27.05.2014

Sexualkunde oder Rettung des Seelischen?

Antwort auf Valentin Hacken: Die Sexualkunde gehört entrümpelt. Eine Polemik. Erziehungskunst 05/2014, S. 51-53.

gekürzt veröffentlicht: Wer lehrt (noch) das Mysterium der Liebe? Erziehungskunst 09/2014, S. 59-61.


Inhalt
Zitat Valentin Hacken
Gender Mainstreaming und Anthroposophie
Die Dimensionslosigkeit der „Vielfalt“
Leib und Seele
Von der Diskriminierung der Unschuld
Die Rettung des Seelischen


Zitat Valentin Hacken

Valentin Hacken schreibt über die Waldorfschulen:

Doch hier ist auf weiter Flur noch kein Konzept zur sexuellen Vielfalt zu entdecken. Im Gegenteil zeigt sich schon der Sexualkundeunterricht problematisch. In einer Stichprobe konnten sich zehn von fünfzehn Schülern gar nicht erinnern, einen gehabt zu haben. Exemplifizieren lassen sich die Schwierigkeiten mit zwei Beiträgen. Zuerst ein Vortrag des Kongresses „Liebe und Sexualität“ (Erziehungskunst 1/14), überschrieben mit „Sexualität im Internet – Jugend am Abgrund des Menschseins?“.
[...] Wer hier den Abgrund des Menschseins vermutet, zeigt eine erstaunliche Dimensionslosigkeit – es geht um die Darstellung von Sex, nicht um Massenmord. Und mit gutem Sexualkundeunterricht findet man sich auch mühelos in einem Porno zurecht.

Das wird die Autoren des Buchs „Sexualkunde in der Waldorfpädagogik“ nicht beruhigen, denn dort gilt Pornographie ohnehin als Teufelswerk. Sexuelle Vielfalt sucht man hier vergebens, lediglich Homosexualität findet sich als „brennende Frage aus der Praxis“ [...]. Statt Gender-Mainstreaming, das nach Rollenbildern und Stereotypen fragen würde, lässt sich lernen, dass die Frau sich für das tiefe, intellektuelle Nachdenken weniger eignet als der Mann und ein leistungsorientiertes Bildungssystem männlich ist.
Lehrende werden hier nicht nur eindringlich gewarnt, zu früh mit den Kindern über Sexualität zu sprechen und dabei schematische Funktionszeichnungen oder Modelle zu verwenden, sondern lieber ermutigt, Karma zum Unterrichtsthema zu machen; Sexualkunde als günstige Gelegenheit, die eigene Weltanschauung einzubringen. Dazu gibt es allerlei Beispiele für eine Unterrichtsgestaltung, die entgegen den Programmsätzen nicht für Klarheit sorgt, sondern eine Mystifizierung von Sexualität betreibt, mit dem Ziel, Sexualität menschlich werden zu lassen, im Ganzen und im einzelnen Schüler. Eine Sexualität, die in der Waldorfpädagogik vor allem als gefährdet wahrgenommen wird. Vom Materialismus, den bösen Medien, einer zerstörerischen Sachlichkeit, der Leib-Seele-Trennung, HipHop, Computerspielen, Internet. Und auch hier die apokalyptische Vision: Menschheit am Abgrund.

Dass sich das nicht mit der Wirklichkeit deckt, verraten neben anderem die Shell-Jugendstudie und der Sexualreport der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), oder aufmerksame Beobachtung (siehe auch „Schwäne sind schwarz und Pubertierende kiffen“ in Erziehungskunst 2/2014). Der erste Sex kommt nicht immer früher, Gangbangs sind nicht die Freizeitbeschäftigung der Wahl und Jugendliche haben in der Regel einen realistischen und reflektierten Umgang mit Pornographie. So sehr fokussiert wird auf das Grelle: sie zeigen sich als ganz und gar menschlich, auf der Suche nach Glück und innigen, verantwortungsvollen Beziehungen. Die Bemühungen in der Waldorfpädagogik richten sich aktuell de facto darauf, Sexualität statt durch Tabus durch eine Einbindung in höchste spirituelle Zusammenhänge zu binden. Ein sittlich, esoterisch, moralisch und religiös vollkommen überfrachtetes Vorgehen, das zudem den Stand der universitären Wissenschaften ignorant ausblendet und stattdessen lieber Rudolf Steiner noch an seinen unhaltbarsten Stellen auslegt. Es wird Erleuchtung gesucht, nicht Glück.

