Rudolf Steiner über...
Rudolf Steiner über Ehrfurcht als Grundlage der Pädagogik
Durch die Geisteswissenschaft geht der Lehrer dagegen von der Grundlage aus: Aus der geistigen Welt ist ein geistig-seelisches Wesen heruntergestiegen; es hat sich in einem Menschenwesen physischer Art verkörpert. Es hat Geistiges aus der geistigen Welt gebracht und mit dem verbunden, was aus der Vererbungsströmung herstammt. Wir haben dieses ganze lebendige Menschenrätsel vor uns und haben an seinem Werden zu arbeiten. – Wie überkommt einen da eine ungeheure Ehrfurcht vor dem werdenden Menschen! Denn ehrfurchtgebietend steht vor uns, was uns die Götter vom Himmel zur Erde heruntergeschickt haben.
Und das zweite Gefühl, was uns beschleicht, wenn wir dem Kinde gegenüberstehen, das ist ein ungeheures Verantwortungsgefühl; aber ein Verantwortungsgefühl, das uns trägt, das uns wirklich Kraft und Wollen gibt zum Erziehen und zum Unterrichten. Es ist also das etwas, was lebendig in den Menschen hineinfahren kann. Ich möchte nicht mißverstanden werden, ich meine: was als Leben – nicht als Theorie, nicht als theoretische Pädagogik, nicht als lehrhafte Pädagogik – in den Menschen hineingeht, das ist dasjenige, was uns durch Geisteswissenschaft zukommt. Denn Geisteswissenschaft will [nicht] nur in den Ideen wiedergeben das allgemeine Weltenleben; sie will den Menschen teilhaftig werden lassen an diesem allgemeinen Weltenleben. Deshalb spielen bei dem aus der Geisteswissenschaft hervorgehenden pädagogischen Tun Dinge eine Rolle, die man eigentlich erst bemerkt, wenn man auf dieses Geisteswissenschaftliche sich einläßt.
8.9.1920, GA 297, S. 212.
Aus dem Lehrer und Erzieher wird ein pädagogischer Künstler, wenn er in sich wirken läßt, was er durch anthroposophische Geisteswissenschaft über den Menschen erfahren kann. Wir wollen nicht neue abstrakte Erziehungsgrundsätze aufstellen, sondern wir glauben, daß des Menschen ganze Persönlichkeit angeregt wird durch das, was Anthroposophie als Lebensodem, als geistig-seelischer Lebensodem dem Menschen geben kann. Wie das Blut auf selbstverständliche Weise den Organismus belebt, so soll die Geisteswissenschaft den, dessen Beruf das Erziehen und Unterrichten ist, so beleben, daß er mit dem Kinde wirklich eins werde und die Erziehung, der Unterricht etwas Selbstverständliches wird. Daß, wer die Pforten seiner Klasse durchschreitet, mit einer solchen Gesinnung vor die Kinder hintritt, das möchten wir in der Waldorfschule.
29.12.1920, GA 297, S. 265.
Wenn man aber der Anschauung ist, daß auf alle die unzähligen Geheimnisse, die das Weltenall birgt, der Mensch selbst gewissermaßen als das Endziel dieser Weltentwicklung die Lösung ist, so weiß man dann zwar, daß man im Menschen die Lösung der Weltenrätsel zu suchen hat, aber der Mensch selber erfordert, wenn man ihn kennenlernen will, wiederum unermeßliche Mühe, unermeßliche Arbeit, um in sein Wesen Einblick zu erhalten.
Wenn man dem Menschen in der Welt gegenüber so gestimmt ist, daß in ihm gewissermaßen ein Unsterbliches verborgen ist, dann gelangt man dazu, auch dem Kinde gegenüber jene scheue Ehrfurcht zu haben, die man als Lehrer und Erzieher haben muß, wenn man in der rechten Art an dieses Kind herantreten will.
4.1.1922, GA 297a, S. 139f.
