilweise auch regelrecht als „Problemkinder“ bezeichnet. Oft ist es aber auch so, dass man die Schuld auf mehrere Schultern verteilt. Das scheint realitätsnäher zu sein, lenkt aber nur um so mehr von dem eigenen Anteil ab. Die Argumentation läuft dann so: Das Kind macht zwar Probleme, aber es kann nur bedingt etwas dafür, einen Großteil der Schuld haben eben die Eltern. Natürlich wird sowohl die „Alleinschuld“ des Kindes als auch die „Kollektivschuld“ von Kind und Eltern dadurch untermauert, dass ja die „übrigen Kinder“ keine Probleme machen. Dieses Argument scheint gültig, bis mal wieder ein anderes Kind Probleme macht... Dennoch sieht man die Tragkraft dieses Argumentes auch dann noch nicht ernsthaft gefährdet, denn wenn man selbst Anteil an dem Problem hätte, müssten doch schließlich alle Kinder fortwährend Probleme machen...?

Bei dieser Argumentation übersieht man den ungeheuren guten Willen der Kinder. Man sieht nicht, wie die Kinder einem fortwährend ungeheuer viele Unzulänglichkeiten und Unfähigkeiten nachsehen und oft wirklich nur dann rebellieren, wenn sie nicht mehr anders können. Man setzt im Grunde fortwährend (unbewusst) voraus, dass Kinder bewusst und vorsätzlich Probleme machen, obwohl sie „sehr gut anders könnten“ – und man sieht nicht, wie sehr Kinder bewusst und bemüht „brav“ sind und dem Unterricht folgen, obwohl er vielleicht absolut nicht ihrem Wesen gerecht wird. So wird der einzelne „Störer“ zum Beweis für die Unschuld des Lehrers, während die Tatsache, dass es nur Einzelfälle sind, oft viel mehr ein Beweis für die Unschuld und den ungeheuren guten Willen der Kinder wäre!

Vielleicht übernimmt das störende Kinder sogar eine Art großes Opfer, indem es sich selbst zum „Sündenbock“ macht, auf dass dem Lehrer die untragbare Situation gespiegelt werden kann. Vielleicht tut es dies ganz unbewusst (und ohne, dass es anders könnte), vielleicht auch recht bewusst und weil es zwar anders könnte, aber den notwendigen Mut hat, in diesem Moment nicht mehr anders zu wollen...

Das alles sind Fragen, die heute nicht gestellt werden – und die sich am wenigsten der Lehrer stellt, der dann „Maßnahmen ergreift“ ... und die sich auch ein ganzes Kollegium nicht stellt, wenn es dann hart auf hart kommt und es sich schützend hinter den Kollegen stellt... Dann steht da unerschütterlich die Macht eines ganzen Kollegiums, die sich auf die Sichtweise des vertrauenswürdigen Kollegen eingeschworen hat, während ein Opferlamm oder auch Sündenbock die Schule verlassen muss...

Und selbst wenn das Opferlamm nicht ganz so unschuldig gewesen sein mag: Wer gibt einer Bewegung, die sich noch immer offiziell dem „Wohle des Kindes“ und der „Erziehung zur Freiheit“ verschrieben hat, das Recht, den eigenen Anteil an solchen Situationen tagtäglich vollkommen zu verleugnen? Niemand. Sie nimmt sich dieses Recht einfach. Und ich sage nochmals: Wenn eine Bewegung die Grundlagen der Erziehungskunst derart vollständig verleugnet – weil sie sie nach Belieben entweder der „Freiheit“ des einzelnen Lehrers überlässt oder aber immer schon sorglos als „irgendwo auf dem Wege der Verwirklichung“ voraussetzt, ohne sie auf diese Weise auch nur ansatzweise ernst zu nehmen –, kann diese Grundlüge nur zu den größten Irrtümern auch in jeder anderen Hinsicht führen.