Doch Kinder sind nicht blöde, im geschützten Rahmen werden sie auch nicht schockiert, wenn sie in der Unterstufe Worte zur Benennung ihrer Körperteile lernen, das ist geradezu essenziell, wenn sie sich selbstbestimmt erleben sollen. Und sie brauchen keine magischen Tricks, um ganz von selbst sich und die Welt zu erfahren und zu erleben, dass Sexualität kein mechanischer Vorgang ist, dass Liebe uns transzendieren kann. Sie brauchen keine Lehrer, deren Scham sie aus Zuneigung übernehmen – was von den Autoren missverstanden wird als Funktionieren ihrer Unterrichtsbeispiele. Dabei projizieren die erwachsenen Autoren die Angst und das Unwohlsein mit Sexualität und Zeitphänomenen in die Schüler und machen sie zu deren Problem. Das Erschrecken der Erwachsenen über die Sexualität ihrer Kinder bricht sich Bahn als vermeintliches Schutzbedürfnis, an dem die eigenen Ängste kuriert werden. Das ist menschlich, aber keine Menschenkunde. Helfen würde Humor, der es erlaubt, liebevoll auf die Ich-fremden Anteile zu blicken, die zu unserem Leben gehören, wenn wir uns gelegentlich ganz vergessen, verlieren können wollen – nicht heiliger Ernst.
„Wir müssen uns klar werden, dass wir […] in einem Entwicklungsprozess stehen, der letztlich darauf hinausläuft, dass wir erwachsener, mündiger und selbstverantwortlicher werden“, schrieb der Analytiker Fritz Riemann. Die enttabuisierte sexuelle Vielfalt, die Rollenbilder in Bewegung, all das fordert die Bewusstseinsebene und auch das Bewusstsein in der Waldorfpädagogik. Ihre Schüler brauchen eine vernünftige Aufklärung, um selbstbestimmt zu leben und eine Schule, deren Weltbild nicht exklusiv heterosexuell ist, um sich selbstbewusst zu entwickeln.

Gender Mainstreaming und Anthroposophie

Was sagt Hacken in seinem Aufsatz eigentlich? Er wendet sich gegen das, was er als Übertreibung ansieht, als eine Überfrachtung, als altertümliche Anschauung, die „den Stand der universitären Wissenschaften ignorant ausblendet“... Statt „Mystifizierung“ propagiert er Gender-Mainstreaming.

Sexualkunde auf der Grundlage von Anglizismen... Was ist Gender-Mainstreaming? Laut der Webseite des „Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ bedeutet dieses Leitwort, „bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen“. Das klingt gut, nur weiß man nicht, ob die Menschen, die dafür eintreten, nun eigentlich eher davon ausgehen, dass es zwischen Frauen und Männern Unterschiede gibt – oder eher davon, dass es zwischen ihnen keine Unterschiede gibt. Mit anderen Worten: Betonen die Anhänger des „Gender-Mainstreaming“, dass bisher künstliche Unterschiede aufgerichtet werden – oder dass die Unterschiede zu wenig berücksichtigt werden? Oder vielleicht beides...?

Oder geht es vielleicht darum, dass das Geschlecht immer weniger eine Rolle spielen soll – denn, wenn alles „gleichberechtigt“ und „gleichgestellt“ ist, aber auch alles möglich ist – Hacken selbst erwähnt „LSBTTI-Menschen (lesbisch, schwul, bi, transsexuell, transgender, intersexuell)“ –, dann ist die Aussage doch eigentlich: Schaut nicht auf das Geschlecht, schaut auch nicht darauf, wie ein Mensch seine Geschlechtlichkeit definiert, sondern schaut einzig und allein auf das Individuum, wie es sich als ganzer Mensch darlebt!