Man bekommt das, was man braucht innerhalb der Erziehungswirksamkeit als die Ehrfurcht, die einen religiösen Charakter haben kann, wenn man sich bewußt wird: Die Kräfte, die du aus dem Kinde herausholst um das 7. Jahr, die du zum Zeichnen- oder Schreibenlernen verwendest, sie schickt dir im Grunde genommen der Himmel; also die geistige Welt schickt herunter diese Kräfte, das Kind ist der Vermittler, und du arbeitest eigentlich mit den aus der geistigen Welt heruntergesendeten Kräften. Diese Ehrfurcht vor dem Geistig-Göttlichen ist, wenn sie den Unterricht durchströmt, tatsächlich etwas, was Wunder wirkt im Unterricht. Und wenn Sie das Gefühl haben: Sie stehen in Verbindung mit den aus der Zeit vor der Geburt aus der geistigen Welt herunter sich entwickelnden Kräften –, wenn Sie dieses Gefühl haben, das eine tiefe Ehrfurcht erzeugt, dann werden Sie sehen, daß Sie durch das Vorhandensein dieses Gefühls mehr bewirken können als durch alles intellektuelle Ausspintisieren dessen, was man tun soll. Die Gefühle, die der Lehrer hat, sind die allerwichtigsten Erziehungsmittel. Und diese Ehrfurcht ist etwas, was ungeheuer bildend auf das Kind wirkt.
16.9.1920, GA 302a, S. 27f.
Ich glaube, die Zukunft der Pädagogik wird darin bestehen, daß nicht mehr gesprochen wird zu Lehrern, wie das heute geschieht, sondern daß gesprochen wird in lauter Ideen und Vorstellungen, die sich in Gefühle umwandeln können. Denn auf nichts kommt es mehr an, als daß wir imstande sind, in uns selbst als Lehrer die nötige Ehrfurcht und den nötigen Enthusiasmus auszubilden, um den Unterricht mit Ehrfurcht und Enthusiasmus auszuüben. Ehrfurcht und Enthusiasmus, das sind die geheimen Grundkräfte, welche als die zwei Kräfte in Betracht kommen, die die Lehrerseele eben durchgeistigen müssen.
16.9.1920, GA 302a, S. 32f.
Heute möchte ich zunächst auf einige Empfindungen hinweisen, die der Lehrer, der Erzieher eigentlich immer haben sollte, und die er sich auch immer wieder, ich möchte sagen, meditierend ins Bewußtsein hereinrufen soll. Die Grundempfindung muß eigentlich die sein, die ich in den verschiedensten Formen zum Ausdrucke gebracht habe: die Ehrfurcht vor der kindlichen Individualität. Wir müssen uns ja durchaus bewußt sein, daß eine geistig-seelische Individualität in jedem Kinde verkörpert ist, und daß wir in dem, was wir als das körperhafte Kind vor uns haben, eigentlich zunächst nicht einen wahren Ausdruck der kindlichen Individualität haben. Die Gesetzmäßigkeit, die Gliederung des menschlichen Organismus ist ja, wie Sie offenbar aus vielem ersehen haben werden, das vor unsere Seele getreten ist seit der Abhaltung des ersten Lehrerkurses, eine außerordentlich komplizierte. Und durch die verschiedensten Ursachen ist dasjenige, was die wahre Individualität eines Kindes ist, durch Hemmnisse im physischen und auch im ätherischen Organismus gehindert, sich vollkommen auszuleben, so daß wir eigentlich in dem Kinde immer vor uns haben die zunächst mehr oder weniger unbekannte wirkliche Individualität und dasjenige, was eigentlich maskiert ist durch das Leibliche des Kindes. Es ist dieselbe Wahrheit auch möglich in jenen anderen Form auszudrücken, die ich versuchte auch in den öffentlichen Vorträgen in Wien zu sagen: Wir müssen uns bewußt sein, daß in irgendeiner Individualität eines Kindes, wenn wir es radikal charakterisieren, ein Genie stecken könnte, und es könnte ja auch sein, daß wir selbst als Lehrer und Erzieher kein Genie wären. Wenn dieses Verhältnis stattfindet, daß das Kind ein Genie ist und der Lehrer kein Genie ist, so ist das ein