Zukunft der Waldorfpädagogik?
Von den Doppelgängern zur Anthroposophie
Eine Eltern-Lehrer-Begegnung.
Lehrer P.: „Liebe Anwesende, Eltern und Lehrer, wir sind heute hier zusammengekommen, um einmal gemeinsam über die Waldorfpädagogik zu sprechen.“
Lehrer E.: (leise zu sich): „Amen.“
Lehrer P.: „Wie bitte?“
Lehrer E.: „Nichts.“
Lehrer P.: „Ich möchte einleitend nicht viele Worte machen, sondern nur noch sagen, dass ich es großartig finde, dass eine solche gemeinsame Begegnung zustande gekommen ist und dass ich dies auch für sehr notwendig halte. Damit gebe ich das Wort in die Runde.“
(Schweigen)
Vater A.: „Also dann möchte ich mich zunächst einmal anschließen. Auch ich finde es wunderbar, dass wir uns hier endlich einmal begegnen. Wir sollten das viel öfter tun. Die Waldorfpädagogik ist etwas Großartiges, und die heutige Zeit stellt doch viele Fragen, stellt viele Herausforderungen. Die Frage ist doch: Was ist diese Pädagogik eigentlich, was bietet sie für ein Potential – und wie kommen wir hier gemeinsam weiter? Als Schule, als Schulgemeinschaft.“
Lehrerin H.: „Ich verstehe nicht, warum wir ein solches Treffen machen. Ich meine, wir machen Waldorfpädagogik, wir unterrichten Ihre Kinder, Sie schicken Ihre Kinder in die Schule. Was soll so ein Abend?“
Lehrer E. (leise zu sich): „Das frage ich mich auch“.
Vater A.: „Frau H., ist das Ihr Ernst? Waldorfpädagogik ist eine Kulturaufgabe. Das, was wir heute haben, ist noch längst nicht das, was Waldorfpädagogik sein könnte. Warum wehren gerade Sie sich so gegen ein solches Gespräch? Sie arbeiten doch oft genug mit kopierten Arbeitsblättern –“
Lehrerin H.: „So muss ich mit mir nicht reden lassen! Ich wusste doch gleich, dass das wieder einmal ein Versuch der Eltern ist, Kontrolle auszuüben!“
Lehrer P.: „Frau H. ... nun beruhigen Sie sich einmal. Von Kontrolle merke ich hier nichts. Was zu bemerken ist, ist, dass hier Eltern sitzen, denen die Waldorfpädagogik wie uns ein tiefes Anliegen ist – und dass es ein gemeinsames Bedürfnis gibt, auf diese Pädagogik zu schauen, um uns weiterzuentwickeln, nicht stehenzubleiben...“
Lehrer E.: „Das kann doch jeder machen, wie er Lust hat. Ich finde auch, dass das nicht auf kollektiven Beschluss oder gar Zwang hin geschehen kann. Im Übrigen denke ich, dass ein gehöriger Teil der Weiterentwicklung darin bestehen würde, sich von dem einen oder anderen, was Steiner gesagt hat, einmal zu verabschieden. Er war nicht ‚der große Meister’, er hat auch viel Unsinn gesagt, der heute längst überholt ist. Da sollte die Weiterentwicklung ansetzen.“
Lehrer B.: „Also Herr E., nichts gegen Ihren Deutschunterricht, der ist durchaus gut, dagegen sage ich nichts. Aber Sie sind hier an einer Waldorfschule. Grundlage dafür, hier zu unterrichten, ist eine intensive Auseinandersetzung mit Rudolf Steiners Werk. Davon habe ich in den zwei Jahren, in denen Sie nun schon bei uns sind, noch nicht viel bemerkt – immer wieder kommen Sie nur mit Ihren Vorurteilen, die hier an einer Waldorfschule wirklich nichts zu suchen haben!“
Mutter F.: „Ich verstehe das nicht. Da kommen wir hier einmal als Eltern und Lehrer zusammen, und Sie streiten sich? Wir Eltern haben noch nicht einmal etwas gesagt!“
Lehrer P.: „Das finde ich auch. Frau F., wollen Sie nicht gleich etwas sagen?“
Mutter F.: „Ja, gerne. Ich bin heute hier, weil mir die Waldorfpädagogik ein Anliegen ist – für mein Kind und auch sonst. Ich möchte eine gute Schule. Und ich möchte dazu beitragen, dass es eine gute Schule ist. Ich finde auch die Kommunikation untereinander ganz wichtig, sogar entscheidend. Es geht doch um ein Miteinander!“