Ich frage mich, warum Hacken so hochmütig quasi absolut nebenbei Rudolf Steiner ad acta legt und nur in einem Nebensatz von seinen angeblich „unhaltbarsten Stellen“ spricht. Mehr Hochmut angesichts dieses ganzen Themas ist eigentlich kaum denkbar – und weniger historisches Bewusstsein auch nicht. Denn es war gerade Rudolf Steiner, der immer wieder betont hat, dass es um den Menschen geht, nicht um sein Geschlecht. Die Anthroposophie hinkt allen anglizistischen „Gender-Mainstreaming-Programmen“ nicht um ein Jahrhundert hinterher, sondern ist ihnen um Jahrhunderte voraus. Krampfhaft versucht die „moderne Zeit“, Gleichberechtigung zu erreichen, doch in denjenigen Menschen, in denen die Anthroposophie Leben wird, ist die Gleichberechtigung zutiefst erreicht, denn sie ist gar keine Frage, weil in der Begegnung die Individualität entscheidend ist; weil derjenige Mensch, der zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Geist und Körper, zwischen Mensch-heit und Geschlecht-lichkeit zu unterscheiden weiß, sowohl die unhintergehbare Gleichheit der Menschen erlebt, als auch die Unterschiedlichkeit jedes Individuums, die nicht erst bei der Geschlechtlichkeit beginnt, sich hier aber fortsetzt.

Rudolf Steiner hat des Öfteren darauf hingewiesen, dass man etwas um so weniger versteht, je mehr man beginnt, über etwas Worte zu machen und zu diskutieren. Gerade das aufgeregte Diskutieren über „Gender-Fragen“, ja, der scheinheilige, von der „political correctness“ getriebenen Aktionismus, all dies „ganz oben“ auf die politische Agenda zu setzen, zeigt doch gerade, dass hier auch Jahrzehnte nach der „sexuellen Aufklärung“ noch immer eine ungeheure Problematik liegt. Mit aller Gender-Aufklärung wird man es auch in hundert Jahren noch nicht geschafft haben, dass ganze Schichten von Männern schmutzige Witze über Frauen reißen, dass ganze Generationen von Jungen und werdenden Männern sich darüber definieren, dass sie sich über die Mädchen und werdenden Frauen stellen, dass sie ihr Selbstbewusstsein über ihre (auch geschlechtlich definierte) „Coolness“ sichern und so weiter...

Was kann uns dies bewusst machen? Wenn wir wirklich einmal zu erleben versuchen, um welche Impulse es geht, kann es uns vielleicht klarer werden. „Gender Mainstreaming“ spricht den Kopf an. Abstrakt und intellektuell sollen die Menschen darüber aufgeklärt werden, dass Menschen „gleichberechtigt“ sein sollen und dass man sich entsprechend verhalten solle. Mit Gesetzen, Vorschriften und Durchführungsverordnungen soll versucht werden, die „Gleichstellung“ zu implementieren...

Würden wir uns einmal nur für wenige Momente besinnen und einmal mit einem unbefangenen Denken und einem stillen, fragenden Herzen anschauen, was hier geschieht, so würden wir unmittelbar erleben können, dass hier in tieferem Sinne nichts erreicht werden kann von dem, was beabsichtigt ist oder behauptet wird. Es macht ein wenig den Eindruck wie das intellektuelle „Erklären-Wollen“ der Eltern, während das lebendige Wesen der Kinder davon überhaupt nichts begreift und (mit Recht) auch gar nichts begreifen will, weil der Intellekt völlig lebensfremd ist. Nun passiert dies im Großen: Gender Mainstreaming ist angeblich in aller Munde, jedenfalls in immer mehr Verlautbarungen, auf immer mehr Papieren, in immer mehr Gesetzen... Wird das Leben davon auch nur berührt? Und wenn es berührt wird, findet es nicht wiederum andere Wege, um diejenigen Kräfte zu offenbaren, die es immer offenbart hat – also auch die dunklen Kräfte?