vollständig berechtigtes Verhältnis, denn es können nicht alle Lehrer Genies sein, und die Pädagogik hat es mit den allgemeinen Gesetzen zu tun. Aber es würde selbstverständlich ganz falsch sein, wenn dann der Lehrer seine eigene Individualität oder sogar seine eigenen Sympathien und Antipathien dem Kinde einimpfen wollte, wenn er dem Kinde dasjenige als das Richtige, als das Wünschenswerte und so weiter beibringen wollte, was er selbst für das Richtige und für das Wünschenswerte hält. Er würde dann das Kind selbstverständlich auf seinem Niveau zurückhalten, und das dürfen wir unten keinen Umständen. Wir können uns da außerordentlich zu Hilfe kommen, wenn wir, ich möchte sagen, wiederum meditierend uns recht tief zum Bewußtsein bringen, daß alle Erziehung mit der wirklichen Individualität des Menschen im Grunde genommen gar nichts zu tun hat, daß wir eigentlich als Erzieher und Unterrichter im wesentlichen die Aufgabe haben, mit Ehrfurcht vor der Individualität zu stehen, ihr die Möglichkeiten zu bieten, daß sie ihren eigenen Entwickelungsgesetzen folge und wir nur die im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen, also im physischen Leibe und im Ätherleibe liegenden Entwickelungshemmungen wegräumen. Wir sind nur dazu berufen, diese im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen liegenden Hemmungen wegzuräumen und die Individualität frei sich entwickeln zu lassen; so daß wir dasjenige, was wir dem Kinde an Erkenntnissen beibringen, im Grunde nur dazu benützen sollten, um das Leibliche, sowohl das Physisch-Leibliche wie auch das Ätherisch-Leibliche, so weit vorwärts zu bringen, daß der Mensch sich eben frei entwickeln kann.
Meine lieben Freunde, das sieht abstrakt aus, ist aber das allerkonkreteste der Erziehung und deutet zugleich auf dasjenige hin, wo man die allermeisten Fehler macht. Viele Leute sagen, man müsse die Individualität des Kindes entwickeln. Das ist ebenso richtig, wie es auf der anderen Seite inhaltsleer ist. Denn wären nicht die physischen und ätherischen Hemmungen da, so würde sich nämlich die Individualität jedes Kindes am Leben richtig entwickeln. Diese physischen und ätherischen Hemmungen müssen wir aber gerade hinwegräumen. Sehen Sie, Sie brauchen sich ja nur vor die Seele zu rufen, was für Schreckliches wir eigentlich tun, wenn wir ohne weiteres sechs-, sieben-, achtjährigen Kindern das Schreiben und Lesen beibringen. Man rückt sich das nicht oft genug in aller Härte vor die Seele.
22.6.1922, GA 302a, S. 87ff.
Das Absurde geschieht darinnen, daß man eben davon ausgeht, dieses oder jenes Bestimmte müsse der Mensch wissen; daß man nicht davon ausgeht: wie muß der Mensch sein, damit er ein Mensch ist, ein Mensch, der richtig in das Weltengefüge eingegliedert ist?
Die äußerste Ehrfurcht vor dem Geistig-Seelischen muß der Lehrer in seine Schule hineintragen, und ohne diese äußerste Ehrfurcht ist im Schulmäßigen ebensowenig zurechtzukommen wie ohne eine gewisse künstlerisch-wissenschaftliche Bildung des Lehrers. Daher ist vor allen Dingen die Grundanforderung für den Lehrer, der auf Grundlage einer anthroposophisch orientierten Pädagogik wirken will, daß er Ehrfurcht habe vor den Entwickelungsmöglichkeiten desjenigen, was das Kind als sein Geistig-Seelisches in die Welt hineinträgt, und daß er sich auch dem Kinde als einem freien Wesen gegenüber fühlt, daß er daher die Maximen findet, welche das Kind so erziehen können, daß das Kind, wenn es später zurückschaut auf seine Erziehung, keine Beeinträchtigung seiner Freiheit, auch nicht in den Folgen dieser Erziehung sehen kann.