Lehrerin H.: „Aber wissen Sie, das Miteinander gibt es doch auf Elternabenden, auf Festen... Im Übrigen würde ein gutes Miteinander darin bestehen, uns Lehrer auch einmal in Ruhe zu lassen. Ich meine, ich muss morgen früh um halb sechs wieder aufstehen, und heute bin ich dann bestimmt wieder einmal erst um elf Uhr zuhause. Und eigentlich wäre da ja auch noch der Unterricht, der vorbereitet werden müsste.“
Vater B.: „Diese ganze Frage der Zeitnot und Überlastung wäre auch etwas, was man einmal gemeinsam anschauen müsste, um auch darüber zu sprechen! Aber das kann doch kein Punkt sein, um ihn gegen eine solche Begegnung wie heute Abend auszuspielen – sondern hier könnte man gerade ansetzen und sagen: Die Überlastung ist ein Riesenproblem. Was können wir gemeinsam tun, damit eine Vertiefung der Waldorfpädagogik nicht schon hier scheitert?“
Lehrer E.: „Ja, das sind dann schöne, wohlklingende Worte, aber Tatsache ist doch nun einmal vor allem, dass wir jetzt hier zwei Stunden sitzen werden und dass nichts dabei herauskommen wird, außer dass wir spätabends nach Hause kommen und morgen früh sehr müde sein werden – oder aber nicht gut vorbereitet.“
Mutter M.: „Herr E., das liegt doch an uns! Wenn Sie so an die Sache herangehen, sind Sie doch selbst verantwortlich dafür, dass nichts dabei herauskäme.“
Lehrer E.: „Ich habe das schon oft genug miterlebt...“
Vater A.: „Das können Sie kaum – wir treffen uns heute zum ersten Mal.“
Lehrer E.: „In den Konferenzen läuft es auch oft genug so.“
Lehrerin S.: „Jetzt möchte ich auch einmal etwas sagen. Ich muss Frau M. ganz recht geben. Es liegt an uns, ob etwas aus einem solchen Abend herauskommt oder nicht. Und ich sehe es auch nicht so wie Frau H., dass wir völlig überlastet sind. Natürlich gibt es Elternabende, Konferenzen oder auch eine solche Zusammenkunft wie diese heute hier, wo man spät nach Hause kommt. Aber das wäre alles kein Problem, wenn man hinter der Sache steht und die nötige Begeisterung aufbringt.“
Lehrerin H.: „Was soll denn das heißen –“
Lehrer P.: „Liebe Frau H., wir wollen uns hier jetzt nicht streiten, sondern wir wollen gemeinsam auf die Waldorfpädagogik schauen. Wer möchte in diesem Sinne etwas Positives dazu beitragen?“
Vater B.: „Ich möchte an das, was Frau S. gesagt hat, anschließen – an die nötige Begeisterung. Sehen Sie, diese Begeisterung ist die absolute Grundlage für die Waldorfpädagogik. Aber man kann diese Begeisterung niemandem von außen geben, man kann sie nicht einmal einfordern – obwohl sie die Grundbedingung ist. Sehen Sie, wenn wir uns hier voller Argwohn begegnen, wenn wir uns gegenseitig mit Verdächtigungen oder Vorwürfen zerfleischen, können wir diesen Abend ganz leicht stundenlang füllen, und es würde tatsächlich nichts dabei herauskommen, wie Herr E. es gesagt hat. Eigentlich hat es nur Sinn, sich zu begegnen und dann auch in ein Gespräch miteinander zu kommen, wenn man bereits miteinander für die Waldorfpädagogik brennt – oder wenn die Begeisterung sich zumindest in der gemeinsamen Begegnung entzünden könnte...“
Lehrer E.: „Na, dann zündeln Sie mal.“
Mutter F.: „Herr E. – diese Bemerkung war jetzt wirklich überflüssig!“
Lehrer E.: „Die Sache ist doch, dass ich mit dieser ‚Begeisterung’, von der Herr B. immer spricht, nichts anfangen kann. Für mich ist das Dogmatik pur. Ich habe meine eigene Begeisterung, und ich glaube, sagen zu können, dass ich guten Unterricht mache. Mehr brauche ich nicht, und mehr verbitte ich mir eigentlich auch. Ich möchte nicht darüber diskutieren, was die ‚richtige Begeisterung’ ist. Ich möchte früh genug zuhause sein, um einen guten Unterricht vorbereiten zu können, und im Übrigen habe ich bereits gesagt, was ich denke.“