Wenn es wirklich darum geht, dass Männer und Frauen, dass überhaupt Menschen sich gleichberechtigt begegnen – überall, in der Arbeitswelt, in der Freizeit, im Leben eben –, dann geht es nicht darum, „Gender Mainstreaming“ zu implementieren, sondern dann geht es darum, das Menschliche erleben zu lernen. Es ginge also darum, tiefer, viel tiefer als es jetzt geschieht, zu empfinden, was das Menschliche, das Menschsein, überhaupt bedeutet. Jetzt wird der Mensch gerade fortwährend davon abgezogen – wird hineingestaucht in die Sinneseindrücke, in die Leiblichkeit, in Genuss-Sucht, Reiz-Überflutung und Körperkult. Wie soll da ein wirkliches Empfinden dessen erwachen, was das Menschsein eigentlich umfasst ... umfassen könnte?

Die Dimensionslosigkeit der „Vielfalt“

Die Haupt-Aufgabe eines menschlichen „Sexualkunde-Unterrichts“ kann es niemals sein, möglichst viele „Dimensionen“ aufzuzeigen. Die Aufgabe kann es nicht sein, die Kinder dazu zu befähigen, sich „auch in einem Porno zurechtzufinden“. Diese Aufgabe erledigen Zeitschriften wie „Bravo“ ganz bravourös. Doch die heutige Aufspreizung der Sexualität in eine unüberschaubare Vielfalt von Praktiken, Erscheinungsformen, Kombinationen etc. etc. – das ist die eigentliche Dimensionslosigkeit, denn sie gaukelt den Menschen immer stärker und stärker vor, dass das Wesentliche an der Geschlechtlichkeit die geschlechtliche Lust sei, ja mehr noch: dass derjenige, der auf der Suche nach dieser Lust keine „ausgefallenen“ Wege geht, geradezu selbst schon abartig sei, langweilig, prüde oder verklemmt...

Die Dimensionslosigkeit besteht in der fortwährenden Betonung der „Vielfalt“ – einer Vielfalt, die eigentlich immer auf sexuelle Praktiken und Vorlieben, also auf das Körperliche bezogen ist. Denn da, wo es beginnt, um das Seelische zu gehen, gibt es eigentlich gar keine Vielfalt. In Bezug auf das Körperliche sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt – Grenzen gibt es allenfalls für die Gelenkigkeit des menschlichen Körpers und die Einsatzmöglichkeiten der zum Sex hinzugezogenen Hilfsmittel und Gerätschaften. Doch auf dieser körperlichen Ebene kann jeder nach seiner Façon „glücklich“ werden bzw. das „Glück“ oder besser gesagt die vorübergehende Stillung seiner Geschlechtslust suchen. – Auf seelischer Ebene scheint die Vielfalt viel mehr zu einer Einheit zu werden. Dort, wo die Begegnung der Geschlechter überhaupt mit Seele verbunden ist, da geht es immer um menschliche Wärme, um Zuneigung, um Vertrauen, Zärtlichkeit... Oder aber wir sind wiederum im Bereich des eigentlich Unmenschlichen, das doch so sehr zum Menschen gehört: Macht und Ohnmacht, Demütigung, Hörigkeit, Besitzgier, Sadismus...

Es ist wichtig, sich diesen Unterschied klarzumachen: Es gibt Erscheinungen der menschlichen Seele, die zunächst zum Menschsein dazugehören können, die aber nicht menschlich sind. In Bezug auf den Menschen kommt man gar nicht aus ohne eine Idee vom rein Menschlichen – und dementsprechend einer Idee von realen Gegenkräften und –mächten.

Wer diese Erkenntnis vertritt – eine Erkenntnis, die immer mehr ein reales Erleben werden kann –, muss sich natürlich gegen das Argument erwehren, dass er einfach nur die dunkleren Seiten des Menschenwesens verdrängt und nach außen projiziert, in diesem Fall in sogenannte „Gegenmächte“.

So argumentiert Valentin Hacken im Prinzip, wenn er sagt, dass die Erwachsenen über die Sexualität ihrer Kinder erschrecken, mit ihren eigenen Ängsten nicht fertig werden und Ich-fremde Anteile nicht zu integrieren verstehen. Es mag sein, dass dies in vielen Erwachsenen ebenfalls eine psychologische Realität ist, doch ich spreche hier von einer Wirklichkeit, die weit jenseits dessen liegt. Es geht nicht darum, bestimmte Aspekte der Sexualität nicht integrieren zu können und zu verteufeln, sondern es geht um die grundsätzliche Frage, hinter welchen Erscheinungen der Wirklichkeit welche Geister stehen. Und es gibt ein ganz klares Unterscheidungsmerkmal, ob es um eine Scheidung der Geister oder aber um eine Flucht vor der (eigenen inneren) Wirklichkeit geht: die Angst.