Was da gemeint ist, wird uns am besten dadurch ersichtlich sein, daß wir uns die Frage vorlegen: Was wird aus dem Menschen, wenn seine leiblich-physischen Eigentümlichkeiten im kindlichen Alter nicht richtig behandelt werden? Sie bleiben unausgebildet und gehen dann in das spätere Alter hinein. Was sind denn aber die kindlichen Eigenschaften für das spätere Alter? So paradox es klingt, es ist durchaus wahr: die kindlichen Eigenschaften für das spätere Alter sind Krankheitsursachen; das muß man in der seriösesten Gestalt wissen, daß die kindlichen Eigenschaften für das spätere Alter Krankheitsursachen sind. Dann wird man schon den richtigen inneren Impuls für eine Gesundheitslehre bekommen und auch für das Respektieren der menschlichen Freiheit im ganzen.
Denn vergleichen wir einmal, nehmen wir einen Menschen, der bis in die äußerste Faser seines Wesens für die Freiheit des Menschen enthusiasmiert ist, und er wird krank, er ruft sich den Arzt. Der Arzt kuriert ihn nach aller richtigen modernen Kunst. Wird er dadurch seine Freiheit beeinträchtigt glauben? Nie und nimmer. Dasjenige, was in dieser Weise an den Menschen herantritt, beeinträchtigt die Freiheit des Menschen nie und nimmer.
Dasselbe Gefühl muß gegenüber der Erziehungs- und Unterrichtskunst vorhanden sein. Man muß das radikal aussprechen, aber wiederum kann das radikal Ausgesprochene eben auf seine richtige Nuance hin gehört werden. Dasselbe muß in bezug auf Erziehungs- und Unterrichtskunst vorhanden sein, daß man die Erziehungs- und Unterrichtskunst in einem gewissen Verhältnisse zur ärztlichen und zur medizinischen Kunst zu denken in der Lage ist. Selbstverständlich ist die Erziehungskunst keine Therapie im wahren Sinne des Wortes. Aber das Verhältnis des Menschen zum Kinde muß in einer solchen Weise angesehen werden, daß der Vergleich mit dem therapeutischen Verhalten durchaus als gerechtfertigt erscheinen kann.
3.1.1922, GA 303, S. 218f.
Aus dieser tieferen Menschenerkenntnis heraus, aus demjenigen was anthroposophische Geisteswissenschaft über den Menschen selbst erkennen lernt, aus dieser Menschenerkenntnis heraus, die nicht bloß das Denken, sondern die den ganzen Menschen nach Fühlen und Wollen ergreift, aus dieser Geisteswissenschaft heraus soll nun nicht dasjenige werden für die Waldorfschule, was man nennen könnte eine angelernte Methodik, sondern es soll dasjenige werden, was aus Menschenerkenntnis in dem Lehrer den Willen erzeugt, dem werdenden Kinde gegenüber alles das zu tun, was gewissermaßen die menschliche Organisation selber von dem Lehrer, von dem Erzieher, von dem Unterrichtenden fordert. Der größte Lehrer für die Waldorfschule ist nämlich, so paradox das klingen mag, das Kind selbst. Und indem der Waldorflehrer in seiner Brust die Überzeugung trägt: dasjenige, was dir von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr in dem Kinde entgegentritt, das ist der Ausdruck einer göttlich-geistigen Wesenheit, die heruntersteigt aus einem rein geistig-seelischen Dasein, die sich so entwickelt, wie sich das Physisch-Leibliche hier zwischen Geburt und Tod entwickelt und die sich verbindet mit demjenigen, was durch die Vererbungsströmung von Eltern und Voreltern an den Menschen physisch-ätherisch herankommt – diese ungeheure, tiefe Ehrfurcht, die man hat vor dem werdenden Menschen, der einem schon vom ersten Tage seines Daseins im physischen Leben zeigt, wie das Innerlich-Seelische hervortritt in den Offenbarungen der Physiognomie, in den ersten Bewegungen, im Lallen und in der werdenden Sprache, all dasjenige, was da durch wirkliche anthroposophische Menschenkenntnis hineinkommt an Ehrfurcht für dasjenige, was das Göttliche in die Welt heruntergesendet hat, all das ist das Wesentlichste, mit dem der Waldorflehrer die Pforte seiner Klasse jeden Morgen neu betritt. Und er lernt von den täglichen Offenbarungen dieses geheimnisvollen geist-seelischen Wesens dasjenige, was er tun soll.