In einer Bewegung, die tagtäglich Probleme verursacht, deren eigenen Anteil sie nicht sieht; die tagtäglich Sündenböcke produziert und ausstößt; die tagtäglich die Selbsterziehung vernachlässigt (genauer: unterlässt) – in einer solchen Bewegung stehen nicht die Kinder im Mittelpunkt, sondern die Lehrer ... und die Lebenslüge, die sie pflegen.

Auf die Spitze getrieben – die Implosion des Vorwurfs

Diese Realität wird auch dadurch beleuchtet, dass die Lehrer auch den Eltern gegenüber fast immer von einer subtil höheren Warte entgegentreten. Sind auch die Eltern brav, begegnet man ihnen freundlich und wohlwollend, machen auch die Eltern auf einmal „Probleme“ ist dagegen sofort Antipathie, Abwehr und Bevormundung da; geschlossene Reihen, das Pochen auf die „Freiheit des Pädagogen“ und die „Autonomie des Kollegiums“, der Verweis auf die „objektiven Probleme“, die Kinder machen, der Verweis auf das erzieherische Versagen der Eltern...

Dazu kommt die allgegenwärtige Schwierigkeit der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern; die immer wiederkehrenden Krisen in der Zusammenarbeit der Gremien; der Unwille von Lehrern, regelmäßig an der Elternkonferenz oder an dem ausdrücklich Eltern-Lehrer-Konferenz genannten Gremium teilzunehmen; die eigene Unorganisiertheit im Kollegium; der in Waldorfkreisen schon sprichwörtliche Mangel an konkreten Ansprechpartnern... Dazu kommen Probleme im Kollegium selbst, interne Antipathien, Probleme und so weiter. All dies müssten doch für jedermann untrügliche Beweise für den Mangel an Selbsterziehung sein – aber sie sind es nicht, das kollektive Interesse an der Annahme, diese Selbsterziehung sei nicht notwendig (auch für die Verwirklichung des Ideals nicht), ist stärker...

Beinahe wäre uns nun noch ein wichtiger Punkt entgangen. Ich sprach eben von allgegenwärtigen Problemen im Kollegium (es mag glückliche Ausnahmen in der Waldorflandschaft geben). Wie verhält es sich eigentlich hier? Den Schülern kann man die Schuld an Problemen sehr einfach zuweisen. Den Eltern auch noch verhältnismäßig einfach, zumindest mit Rückendeckung des Kollegiums. Wie aber ist es mit Problemen im Kollegium selbst? Hier nun ist man auf sich allein gestellt oder mit anderen Worten: auf sich selbst zurückgeworfen... Man kann zwar auch hier noch „Schützenhilfe“ suchen, Seilschaften organisieren usw., doch man kann für Probleme im Kollegium selbst nicht auch noch den Eltern die Schuld geben (gekonnten „Lebenslügnern“ soll jedoch selbst das gelingen...).

Was also offenbaren Probleme im Kollegium ganz eindeutig? Sie offenbaren vollständig die Haltlosigkeit des Dogmas vom „nicht existenten eigenen Anteil“. Wenn der Lehrer keine Schuld an Problemen in der Klasse hat – wieso treten dann Probleme im Kollegium auf? Und nicht selten sogar noch viel häufiger oder stärker als in der Klasse! Um den Selbstbetrug auf die Spitze zu treiben und ihn auch jetzt noch aufrecht zu erhalten, gibt es nur eine Möglichkeit: Natürlich ist auch jetzt immer nur der Andere schuld!

Ja ... aber: Wenn die anderen schuld sind, sind zumindest vielleicht sie auch an den Problemen in ihrer Klasse schuld? Das würde bedeuten, dass vielleicht auch in den Klassen nicht die Kinder schuld am Problem sind, sondern der Lehrer? Außer in meiner eigenen Klasse natürlich! Oder aber: An Problemen mit den Kindern sind immer die Kinder schuld – an Problemen untereinander, nun ja, da hat eben jeder doch ein wenig Mitschuld. Wir alle sind ja sehr vernünftig und gutwillig, was mit den Kindern schief läuft, liegt nicht an uns, aber unter Erwachsenen, ja, da gibt es manchmal Fälle, wo es nicht so ganz gut läuft...