Vater A.: „Herr E., wenn wir über die Waldorfpädagogik sprechen, so sprechen wir auch über die Anthroposophie. Jeder Lehrer, wenn er gut ist, hat seine Art der Begeisterung. Doch die Anthroposophie gibt noch völlig andere Zugänge zu völlig anderen Begeisterungs- und Seelenkräften. Das ist die Quelle der Waldorfpädagogik, nicht einfach eine gewöhnliche pädagogische Begeisterung, ein gewöhnliches pädagogisches Ethos, das Sie – hoffentlich – an jeder Schule finden.“
Lehrerin H.: „Aber was nützt das, wenn es einem wie ein Zwang aufgedrückt werden soll?“
Mutter M.: „Niemand will Ihnen etwas aufdrücken oder Sie zu etwas zwingen!“
Lehrerin H.: „Und warum ist das heute eine Pflichtveranstaltung?“
Lehrer B.: „Weil man die Pflicht aus Neigung tun soll, wie Goethe gesagt hat – nein, nicht tun soll, sondern tun will. Das ist natürlich die Voraussetzung: Dass man, wenn man an einer Waldorfschule tätig ist, den Willen hat, sich in diese Pädagogik zu vertiefen, auch den Willen hat, sich innerlich weiterzuentwickeln, an sich zu arbeiten, auch zum Beispiel an der eigenen Begeisterung zu arbeiten...“
Lehrerin H.: „Und wenn man ihn nicht hat, dann eben doch gezwungen zu werden...“
Vater B.: „Frau H., niemand kann Sie zwingen, Begeisterung zu entwickeln. Wie sollte das gehen? Aber schauen Sie einmal auf Ihr eigenes pädagogisches Ethos. Nehmen Sie einmal innerlich Fühlung damit auf, ganz innerlich. Und dann empfinden Sie den Kern, das Wesen dieser Ihrer Begeisterung. Und dann empfinden Sie – ganz für sich, ohne Zwang –, was dieses Wesen ist ... ob es etwas Fix-und-Fertiges ist, oder ob es etwas Lebendiges ist, etwas, was sich immer weiter entwickeln kann, entwickeln will... Nicht als Zwang, sondern als eine Art sanfte Frage, als eine Ermutigung...“
Lehrerin H.: „Das kann ich ja gerne machen – aber dazu brauche ich nicht so einen Abend hier.“
Mutter M.: „Was Herr B. meinte, war doch, dass wir alle dies immer wieder tun müssten. Wir sind doch alle Erzieher – ob als Lehrer oder als Eltern –, und diese Besinnung auf das, was unser innerster Impuls ist, um gute Erzieher zu sein, um für die Kinder das Beste zu tun und zu geben, diese Besinnung wäre immer wieder die Voraussetzung dafür, dass auch wir in ein Gespräch kommen könnten...“
Lehrer G.: „Das klingt schon besser, dann hört endlich der subtile Zwang auf.“
Mutter M.: „Welcher Zwang denn?“
Lehrer G.: „Der Zwang eben, dass sich einige hinstellen und sagen: Waldorfpädagogik ist das-und-das; die Voraussetzung dafür ist das-und-das. Und man muss das-und-das tun.“
Vater A.: „Herr G., das sagt doch niemand. Oder anders gesagt: Natürlich ist Waldorfpädagogik kein Selbstbedienungsladen, wo sich jeder rausnimmt, was er braucht oder was er meint, dass Waldorfpädagogik ist. Es gibt eine Sphäre der Objektivität – und nur, wenn man an diese herankommt, kommt man an die Waldorfpädagogik heran. Aber niemand kann den anderen zwingen, an diese Sphäre herankommen zu wollen. Der Wille dazu ist eben die Grundbedingung, überhaupt in ein gemeinsames Gespräch zu kommen. Wenn dieser Wille nicht da ist, kann man sich natürlich nur streiten.“
Lehrer G.: „Wollen Sie sagen, dass bei mir der Wille nicht da ist?“
Vater A.: „Auch das können Sie nur selbst beantworten.“
(Schweigen)