Wer Sexualität aufgeregt verteufelt, der wird bis in seine Gebärden hinein offenbaren, dass es Angst ist, die seine Überzeugungen, seine Gedanken und Äußerungen färbt – und dann liegt die Vermutung sehr nahe, dass hier auch eigene Verdrängungen mitspielen, die allen Äußerungen dann die Note des Scheinheiligen und Verklemmten geben... Wer aber über die verschiedenen Offenbarungen und Erscheinungen der Sexualität ganz ruhig, klar und geradezu nüchtern Aussagen macht, die ebenso ruhig, klar und nüchtern einmal nachvollzogen und nach-erlebt werden können, bei dem ist es nicht die Angst, die seine Gedanken färbt. Und ob dennoch etwas an Verdrängung oder ähnlichem vorliegt, das mag man innerlich selbst zu erleben versuchen. Man möge aber ebenso versuchen, sorgfältig und unbefangen zu erleben, von welcher Ebene der vollen Wirklichkeit eigentlich gesprochen wird...

Leib und Seele

Es ist sehr deutlich, dass Sexualität und der Bereich des Seelischen in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Sexualität hat ihre Ursache in der Leiblichkeit, in aus dieser Leiblichkeit aufsteigenden Trieben und Impulsen. Das Seelische ist ein eigenes Reich – es kann dieses Eigene entweder mehr oder weniger behaupten, oder aber mehr oder weniger der Dominanz dessen verfallen, was von der Leiblichkeit her kommt...

Ist es denn so schwer zu verstehen, dass es einen weltenweiten Unterschied ausmacht, ob zwei Menschen einander mit einer tiefen Zärtlichkeit küssen oder ob sie in ihrem Küssen vor allem die Leiblichkeit ausüben und genießen? Es ist der Unterschied, ob sich die Seele offenbart, zart bis ins Leibliche hinein – oder ob sich das Leibliche geltend macht und die Seele ein wenig miterlebt, selbst stark auf das Leibliche fixiert. Zwischen der romantischen, zart erotischen Liebe und der leiblich betonten Lust liegt eine ganze Welt...

Natürlich ist es die Aufgabe einer pädagogischen Aufklärung, die ganze Spannbreite dessen zu berühren, was wir mit „Liebe“ oder aber „Sex“ bezeichnen. Pädagogik besteht aber nicht nur in Aufklärung, sondern hat auch einen wesentlich moralischen Inhalt. Das hohe Ziel der Pädagogik ist es sicher nicht, dass Jugendliche sich nach dem Unterricht „in einem Porno zurechtfinden können“! Sondern das hohe Ziel der Pädagogik ist es, dass der Unterschied – und auch der Wertunterschied, der moralische Unterschied – zwischen Leib und Seele erlebbar wird.

Und nun ist es das Wunderbare jeder wahren Pädagogik, dass sie nichts vermittelt, sondern nur dasjenige zum Wachstum bringt, was als Anlage längst da ist. Und so geht es nicht um „Wertevermittlung“ (wie in alten, überlebten Jahrzehnten), sondern um ein zartes Berühren und Bewusstmachen dessen, was inmitten der Seele der Kinder und Jugendlichen selbst lebt. Denn wie Hacken selbst schreibt: Auch heute sind die Mädchen und Jungen jenseits der Schwelle der Jugend auf der Suche nach innigen, verantwortungsvollen Beziehungen. Hier offenbart sich wirklich das Wesen der Seele – und in dieses Wesen leuchtet bereits die Realität des Geistigen hinein, die den Menschen auf seinem Schicksalsweg Wege führen wird, auf denen er denjenigen anderen Menschen begegnet, zu denen er diese innigen Beziehungen finden wird...