Welch ein Hochmut! Untereinander (als Erwachsene oder zumindest als Kollegen) gibt man menschliche Schwächen zu, aber in Bezug auf die Kinder leugnet man menschliche und pädagogische Schwächen!? Das mag noch immer daran liegen, dass man subjektiv den Eindruck hat, sich alle Mühe zu geben, und man sich gerade gegenüber den Kindern keiner menschlichen Schwäche bewusst ist (und einer pädagogischen schon gar nicht). Doch die Wahrheit hängt nicht von dem ab, was man sich bewusst macht und was nicht!

Und nochmals: Selbst wenn man sich Mühe gegeben hat und es gibt dennoch ein Problem, ist dies ein Hinweis darauf, dass man etwas falsch gemacht hat. Man hat sich entweder nicht genug Mühe gegeben oder man hat sich in falscher Weise Mühe gegeben. Und selbst wenn Kinder Mühe nicht anerkennen, wenn sie einen herausfordern usw. – man weiß doch, dass das so ist? Dafür sind es doch Kinder? Und doch würden sie sehr, sehr, sehr viel anerkennen, würden sie den Lehrer sogar immer lieben, wenn man es richtig machen würde. Wenn es Probleme gibt, liegt es also immer am Lehrer und seinem Unvermögen, den Kindern gerecht zu werden.

Vom Versäumnis der Eltern...

Nun gibt es natürlich trotz allem das weite Feld der Vorwürfe gegenüber den Eltern. Es ist natürlich deutlich, dass die Situation für den Lehrer schwieriger ist, wenn Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe überfordert sind, versagen oder zumindest ebenfalls nicht perfekt sind...

Doch was will man eigentlich? Perfekte Eltern und perfekte Kinder, auf dass das Leben so einfach wie möglich ist und der „Erziehungsauftrag“ sich sozusagen von selbst erledigt, jedenfalls ohne Probleme mit sich zu bringen? Im Leben ist nichts perfekt – und gerade das gilt es einzusehen! Es gilt einzusehen, dass es bei Problemen einen großen eigenen Anteil gibt.

Gerade Waldorflehrer sollten wissen, dass heute vieles, was das Lebensumfeld der Kinder bildet, nicht perfekt ist. Aber sie sollten daraus gerade nicht das Argument machen, dass eben die Welt, die Eltern und das Kind an allen Problemen schuld sind! Sondern dieses Wissen von den schwierigen Rahmenbedingungen heutigen Aufwachsens sollte gerade um so mehr Aufruf zur eigenen Selbsterziehung sein! Denn wenn die Rahmenbedingungen schwierig sind, heißt das, dass unweigerlich „Probleme“ kommen werden. Es heißt aber dennoch nicht, dass nun alle Probleme von außen kommen! Und überhaupt ist das Ideal der Waldorfpädagogik doch, dem Kinde zu helfen, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wie pervertiert sich dieses Ideal, wenn man auf einmal anfängt, in bestimmten Kindern selbst ein Hindernis zu erblicken!?

Das Versäumnis der Eltern mag real und objektiv sein – dennoch liegt in alledem nur eine um so größere Aufgabe für den Lehrer. Niemals darf er daraus den Eltern einen Vorwurf machen – denn schon damit steht auch das Kind als Problem da. Eltern, die ihre Verantwortung teilweise versäumen oder verfehlen, können meist nichts dafür. Sie wissen und vermögen es nicht besser. Wie will man daraus einen Vorwurf machen?

Und ich? fragt sich der verzweifelte Lehrer. Nun – ihm ist zunächst zu antworten: Wenn Du Deine Verantwortung verfehlst, dann vermagst Du es auch nicht besser. Aber es geht ja gerade darum, dass Du das endlich zugibst! Und vor allem: nicht den Kindern die Schuld an Problemen gibst!