Vater B.: „Aber die Frage ist nun natürlich: Wie macht man das überhaupt? Wie macht man das, dass man an das, was in einem selbst ganz individuell als pädagogisches Ethos lebt, herankommt? Denn das ist doch zunächst etwas relativ wenig Bewusstes. Und wenn es bewusst wird, sind es zunächst Vorstellungen, wird es zu Vorstellungen, die wiederum mehr oder weniger abstrakt sind – und vielleicht mit dem wirklich in einem lebenden Ethos schon nicht mehr allzu viel zu tun haben, weil sie eben nur noch Vorstellungen sind, während das Ethos, die Begeisterung eine wirkliche Kraft ist. Die Frage ist also: Wie macht man das, an seine innerste Begeisterung heranzukommen, so dass sie nicht bloß in gedankliche Vorstellungen übersetzt wird, sondern dass man selbst mit seinem Bewusstsein an diese Kraft herankommt? Denn nur auf diese Weise kann man auch mit unserer Frage weiterkommen...“
Lehrerin T.: „Können Sie das noch einmal erklären? Was sollen wir tun – und wozu ist das notwendig?“
Vater B.: „Es geht darum, dass wir eigentlich immer nur in Vorstellungen leben – und dass diese als solche abstrakt sind, keine Wirklichkeit haben. Die Wirklichkeit wird gerade ausgelöscht, wenn man in die Vorstellung hineinkommt. Das ist gerade die Grundlage für die menschliche Freiheit: Im Vorstellungsleben ist der Mensch völlig frei, denn die Vorstellungen sind wirklich nur noch bloßer Schein. Der Mensch kann sich alles vorstellen, aber es ist keine Realität. Ich kann mir vorstellen, meine Schwiegermutter umzubringen – und habe es nicht getan. Ich kann mir vorstellen, ein Engel zu sein – und bin es nicht. Man kann sich alles vorstellen – aber gerade weil das Vorstellungsleben bloßer Schein ist, kann es auch sein, dass es nicht einmal die wirkliche Wirklichkeit widerspiegelt, also nicht einmal der Schein eines Spiegelbildes ist.
Konkret gesprochen heißt das, dass in uns allen ein reales pädagogisches Ethos lebt, eine reale Kraft der Begeisterung – mag sie manchmal noch so klein oder auch zurückgeschlagen sein, sie ist da, individuell in ganz verschiedener Gestalt, aber als Kraft doch immer real existent. Und auf der anderen Seite wollen wir hier über Waldorfpädagogik sprechen, haben darüber individuell ganz unterschiedliche Vorstellungen – und die Frage ist, inwieweit diese Vorstellungen mit der Wirklichkeit zu tun haben. Denn die Waldorfpädagogik ist auch eine Wirklichkeit, auch in ihrer Nicht-Verwirklichung, als Ideal, als Idee, die im individuellen Menschen zum Ideal werden kann. Das Wesen dieser Pädagogik ist eine übersinnliche Wirklichkeit, auch wenn sie von keinem Menschen ergriffen werden würde. Ob sie auch auf Erden eine Wirklichkeit wird, das liegt an uns Menschen, die versuchen, der realen Idee individuell Gestalt zu geben, sie, wie unvollkommen auch immer, auch zu einer irdischen Realität zu machen. Aber wenn wir darüber sprechen, haben wir zunächst nur unsere individuellen Vorstellungen von dieser Waldorfpädagogik, aber nicht nur von ihr, sondern auch von der Anthroposophie, von Rudolf Steiner...
Die Vorstellungen können von der Realität aber gravierend verschieden sein, ja können sogar das völlige Gegenteil dieser wirklichen Realität abbilden. Sie sind keine Wirklichkeit, deswegen können sie nahezu jede Gestalt annehmen. Und so kann der eine die Vorstellung von der Waldorfpädagogik als einer völlig überalterten Pädagogik haben, von der eigentlich nur noch eine Handvoll Ideen was taugt, während der Rest zurückgelassen werden müsste – aber vielleicht hat er das wirkliche Wesen dieser Pädagogik überhaupt nicht verstanden, hat also in seinen Vorstellungen nur eine völlige Karikatur, ein Gegenbild.