Worum es geht, ist also, die Kinder und Jugendlichen in demjenigen zu stärken, was sie selbst in sich tragen – und zwar zuinnerst, als innerste Sehnsucht und auch als innerstes Wissen: als das Wissen, dass es um dies geht, vor allem um dies. Aber wie schnell kann dieses Wissen verloren gehen! Wie schnell können sich die jungen Menschen im Labyrinth derjenigen Welt verirren, in der es eben doch um völlig andere Dinge geht! Bräuchte es je irgendeine Pädagogik, wenn es diese Möglichkeit der Verirrung nicht gäbe?

Wo denn ist in der äußeren Welt die innerste Sehnsucht der Seele sichtbar – rein sichtbar? Wo geht es um die reine Sehnsucht der Seele nach der anderen Seele? Ist dies in der heutigen Welt nicht immer vermischt mit der starken Betonung des Körperlichen – und steht die Leiblichkeit, das Sexuelle, bis hin zur Diskriminierung gerade der Frauen, nicht immer wieder dominant im Vordergrund? In der Werbung? Auf den Straßen? Im Fernsehen? Im Musikgeschäft? Wo wir auch hinschauen? Nein, unsere Welt ist heute nicht menschlich. Es fehlt ihr zutiefst die Seele – diese wird immer wieder unterdrückt, oft geradezu verspottet.

Von der Diskriminierung der Unschuld

Das Seelische darf sich heute überhaupt nicht mehr in aller Reinheit offenbaren. Oh, die Welt hat nicht einmal mehr eine Ahnung von dieser Reinheit, wie sie möglich wäre, wenn sie sich einmal in all ihrer Schönheit offenbaren würde! Man kennt dies noch in alten Bildern, die scheinbar einer fernen Vergangenheit angehören – Bildern aus Märchen und Bildern aus Dorffesten vor über einhundert Jahren...

Da gab es noch Mädchen, die mit einem reinen Herzen innerlich zitternd auf den ersten Kuss warteten – von demjenigen Jungen, dem sie heimlich schon lange ihr ganzes Herz geschenkt hatten... Und da gab es noch Jungen, denen es genauso ging... Und selbst das Leibliche offenbarte diese Reinheit: Zurückhaltende Anmut, scheue Natürlichkeit. Und selbst die Kleider: strahlendes Weiß, farbenfroh bestickt mit Blumen, wie sie auf dem Felde so tief wahr das Gleichnis der Unschuld offenbaren...

Wo bleiben diejenigen Bemühungen, die auch nur ansatzweise gleich dem „Gender Mainstreaming“ dieser Offenbarung des Seelischen – des reinen Seelischen – eine „gleichberechtigte“ Möglichkeit erkämpfen würden, ohne dass eine solche Offenbarung heute überall und notwendigerweise der Lächerlichkeit preisgegeben wäre? Wir kennen doch alle sehr gut die heutige Wirklichkeit – wir wissen doch, dass die verschiedensten Formen der Sexualität etc. heute viel eher als Alltäglichkeit durchgehen als alles, was mit aufrichtiger Scham, mit tiefer Scheu, mit unschuldiger Reinheit der Seele zu tun hat. Wir wissen doch, was einer Seele geschehen würde, die sich wirklich in dieser Weise offenbaren würde, weil es ihr Wesen ist: Sie würde entweder verlacht und verspottet werden – oder man würde ihr fast mit Gewalt klarzumachen versuchen, dass sie etwas sehr verklemmt und „dimensionslos“ sei...

Was ich versuche, ist, zum Erleben zu bringen, dass die wirkliche Reinheit der Seele heute etwas ist, was nicht nur völlig verloren geht – sondern auch, selbst da, wo es auftreten und sich offenbaren würde, heftigsten Angriffen und Demütigungen ausgesetzt wäre.

Wir leben längst nicht mehr in einer Welt, in der alles einfach nur „möglich“ ist. Man mag zwar mit Recht darauf hinweisen, dass zum Beispiel Homosexualität noch immer diskriminiert wird, so dass durchaus nicht alles gleichermaßen möglich ist, und dennoch leben wir in einer Welt, in der ein ungeheurer Druck dahingehend besteht, das „Mögliche“ auch zu verwirklichen. So, wie die Atombombe, als sie denkbar war, auch gebaut wurde, und die „zivile“ Atomkraft folgte, so gibt es in unserer im Grunde längst tabu-losen Zeit längst eine massive Suggestion des „Alles ist möglich“. Diese Suggestion ist aber nicht wertfrei – sie ist eine Suggestion, sie drängt in Richtung Verwirklichung...