Daher kann man die Methodik der Waldorfschule nicht in abstrakte Lehrsätze fassen. Man kann nicht ein erstens, zweitens, drittens sagen, sondern man kann nur sagen: durch anthroposophische Geisteswissenschaft wird der Mensch bekannt mit dem werdenden Menschen, lernt beobachten, was aus dem Auge des Kindes blickt, was aus den strampelnden Beinen spricht. Und dadurch, daß er mit dem Menschen bekannt ist, wird diese Anthroposophie nicht nur den Intellekt ergreifen, der systematisieren kann, sondern den ganzen Menschen, der empfindet, fühlt und will. Der Lehrer wird so vor das Kind hingestellt, daß die Methode für ihn ein lebendiges Dasein gewinnt, ein solches Dasein, daß er gegenüber jeder kindlichen Individualität, selbst in größeren Klassen, immer modifizieren und metamorphosieren kann, was er für dieses Kind gerade nötig hat.
11.11.1921, GA 304, S. 95f.
Angenommen, es befinde sich an der Seite des Kindes ein sorgenvoller Mensch, ein solcher, der auch Grund hat, Sorgen zu entwickeln. Beim reifen Menschen kommt nur schwach dasjenige zur Offenbarung, was als physische Wirkung dieser seelischen Sorgen in Konstitution, Mimik und Bewegung in seinem Körper ist. [...]
Das Kind, das neben den Erwachsenen heranwächst, ist aber ein Imitator auch der schwächsten physischen Zustände des Erziehers. [...] Und das Ergebnis ist, daß beim Kinde sogleich seine physische Konstitution von den geistigen Formkräften, die im Sinnes-Nervensystem ihren Sitz haben, ergriffen wird. Die inneren physischen und feineren Organe bauen sich im Sinne dessen auf, was das Kind an physischem Abbild der Sorge in sich aufgenommen hat. Es bekommt einen zur Sorge disponierten Organismus, der später auch leicht Lebenseindrücke in Sorge aufnimmt, die eine andere Konstitution nicht dazu treiben.
Das Kind wird auf diese Art zu einem sorgenvollen Menschen durch seinen physischen Organismus erzogen. Solche Erkenntnisse von feineren Lebenswirkungen muß man haben, wenn man im richtigen Sinne Erzieher sein will. [...]
Man muß also als Erzieher wissen, was geistig-seelisch vorgehen muß mit dem Kinde, damit dieses einen gesunden Organismus über den vererbten Organismus darüberstülpt. Man muß für das Geistige des Kindes das Notwendige tun und wissen, daß man gerade dadurch das Physische in der rechten Art versorgt, weil das Geistige der Bildner des Physischen dadurch wird. [...] Man muß so erziehen können, daß Anlagen ausgebildet werden, die man selbst gar nicht hat. Das heißt aber: Es gibt etwas im Menschen, was man als Erzieher oder Lehrer überhaupt nicht erfassen kann. Das ist etwas, dem man mit scheuer Ehrfurcht gegenüberstehen soll; und das sich durch die Erziehungskunst entfaltet, ohne daß man es wie ein Abbild der eigenen Fähigkeiten in den Zögling von sich aus hineinbringt. Das aber führt auf die richtige Antwort auf die Frage, die soeben aufgeworfen worden ist.
Wenn man als erwachsener Mensch im Leben steht, weiß man oftmals außerordentlich gut, was als Richtiges zu tun ist; man kann es aber nicht ausführen. Man fühlt nicht die Kraft dazu. Es ist manchmal dasjenige recht verborgen in dem Menschen, was ihn kraftlos macht gegenüber dem, was er tun soll. Eine wahre Menschenkenntnis ergibt dann, daß es der physische Organismus ist, der irgendwo so etwas sitzen hat, wie die Imitation der Sorge, die ich charakterisiert habe. [...] Man hat die Folge der in der Kindheit durch Nachahmung erworbenen Haltung des Sorgen-Organismus zu tragen. Man muß, wenn man Erziehungskunst ausüben will, in solch feine Zusammenhänge des Lebens hineinschauen können. – Wenn man das richtig versteht, dann sagt man sich: Der Erziehende, der Unterrichtende hat vor allen Dingen die Aufgabe, den Körper des Menschen so gesund zu gestalten, als er nur gesund gestaltet werden kann; das heißt, alles dasjenige an dem Spirituellen des Zöglings zu pflegen, wodurch der physische Organismus des Menschen im späteren Leben ein möglichst geringes Hindernis ist für dasjenige, was der Geist will.