Wenn wir aber nur in den Vorstellungen bleiben, können wir hier einem ewigen Streit überhaupt nicht entgehen, denn jeder hält seine Vorstellungen natürlich für wahr – und es gibt natürlich auch immer Anzeichen dafür, warum sie wahr sein können. Denn natürlich kann der, der das Wesen der Waldorfpädagogik vielleicht tiefer verstanden hat, von dem anderen als Dogmatiker, ja vielleicht sogar Fanatiker ‚wahrgenommen’ werden – und doch kann auch dies wieder eine bloße Vorstellung sein, die aus dem Nicht-Verstehen der Waldorfpädagogik selbst hervorgeht. Denn was ist das Merkmal, das Wesen eines Dogmatikers? Dass er die Wirklichkeit nicht sehen will. Aber vielleicht sieht derjenige, der den anderen als Dogmatiker ‚wahrnimmt’, nur nicht dessen Wirklichkeit, und vielleicht nimmt er den anderen nur deshalb als ‚Fanatiker’ wahr, weil dieser nicht aufhört, dazu aufzurufen, das wirkliche Wesen dieser Pädagogik wahrzunehmen, zu empfinden, zu erleben – also nicht in seinen Vorstellungen zu verbleiben...
Wenn wir aber nun versuchen, uns auf unser individuelles pädagogisches Ethos zu besinnen und an dieses erlebend heranzukommen, dann lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf eine Wirklichkeit. Hier nämlich liegt der Unterschied zwischen Vorstellung und Gefühl und mehr noch, zwischen Vorstellung und Willen. Das Ethos, die Begeisterung, ist eine reale Wirksamkeit, eine wirksame Realität, ein wirklicher Aspekt des individuellen menschlichen Willenswesens. Wenn wir den Blick also darauf lenken, kommen wir weg von den bloßen Vorstellungen, die so unterschiedlich sein können, dass man sich darüber hervorragend stundenlang streiten kann – und am Ende nicht das Geringste gewonnen hat, noch immer keinerlei Realität in den Händen hat –, und kommt einer Realität näher, über die man sich zunächst gar nicht zu streiten braucht, weil man sich über Tatsachen erst einmal nicht streiten kann, aber auch, weil man sich in diesen Tatsachen sicherlich viel näher ist als in den Vorstellungen.
An diesen Tatsachen ansetzend, kann man dann vorsichtig darüber zu sprechen zu beginnen versuchen, was Waldorfpädagogik ist, ihrem Wesen nach, und sein könnte, hier auf Erden. Die individuell reale Tatsache des pädagogischen Ethos, der pädagogischen Begeisterung, der Liebe zum Kindeswesen und zu den individuellen Kindern – das ist der Ansatzpunkt, den man dann hätte. Und es ist auch die reale Grundlage der Waldorfpädagogik. Darüber müsste man dann nicht mehr streiten, sondern man hätte die gemeinsame Grundlage schon, denn auf den eigenen Willen schauend, würde jeder bereits ein pädagogisches Ethos finden. Die Frage wäre dann nur noch: Was hat ein Mensch wie Rudolf Steiner dazu zu sagen? Was hat er über diesen Wirklichkeitsbereich zu sagen?
Er war es zum Beispiel, der die Polarität von Vorstellungen und Willen aufgezeigt hat. Allein dies könnte doch schon die ganze Fruchtbarkeit und den vollen Wirklichkeitsbezug der Anthroposophie deutlich machen. Er war es auch, der immer wieder die Bedeutsamkeit zum Beispiel der Begeisterung betont hat – und auch hierzu braucht man doch bloß die modernen Neurowissenschaftler wie Professor Hüther zu hören, um zu wissen, dass das genau der Punkt ist, und wir wissen es doch auch selbst: Keine gute Pädagogik ohne Begeisterung! Aber Rudolf Steiner öffnet den Blick für noch viel weitere Wirklichkeiten, die Pädagogik wird bei ihm weiter und weiter, begeisternd weit, etwas ungeheuer Großes. Und dafür kann man sich ebenfalls begeistern!
Wenn wir einmal unsere Vorstellungen beiseite lassen und bei der Wirklichkeit ansetzen, dann können wir beginnen, über die Waldorfpädagogik so zu sprechen, dass wir uns nicht streiten, sondern dass wir uns alle als Lernende begreifen. Denn wo die Begeisterung Fuß fasst und sich entzündet, da ist es überhaupt nicht mehr nötig, sich zu streiten, da kann man sich mit Verständnis gegenseitig zuhören und sich auf das konzentrieren, was mit der Wirklichkeit zu tun hat und was einen weiterbringt.