Man muss sich doch nur einmal klarmachen, welche Botschaft der Seele in unserer Welt Tag für Tag und Schritt für Schritt gesandt wird: Wir sehen auf Plakaten fast nackte Frauen. Wir sehen, wie es in fast jedem Werbespot und jedem Film um die Anziehung der Geschlechter geht. Wir sehen, wie sich diese Anziehung auf bestimmte Weise auslebt. Wir sehen, wie die Frauen und Männer aussehen, die das Bild der Öffentlichkeit prägen. Wir sehen, dass es ausgesprochen oder unausgesprochen immer wieder um Sex zu gehen scheint. Was ist denn die Botschaft dieses ununterbrochenen Einflusses auf die Seele?

Die Botschaft ist – radikal ehrlich formuliert: In diesem Leben, im Leben des Menschen, hat Sex einen enormen Stellenwert. Im Grunde geht es immer wieder darum. Du kannst davor weglaufen – oder du kannst dich dem hingeben. Tue das letztere – dann bist du modern und gehörst dazu. Aber du musst auch so aussehen, wie die Männer und Frauen auf den Plakaten... Und weil es im Leben vor allem um Sex geht, tust du gut daran, ihn auch wirklich zu wollen, egal wie alt du bist. Wenn du das nicht als Hauptsache und wesentliches Ziel empfindest, ist mit dir irgendetwas falsch...

Man sollte wirklich so ehrlich sein, sich dieser Erkenntnis zu öffnen – dies ist die Klarbotschaft der Massensuggestion unserer modernen Zeit mit all ihren Medien. Und man sollte sich einmal tief einfühlen in die Seelen derjenigen Mädchen und Jungen, die, zunächst ganz unschuldig, in einer solchen Welt aufwachsen.

Die Rettung des Seelischen

Die Frage ist absolut nicht, ob sich ein Junge zum Beispiel zu einem Jungen hingezogen fühlt. Die Frage ist, welchen Stellenwert das Körperliche und insbesondere das Sexuelle in unserer heutigen Welt hat – und welchen Stellenwert dieses Körperliche und insbesondere das Sexuelle hätte, wenn man wirklich einmal Ernst machen würde mit einem Erleben des vollen Menschentums, das aus Leib, Seele und Geist bestehen würde.

Leib haben wir heute – eine Welt des Leiblichen, mit ein wenig Seele... In der Sehnsucht nach Zuwendung, Anerkennung, Geborgenheit macht sich die Seele immer wieder stark geltend. Doch die äußere Welt, wie sie heute ist, widerspricht dem gerade. Die Menschen suchen diese Zuwendung, suchen Zärtlichkeit, Freundschaft und Liebe gegen dasjenige, was die Welt heute fortwährend suggeriert. Suggeriert wird die volle Freiheit, die volle Beliebigkeit, die ungeheure Bedeutung des Körperlichen. Heute hier, morgen dort, heute in, morgen out. Die sogenannte Freiheit und Freizügigkeit offenbart immer mehr ihre hässliche Seite: die Haltlosigkeit der Seele, die Unverbindlichkeit, die zur Verantwortungslosigkeit und schließlich zur Unfreiheit wird. Das „Anything goes“ wird zu einer Erosion des Moralischen als innerer Substanz, als innerem Schatz der Seele.

Die „Freiheit“ nimmt der Seele alles, was sie hat: sie verliert sich selbst. Im Bewusstsein, „frei“ zu sein, alles zu dürfen, und in dem Sog, der auf sie durch die massive Suggestion ausgeübt wird, sie müsse auch alles wollen, was möglich ist, verliert die Seele ihr Gefühl für ihr reines Zentrum, für ihren innersten moralischen Mittelpunkt, und verliert sich in der Peripherie, wo sie mehr und mehr einem Egoismus lebt.