Du sagst: Wenn die Eltern ihren Teil der Verantwortung übernehmen würden, könnte ich meinen schon tragen. Sicher? Aber wenn die Eltern ihren Teil nicht zu übernehmen vermögen, musst Du eben Deine Fähigkeiten steigern. Siehst Du außerdem nicht, dass Du Deinen Teil noch überhaupt nicht übernimmst, jedenfalls nicht, wenn es um Waldorfpädagogik geht? Wo ist denn Deine Selbsterziehung? Wo die innere Vertiefung Deiner Seelenkräfte? Wo Deine wirkliche Erkenntnis des Kindeswesens? Wo ist Dein Streben nach alledem?

...und der Verantwortung der Feuerwehrleute

Nun eilt dem verzweifelten Lehrer wieder die anonyme Waldorfbewegung (oder: der sie beherrschende „Geist der Lüge“) zu Hilfe und sagt: Man kann heute von den Lehrern nicht mehr verlangen, dass sie in dieser ernsthaften Weise Selbsterziehung betreiben. Das konnte man übrigens noch nie, es war immer die freie Entscheidung des Einzelnen und eine Frage des Schicksals, wie stark jemand diese Selbsterziehung ergriffen hat usw. usf. – All dies ist nicht wahr.

Man konnte von Waldorflehrer schon immer verlangen, dass sie energisch die Selbsterziehung betreiben. Man kann es in dem Maße verlangen, wie Lehrer das, was sie tun, „Waldorfpädagogik“ nennen wollen. Wenn sie nicht wirklich ernsthafte Selbsterziehung üben, ist das, was sie machen, auch nicht wirklich Waldorfpädagogik. So einfach – und so traurig – ist das.

Man kann all dies, was Rudolf Steiner als essentielle, notwendige Bedingung und Grundlage der Waldorfpädagogik betont hat, ebenso von den Waldorflehrern verlangen, wie man von Feuerwehrleuten verlangen kann, dass sie Brände löschen, oder wie man von Schustern verlangen kann, dass sie Schuhe machen. Feuerwehrleute, die keine Brände löschen oder glauben, sie könnten das ohne Wasser machen, sind eben keine Feuerwehrleute (vielleicht nennen sie sich noch so, aber das würde aufgrund der offensichtlichen Realitäten doch sehr schnell auffallen). Und auch von dem „neu gekleideten Kaiser“ kann man verlangen, dass er sich langsam mal wieder kaiserlich benimmt und reale Kleider anlegt, denn sonst ist er eben kein wirklicher Kaiser mehr...

Dass man dies „freilassend“ verlangt, ist ein Widerspruch in sich und wäre ebenso absurd, wie die Feuerwehr freilassend zu ermutigen, doch ein wenig Wasser mitzunehmen. Selbsterziehung kann man nur aus Freiheit tun. Doch es wäre schon viel gewonnen, wenn man die Brände bemerken würde, die man durch die nicht ergriffene Selbsterziehung nicht nur nicht löscht, sondern sogar selbst auch legt...

Auch wenn Selbsterziehung nur eine freie Tat sein kann, ist sie für Waldorflehrer gleichwohl eine „Berufspflicht“. Wer sich in Freiheit für den Beruf des Waldorflehrers entschieden hat, ist nicht mehr frei darin, die notwendige Bedingung der Waldorfpädagogik zu ergreifen oder nicht. Die führenden Persönlichkeiten der Waldorfbewegung tragen durch ihr Verschweigen dieser Tatsache allerdings nach Kräften dazu bei, dass eine völlige Verwirrung und Beliebigkeit entsteht – und insofern sie tatsächlich eine völlige Freiheit in dieser Frage behaupten, setzen sie eine Lüge in die Welt. Selbsterziehung mag freiwillig bleiben, aber wenn man das, was dann ohne Selbsterziehung als Ergebnis in die Welt tritt, noch immer „Waldorfpädagogik“ nennt, ist das eine Lüge.