Das Ethos ist etwas durch und durch Positives. Wenn wir diesen nicht aus dem Auge verlieren, dann weist uns dieses Ethos selbst nach vorne, in die Zukunft. Das Ethos hat mit dem guten Willen zu tun. Es will das Gute für die Kinder. Und wenn wir uns auf dieses Ethos, das wir in uns tragen, das unser eigenes Ethos ist, besinnen, dann werden wir in uns auch jenen guten Willen spüren, der der innerste Entwicklungswille ist – denjenigen Kern in uns, der überhaupt nicht stehenbleiben will, der sich immer weiter entwickeln will. Und wenn wir diesen Punkt in uns finden, dann brauchen wir niemandem mehr vorwerfen, es bestünde ein Zwang, denn wir wollen selbst, und das ist die alles entscheidende Wirklichkeit. Wir wollen einander nicht zwingen, wir wollen einander ermutigen, denjenigen Ansatzpunkt in uns zu finden, auf dem die wirkliche Anthroposophie aufbaut: den innersten, freien Entwicklungswillen des individuellen Menschen.“
(kurzes Schweigen, dann vereinzelter, schließlich vielfacher, längerer Beifall)
Lehrer P.: „Großartig! Das war einfach großartig. Wer hätte es so gut sagen können? Aber nun ist es wichtig, dass wir dies auch wirklich tun, dass es uns auch wirklich gelingt. Wie kommen wir in diese Anthroposophie so hinein, dass wir dabei mit der Realität verbunden bleiben und uns nicht wieder in die Welt der Vorstellungen, der Diskussionen, des Gegeneinanders und des Streites verlieren?“
Lehrerin D.: „Ein Weg ist das Künstlerische. Wenn man ins künstlerische Tun kommt, ist man auch mit der Wirklichkeit und dem Willen verbunden – und es hat auch etwas Verbindendes.“
Vater A.: „Das ist schon richtig, und ich als Künstler kann das nur unterstreichen. Auf der anderen Seite ist das Gespräch, die Begegnung im Sinne von Beuys, aber auch im Sinne von Steiner selbst, ebenfalls eine Kunst, sogar die allerhöchste: die soziale Kunst. Wenn wir hier versuchen, ein Erkenntnisgespräch über das Wesen der Waldorfpädagogik zu führen, dann kann dies zu einer solchen höchsten Kunst werden – zu einem Kunstwerk, wenn es uns gelingt...“
Vater B.: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, das heißt, es geht um die Kräfte des Bewusstseins. Eurythmie zum Beispiel wäre eine tiefe, klare Bewusstwerdung derjenigen übersinnlichen Kräfte, die in der menschlichen Sprache leben. Überall ist Anthroposophie Erkenntnis: Erkenntnis des tieferen, und zugleich muss man sagen: des höheren Menschenwesens. Und in dem, was dann als konkrete Impulse in die Welt tritt: Erkenntnis des tieferen Wesens der Pädagogik, des tieferen Wesens der Medizin, der Landwirtschaft im heilenden Sinne, der Nationalökonomie, des Sozialen... Wir dürfen uns also nicht scheuen, wirklich diesen Erkenntnisweg zu wagen. Und von diesem Weg aus wird dann auch alles Praktische, jedes gemeinsame Tun, auch alles künstlerische Tun eine neue Qualität haben – wenn auf dem eigentlichen Weg eine neue Substanz geschaffen werden kann...“
Lehrer G.: „Und wie macht man das nun konkret?“
Vater B.: „Ja, das ist die Frage. Es gäbe sicherlich mehrere Wege – aber das Wichtigste wäre immer, zu erleben, dass man diesen eigenen innersten Punkt nicht verliert. Dass man also immer erleben kann, warum das, was man dann konkret tut, mit diesem innersten Punkt zu tun hat – so dass es daran anschließt; dass man es also will, dass man dafür in jedem Moment wieder neu Begeisterung entfalten kann. Dass man sich also nicht fragen muss: Wozu machen wir das? Oder: Was hat das mit mir zu tun? Sondern dass man weiß, was es mit einem selbst und mit dem Wesen dieser Pädagogik zu tun hat – oder haben kann. Der wichtigste Punkt ist auch hier die Begeisterung; die Begeisterung und die Einsicht, die Erkenntnis, warum man etwas tut. Die Erkenntnis: warum man etwas tut; die Begeisterung: dass man es will. Wenn diese zwei Bedingungen erfüllt sind, kann man beginnen und kann auf viele verschiedene Weisen beginnen. Doch das Ziel wäre dennoch immer, nicht einfach ‚etwas zu tun’, ins sogenannte ‚Tun zu kommen’, sondern das Ziel wäre dennoch immer Vertiefung der Erkenntnis, Vertiefung dann auch der eigenen Seelenkräfte überhaupt, innere Entwicklung...