Das Moralische gibt gerade wenige Freiheitsgrade – die tiefe Freiheit liegt gerade darin, aus Freiheit diese Beschränkung zu wollen, weil darin gerade das Moralische lebt. Dazu gehört heute Mut – denn der Spott der äußeren Welt liegt sehr, sehr nahe und droht in jedem Augenblick da, wo heute noch jemand aus moralischem Impuls heraus auf etwas verzichtet. Auf etwas verzichten? Auf die moderne Freiheit verzichten? Welcher zurückgebliebene Idiot macht denn so was...?

Doch im Verzicht liegt gerade die Rettung des Seelischen. Man kann entweder den Sex in all seinen Varianten kennenlernen, vielleicht noch so früh wie möglich, und dabei mit dem Seelischen immer tiefer in das Leibliche hineingezogen werden – oder aber man kann warten, mit allem, sogar mit dem harmlosen Kuss, bis einem derjenige Mensch begegnet, der die eigene Seele bis ins Innerste erschüttert, so dass sie sich ihm – oder ihr – hingeben will, und niemandem sonst... Dies ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, oder wie zwischen einer gewöhnlich gewordenen Pfütze und den in allen Regenbogenfarben glitzernden Tautropfen des gerade anbrechenden Morgens. Der Esoteriker Hans Sterneder hat dieses Geheimnis der Reinheit der Seele wunderbar beschrieben – aber die Frage ist: Wird dies heute überhaupt noch verstanden? Gibt es überhaupt noch Seelen, die in sich empfinden, was es heißen würde, diese Reinheit zu einer Wirklichkeit zu machen?

Und man denke auch an das Buch von Henning Köhler: „Vom Ursprung der Sehnsucht“:

Wir müssen zum einen über das zwischenmenschliche Beziehungsfeld, das Ich-Du-Ereignis sprechen: über den, ich möchte fast sagen: verfemten Bereich der Zärtlichkeit, dem ja heute, wenn er nicht heillos eingekitscht wird, offener Spott entgegenschlägt; wir müssen zweitens sprechen über den schwer mißhandelten Begriff der Kreativität; und über ein Drittes, was Kreativität und Zärtlichkeit verbindet, wird zu sprechen sein. Nennen wir dieses Dritte, dem wir nachspüren wollen, Eros... Zu der Quelle oder Substanz, um die es hier geht, verlieren wir in der gegenwärtigen Zeit mehr und mehr die Verbindung, sie wird uns fremd, und es ist eine sehr ernste, den Gesundheitszustand des einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft betreffende Frage, die gar nicht oft genug gestellt werden kann, welche Möglichkeiten wir haben – und seien es nur ganz kleine, dem Entfremdungsprozeß entgegenzuwirken.


Valentin Hacken rennt mit seinem Aufsatz offene Türen ein. Es ist keine Frage, dass ein Pädagoge Verständnis für alle Lebensformen haben sollte und seinen Schülern eine umfassende Toleranz und ein umfassendes Vertrauen vermitteln sollte – und dies wird auch die Zukunft sein. Doch die Frage ist: Wird es in Zukunft noch Pädagogen geben, die die Fähigkeit haben, ihren SchülernInnen auch zu vermitteln, dass es einen Unterschied gibt – dass es einen Unterschied macht, ob man alles ausprobiert oder nicht? Ob man die „Liebe“ als etwas Unkompliziertes, dann aber auch Gewöhnliches behandelt – oder ob man sie von einem Geheimnis umgeben bleiben lässt? Wird es noch Pädagogen geben, die es schaffen, die SchülerInnen den Unterschied erleben zu lassen, der darin liegt, ob man als „Liebespaar“ öffentlich auf dem Schulhof „herumknutscht“ oder ob man dies nur dann tun will, wenn beide Seelen ganz allein sind...? Nicht aus Verklemmtheit, sondern gerade weil man von der Liebe so hoch denkt, weil man sie so tief empfindet, so rein, so zart...

Es bräuchte heute nicht nur Aufklärung, sondern auch den Geist eines Novalis. Sexualkunde ist das eine. Es bräuchte heute aber auch eine Geheimniskunde, einen Unterricht im Erleben des Mysteriums...