19.8.1922, GA 305, S. 59ff.
Eigentlich müßten alle unsere höheren Empfindungen beginnen können mit der Grundempfindung des Dankes dafür, daß uns die kosmische Welt aus sich herausgeboren und in sich hineingestellt hat. Eine Weltanschauung, eine Philosophie, die auf abstrakte Anschauungen sich beschränkt, und nicht ausströmt in Dankbarkeit des Empfindungslebens gegenüber dem Kosmos, ist keine vollständige Philosophie. Sie ist eine Philosophie für die Kopfbetätigung, nicht für das Erleben des ganzen menschlichen Organismus. Eine Kopfbetätigung, die aber den übrigen Organismus nicht erwärmen kann, macht nicht glücklich, sondern unglücklich. Denn sie entwickelt sich wie ein Fremdkörper, wie eine seelische Geschwulst. Das Schlußkapitel einer jeden Philosophie sollte in diesem Gefühle der Dankbarkeit gegenüber den kosmischen Mächten auslaufen. Und wenn der Autor dies auch nicht unmittelbar sagt, so sollte es doch im Leser angeregt werden. Diese Dankbarkeit aber muß vor allen Dingen der Lehrer, der Erzieher haben. Es muß sie auch instinktiv jeder Mensch haben, dem ein Kind zur Erziehung anvertraut ist. Es ist auch das erste Bedeutungsvolle, das durch eine spirituelle Erkenntnis erreicht wird, daß man die Dankbarkeit schöpft für die Tatsache, daß man ein Kind zur Erziehung erhalten hat. Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Wesen des Kindes – Ehrfurcht und Dankbarkeit sind in diesem Punkte nicht zu trennen – muß der Anfang der Gesinnung sein, mit welcher der Erzieher an seine Aufgabe geht. Es gibt nur eine Stimmung gegenüber dem Kinde, welche die richtigen Impulse zum Erziehen und Unterrichten gibt; und das ist gerade dem Kinde gegenüber die religiöse Stimmung.
19.8.1922, GA 305, S. 71f.
Man soll sich nicht sagen: du sollst dies oder jenes in die Kinderseele hineingießen, sondern du sollst Ehrfurcht vor seinem Geiste haben. Diesen Geist kannst du nicht entwickeln, er entwickelt sich selber. Dir obliegt es, ihm die Hindernisse seiner Entwickelung hinwegzuräumen, und das an ihn heranzubringen, das ihn veranlaßt, sich zu entwickeln. Du kannst dem Geist die Hindernisse wegräumen im Physischen und auch noch ein wenig im Seelischen. Was der Geist lernen soll, das lernt er dadurch, daß du ihm diese Hindernisse wegnimmst. Der Geist entwickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. Aber sein Leben ist dasjenige, das man als Erzieher in seiner Umgebung entfaltet. Die allergrößte Selbstverleugnung ist Aufgabe des Erziehers. Er muß in der Umgebung des Kindes so leben, daß der Kindesgeist in Sympathie das eigene Leben an dem Leben des Erziehers entfalten kann.
19.8.1922, GA 305, S. 74.
Und wir sind mit Geist, Seele, Körper der richtige Lehrer, wenn wir richtige Menschenbeobachtung aus Menschenkenntnis heraus entwickeln können. Richtige Menschenbeobachtung sieht in dem werdenden Menschen ein Göttergeschöpf. [...] Die größte göttliche Offenbarung ist der sich entwickelnde Mensch. Lernt man diesen sich entwickelnden Menschen nicht bloß äußerlich anatomisch-physiologisch kennen, lernt man erkennen, wie in den Körper Seele und Geist hineinschießen, hineinströmen, dann verwandelt sich jede Menschenerkenntnis in Religion, in fromme, scheue Ehrfurcht vor demjenigen, was aus den göttlichen Tiefen in die weltlichen Oberflächen hineinströmt. Dann bekommen wir dasjenige, was uns als Lehrer trägt und hält, und was das Kind schon fühlt, was sich beim Kinde in die Hingabe, in die selbstverständliche Autorität wandelt.