Man könnte also mit pädagogischen Vorträgen Rudolf Steiners beginnen. Er hat vieles gesagt, was wirklich tief die Begeisterung entzünden kann. Zum Beispiel der Pädagogische Jugendkurs, dieser ist heute vielleicht noch aktueller als damals, er ist eigentlich der Inbegriff des Modernen, darin steckt wahrhaftiges Dynamit in Bezug auf unsere ganze Zeit. Aber um sich in dieser Weise die Begeisterung entzünden lassen zu können, muss man doch zumindest diejenige Begeisterung mitbringen, dass man erkennt und empfindet, wie sehr dies mit uns, mit dem Menschlichen überhaupt zu tun hat. Man muss Rudolf Steiner und der Anthroposophie sozusagen erkennend entgegengehen, damit sie einen dann auch mitnehmen können auf diesen immer weiter reichenden Erkenntnisweg...
Und dann müsste man auch das Lesen innerlich ergreifen, verwandeln. Man müsste fortwährend versuchen, das, was man liest, auch zu erleben, innerlich zu prüfen, innerlich mitzumachen. Wenn Rudolf Steiner zum Beispiel von der Herrschaft der Phrase spricht, muss man dahin kommen, wirklich stark zu empfinden, wie sehr heute diese Phrase regiert. Das intellektuelle Bloß-Lesen müsste immer mehr einem erlebenden Lesen weichen, das so stark wird, dass man wieder fähig wird, sich innerlich erschüttern zu lassen von der Wirklichkeit...
Und dies könnte man dann noch intensiver ergreifen, indem man zum Beispiel innehält und aus verschiedenen Aspekten wirkliche Übungen macht. Man könnte sich zum Beispiel übend, für zwei, drei Minuten meditativ in so einen Punkt vertiefen: die Herrschaft der Phrase. Das würde bedeuten, mit aller Kraft, die einem im Denken, aber auch im Fühlen zur Verfügung steht, sich diese Wirklichkeit, in der wir heute stehen, so bewusst wie nur möglich zu machen, sie dann auch so stark wie nur möglich zu empfinden. Wir ahnen jetzt noch gar nicht, was dies für unsere innere Entwicklung bedeuten würde. Aber gerade dadurch, dass wir in dieser Weise unsere Seelenkräfte vertiefen und erweitern, werden wir in jeder Hinsicht auch unsere pädagogischen und überhaupt unsere voll-menschlichen Fähigkeiten entwickeln, erweitern und vertiefen.
Ein wesentlicher, entscheidender Punkt ist, dass in dieser Art des Übens vor allem auch der Wille entfaltet und verstärkt wird. Man kann ein Gefühl nicht intensiv fühlen, ohne dass der Wille aktiv wird. Man kann sich etwas nicht intensiv bewusst machen, ohne dass der Wille aktiv wird. All dies wirkt auf den Willen, wirkt aus dem Willen heraus und bringt diesen Willen in eine Entwicklung. Und dieser Wille, wenn er in das Denken hineingeführt wird, führt zu einer unbegrenzten Vertiefung der Erkenntniskräfte, Schritt für Schritt. Das ist das Geheimnis der Anthroposophie. Es ist ein Mysterium des menschlichen Willens und der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und ihrer beider Verbindung... Die Realität dessen wird man nach und nach erfahren, wenn man diesen Weg wirklich geht...
Man braucht nur eine Begeisterung – eine Begeisterung für innere Entwicklung überhaupt. Dann wird man staunend erleben, immer wieder und wieder, wie weit diese Entwicklung führen kann, wie ungeheuer weitreichend es gemeint ist, wenn Rudolf Steiner sagt: Es wird da tatsächlich ein neuer Mensch in einem geboren. Ein durch und durch neuer Mensch – und doch derjenige, der man in seinem eigentlichen Wesen wirklich ist und werden will...