Die Befreiung von Problemen oder das Problem der Freiheit

Fassen wir alles bisher Gesagte mit besonderem Blick auf das Verhältnis von Eltern und Lehrern zusammen, so können wir sagen:

Der Waldorflehrer soll ein aus wirklicher Erkenntnis des Kindeswesens heraus tätiger Erziehungskünstler sein. Wirkliche Erziehungskunst ist nur in voller Freiheit möglich – wird aber zugleich immer das volle, dankbare Verständnis der Eltern haben oder gewinnen können.

Probleme treten fast immer nur dort auf (dort aber zwangsläufig), wo Erziehung nicht zur Kunst geworden ist. Sie könnte aber überhaupt nur da zur Kunst werden, wo ernst und wahrhaftig die Selbsterziehung und die Grundlagen- und Vertiefungsarbeit gepflegt wird. Dies geschieht heute nicht, wodurch schwerwiegende Probleme unausweichlich sind. Traurig „gelöst“ werden sie letztlich immer wieder durch den Weggang von Eltern bzw. den Ausschluss von Schülern – womit das Kind immer so dasteht, als hätte es durch sein Verhalten „selbst schuld“. Die Frage nach den Ursachen dieses Verhaltens bleibt ein weitgehend blinder Fleck.

Erziehungskunst und „Schüler, die Probleme machen“ sind nahezu ein Widerspruch in sich. Ein dauerhaftes Problem ist geradezu immer ein Hinweis auf den Mangel an Erziehungskunst. Probleme rufen selbstverständlich die Eltern auf den Plan (die das Beste für ihr Kind wollen und der Schule auch vertrauen – bis sie von Problemen hören). Kommt es nun zur Abwehr, weil ja „der Waldorfpädagoge volle Freiheit braucht“, ist dies ein (Selbst-)Betrug. Man kann nicht die äußere Bedingung einer Erziehungskunst fordern, ohne die innere Grundlage zu verwirklichen.

Wird Erziehungskunst gar nicht verwirklicht, treten Probleme auf. Diesen muss man sich gemeinsam stellen. Auf der Grundlage des Eingeständnisses, dass die Probleme auf einem Mangel an eigenen Fähigkeiten beruhen, kann in enger Zusammenarbeit mit den Eltern nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. Natürlich gilt auch für die Eltern: Alle Erziehung ist Selbsterziehung. Dennoch kann eine Schuldzuweisung an Kinder und Eltern das Problem ebensowenig lösen, es würde den genannten blinden Fleck nur vergrößern. Wo von Waldorfpädagogik und Erziehungskunst die Rede ist, muss vor allem der Blick auf ihre essentielle Grundlage gerichtet werden: die Selbsterziehung des Lehrers. Auf dieser Grundlage kann es seitens des Lehrers nur die Frage geben: Welchen Anteil habe ich an dem Problem, was kann ich zur Lösung beitragen?

Wer als Pädagoge die volle Freiheit für sein Handeln beansprucht, muss ebenso die volle Verantwortung auf sich nehmen und sie nicht bei „Problemen“ auf einmal dem Kind oder den Eltern zuweisen. Nicht das Kind ist das Problem, sondern das Kind hat ein Problem mit und aufgrund seiner Umwelt. Alle haben Anteil an dieser Tatsache, und wenn es wirklich um das Kind geht, gilt es, den wirklichen Ursachen des Problems auf die Spur zu kommen und an diesen Ursachen etwas zu ändern – was mit Sicherheit auch bedeuten wird, sich zu ändern.

Wenn man keine Angst vor Selbsterkenntnis und dem Zugeben eigener Schwächen hat (beiderseits, also auch auf Elternseite), wird man sehr viele Problem lösen können, denn auf dieser Grundlage kann es zu einer wahrhaften Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern kommen – zum wirklichen Wohle der Kinder.

Ohne Selbsterziehung und innere Vertiefung wird es jedoch immer wieder zu Problemen kommen. Probleme wird es natürlich selbst dann geben, wenn man einen solchen Schulungsweg betritt, aber dann würde man zumindest wirklich alles tun, was man selbst vermag – und dann würden sich definitiv alle Probleme, die dann noch auftreten mögen, lösen lassen...