11.8.1923, GA 307, S. 135.
Und das Schönste und Edelste, was man sich im Erlernen erringen kann, ist, daß man das Gefühl, die Empfindung hat: Es ist schwierig, mühevoll, an eine Sache heranzukommen. – Wer da glaubt, daß er immer nur mit gescheiten Worten das Wesen einer Sache treffen kann, soweit es notwendig ist, der hat überhaupt keine Ehrfurcht vor den Dingen der Welt, und Ehrfurcht vor den Dingen der Welt ist dasjenige, was zum ganzen, vollendeten Menschen gehört, soweit der Mensch vollendet und ganz werden kann innerhalb des irdischen Daseins. Etwas empfinden davon, wie hilflos man ist, wenn man an das Wesen der Dinge heranwill, wie man da alles zusammennehmen muß, was man in seinem ganzen Menschen hat, das gibt erst die wahre Stellung des Menschen zur Welt. Die kann man dem Kinde nur vermitteln, wenn man sie selber hat. Methodik des Lehrens, die muß leben, die kann nicht bloß ausgeübt werden. Methodik des Lehrens muß erblühen aus den Lebensbedingungen des Erziehens. Und sie kann erblühen aus den Lebensbedingungen des Erziehens, wenn sie erwächst aus einem lebendigen Sich-Erfühlen des Lehrenden, des Erziehenden im ganzen Weltenall.
10.4.1924, GA 308, S. 69.
Das Größte, was man vorbereiten kann in dem werdenden Menschen, in dem Kinde, das ist, daß es im rechten Momente des Lebens durch das Verstehen seiner selbst zu dem Erleben der Freiheit kommt. Wahre Freiheit ist inneres Erleben, und wahre Freiheit kann nur dadurch im Menschen entwickelt werden, daß man als Erzieher und Unterrichter so auf den Menschen hinschaut. Da sagt man sich: Freiheit kann ich dem Menschen nicht geben, er muß sie an sich selbst erleben. Dann muß ich aber etwas in ihn verpflanzen, zu dem sein eigenes Wesen, das ich unangetastet lasse, nachher einen Zug verspürt, so daß es untertaucht in das Verpflanzte. Und ich habe das Schöne erreicht, daß ich im Menschen erzogen habe, was zu erziehen ist, und unangetastet habe ich gelassen in scheuer Ehrfurcht vor der göttlichen Wesenheit in jedem einzelnen individuellen Menschen, was dann selber zum Begreifen seiner selbst kommen muß. Ich warte, indem ich alles das im Menschen erziehe, was nicht sein Eigenes ist, bis sein Eigenes ergreift, was ich in ihm erzogen habe. So greife ich nicht brutal ein in die Entwickelung des menschlichen Selbstes, sondern bereite dieser Entwickelung des menschlichen Selbstes, die nach der Geschlechtsreife eintritt, den Boden. Gebe ich dem Menschen vor der Geschlechtsreife eine intellektualistische Erziehung, bringe ich an ihn abstrakte Begriffe heran oder fertig konturierte Beobachtungen, nicht wachsende, lebenssprühende Bilder, dann vergewaltige ich ihn, dann greife ich brutal in sein Selbst ein. Wahrhaft erziehen werde ich ihn nur, wenn ich nicht eingreife in sein Selbst, sondern abwarte, bis dieses Selbst selbst eingreifen kann in das, was ich in der Erziehung veranlagt habe. Und so lebe ich mit dem Kinde demjenigen Zeitpunkte entgegen, wo ich sagen kann: Da wird das Selbst in seiner Freiheit geboren; ich habe ihm nur den Boden bereitet, daß es sich selber gewahr werden kann.
10.4.1924, GA 308, S. 73f.