Es gibt im Menschen dagegen auch allerlei Abwehr, Gegenkräfte. Auch davon hat Rudolf Steiner natürlich sehr umfassend gesprochen, und auch darin kann man sich einmal vertiefen. Man kann also sogar eine Begeisterung dafür entwickeln, die in einem selbst wirkenden Gegenkräfte anzuschauen, den Widerwillen gegen eine solche Entwicklung, die Kräfte der Vorurteile, des Urteilens überhaupt, des Hochmutes, der Bequemlichkeit und so weiter, es ist der Begeisterung für diese Art von innerer Forschung und Entwicklung, von Selbsterkenntnis im umfassendsten Sinne keine Grenze gesetzt!
Aber auch hier gilt: Diese Begeisterung kann man nicht von außen entzünden, man muss sie selbst empfinden. Man braucht dabei vielleicht zunächst nicht einmal zu empfinden, was dies denn nun mit der Pädagogik zu tun hat, für die pädagogische Praxis ‚bringen soll’. Das würde man schon früh genug merken können, absolut sicher. Notwendig ist zunächst nur, eine Art Liebe zur Selbsterkenntnis, zur inneren Entwicklung überhaupt – das sind in dieser Hinsicht eigentlich Synonyme – zu entwickeln, und zwar auf einer realen Ebene. Es geht um das wirkliche Erleben, das Eintauchen in die reale Entdeckung dessen, was in der Seele eigentlich geschieht und was das tiefere Wesen des Menschen wirklich ist. Das hat nichts mit bloßen Vorstellungen zu tun, aber auch nichts mit abstrakter Psychologie. Es braucht eine Liebe und ein Vertrauen in Bezug auf ein wirkliches Eintauchen in die Wirklichkeit. Weg von den Vorstellungen und von dem bloß abstrakten ‚Erleben’! Rudolf Steiners frühes Hauptwerk, die ‚Philosophie der Freiheit’, trug den Untertitel: Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Da müssen wir hin!
Wir müssen dahin kommen, das Seelische, jede kleine Beobachtung in unserem eigenen Innern, immer mehr als eine wirkliche Realität zu empfinden. Also auch dann, wenn wir darüber sprechen, nicht sofort wieder in den Intellekt zurückrutschen und darüber sprechen, sondern mit dem Erleben verbunden bleiben und so eigentlich fortwährend im Forschen zu bleiben – selbst da, wo man dann darüber spricht, nicht völlig aus dem Erleben herauszufallen. Die Grenze zwischen Erleben und Über-etwas-Sprechen, soll also immer durchlässiger, immer dünner werden.
Das ist gerade die Überwindung der Abstraktion, auf die auf dem anthroposophischen Weg alles ankommt. Und das geht nur, wenn wir vor allem auch unser Denken immer willensstärker machen – was letztlich nur in der Meditation oder in solchen kürzeren meditativen Übungen geht. Aber schon ein Verständnis für das, wovon hier die Rede ist, würde sehr viel bedeuten. Denn da, wo man den realen Willen verstehend zu erahnen beginnt, da kann auch die reale Begeisterung entstehen und verstärkt werden – und auch eine Ahnung davon, wo der Ansatzpunkt ist, an dem der Mensch sich immer realer ergreifen kann. Anthroposophie wird dieser Weg immer mehr, wenn die Liebe zur Erkenntnis und zur inneren Entwicklung dazukommt – und sich immer mehr vertieft. Dies liegt wirklich in der menschlichen Freiheit, und im Grunde eröffnet sich hier auch das wirkliche Reich der Freiheit gleichzeitig immer mehr...“
Lehrer P.: „Ich danke Ihnen, das ist wirklich ein wunderbares Schlusswort! Leider ist für heute unsere Zeit zu Ende gegangen. Aber ich möchte uns allen zurufen: Lassen Sie uns das nächste Mal damit beginnen. Hier liegt wirklich ein Weg, der uns alle, Lehrer, Eltern, Schüler, immer inniger zusammenführen kann. Hüten wir das, was wir heute an Begeisterung empfunden oder zumindest geahnt haben können – und versuchen wir, dies bis zum nächsten Mal in bestem Sinne weiter zu verstärken und alles Negative außen vor zu lassen. Dann wird der heutige Abend wirklich der Beginn einer positiven Entwicklung gewesen sein, die für unsere Schule noch viel bedeuten kann... Ich wünsche allen herzlich eine gute Nacht und einen guten Heimweg!“
(Beifall fast aller Anwesenden)