Woran kranken wir am allermeisten? Ich habe, indem ich sozusagen ganz zentral unsere Pädagogik und Didaktik charakterisieren wollte, immer wieder darauf hinweisen müssen, wie wir, in scheuer Ehrfurcht vor dem, was die göttlichen Mächte als Selbst des Menschen in die Welt gesetzt haben, diesem Selbst als Erzieher zu seiner Entwickelung verhelfen. Und dieses Selbst, es wird nicht in Wahrheit erfaßt, wenn es nicht im Geist erfaßt wird; es wird in Wahrheit verleugnet, wenn es nur am Stoff erfaßt wird. Vor allen Dingen hat im materialistischen Leben der neueren Zeit das Ich gelitten durch die Mißerkennung, die Mißanschauung des menschlichen Selbstes, denn indem man überall losgegangen ist auf das Anschauen im Stoffe, auf das Handeln im Stoffe, zersplitterte vor dem Menschen der Geist, damit aber sein Selbst. Setzt man mit den naturhaften Methoden der Naturerkenntnis Grenzen, sagt man, man könne nicht in die Welt des Geistigen eindringen, so behauptet man nichts Geringeres als: man kann nicht in die Welt des Menschen eindringen.
11.4.1924, GA 308, S. 85.
Der Mensch ist ja, bevor er ein Erdenwesen wird, ein seelisch-geistiges Wesen, das in seelisch-geistigen Welten lebt. Ich habe darauf schon hingedeutet. Er steigt herunter, verbindet sich als seelisch-geistiges Wesen mit dem physisch-ätherischen Menschenkeim, der zustande kommt teils durch die Tätigkeit des Seelisch-Geistigen selbst, teils aber durch die Vererbungsströmung, die durch die Generationen durchgeht und die durch Vater und Mutter an den Menschen, der sich im physischen Leib verkörpern will, herankommt. Wenn man dieses Seelisch-Geistige vor sich hat, das da an den Menschen zunächst herankommt, wird man es mit scheuer Ehrfurcht betrachten. Man wird gewissermaßen dem Werden des Kindes mit einem religiösen Gefühl auch als Lehrer gegenüberstehen; ich möchte sagen, mit einem priesterlichen Gefühl, weil die Art, wie sich Seelisch-Geistiges im Kinde enthüllt, wirklich zu einer Offenbarung des Seelisch-Geistigen im Physisch-Ätherischen wird. Hat man die Stimmung, daß sich ein von Göttern Gesandter herunterbegibt auf Erden und sich im Leibe verkörpert, dann bekommt man die richtige Gesinnung, die man in der Schule zu entfalten hat.
16.4.1924, GA 309, S. 65.
Da wird Herz und Sinn zurückgeführt zu dem, was vom Menschen selbst an Geistig-Seelischem da war in der geistig-seelischen, vorirdischen Welt, was aus dieser Welt heruntergestiegen ist in die physische, und man sagt sich: Du Kind, jetzt, nachdem du durch die Geburt ins irdische Dasein eingetreten bist, bist du unter Menschen; vorher warst du unter geistig-göttlichen Wesenheiten. – Was gelebt hat unter geistig-göttlichen Wesenheiten, das ist heruntergestiegen, um unter Menschen zu sein! Man sieht das Göttliche im Kinde werden. Man fühlt sich wie vor einem Altar. [...] Dann aber wird einem jedes einzelne Menschenkind zu einem heiligen Rätsel. Denn dann bildet jedes einzelne Kind die große Frage [...]: Wie soll man das pflegen, was einem die Götter heruntergeschickt haben in die irdische Welt? – Man lernt sich erkennen zu einem Helfer der göttlich-geistigen Welt, und man lernt vor allem die Frage aufwerfen: Was kann werden, wenn man mit einer solchen Gesinnung an den Unterricht und an die Erziehung herangeht?
Wahre Pädagogik geht vor allen Dingen von dieser Gesinnung aus. Auf diese Gesinnung, die Pädagogik, den Unterricht zu pflegen, darauf kommt es an! Menschenerkenntnis kann nur erworben werden, wenn die Menschenliebe – also hier die Liebe zum Kinde – zur werktätigen Gesinnung wird. Entsteht eine solche Gesinnung, dann wird der Erzieherberuf zum Priesterberuf; ...
17.7.1924, GA 310, S. 14f.