Zukunft der Waldorfpädagogik?
Waldorfschule im 22. Jahrhundert
Ein Ausblick auf die Mission der Waldorfschule jenseits aller Pragmatik und Oberflächlichkeit.
Inhalt
Selbstverständlichkeiten
Wirklichkeiten
Dürftigkeiten
Die künftige Waldorfschule
Bedingungen
Die Frage der folgenden Reise des Denkens ist: Was kann die Waldorfschule der Zukunft sein – was könnte sie sein, was ist ihr wahres Potential, ihr eigentliches Wesen, ihre innerste Aufgabe?
Es gibt Menschen, die reagieren schon auf eine solche Fragestellung allergisch. Aber es wäre falsch, die weitreichende Erkenntnisfrage nach dem tiefsten (!) Potential gegen einen Pragmatismus auszuspielen, der zum Beispiel sagt: „Lasst die Waldorfschulen gute Schulen werden, dann haben sie ihre Aufgabe gut erfüllt.“
Wer nicht nach den Sternen greift, wird nicht weit kommen. Wenn man die tiefsten Möglichkeiten nicht einmal erkennt oder aber nicht ernst nimmt, wird man auch nie den Willen entwickeln können, sie zu erreichen. Man muss das „Unmögliche“ versuchen, um das Mögliche zu erreichen (Hermann Hesse). Um einem Potential überhaupt nahezukommen, muss nach ihm gestrebt werden... Man kann auch sagen: Nichts ist unmöglich, manches scheint nur so, weil es noch nie wirklich versucht wurde. Wunder sind nur dasjenige, an das man gar nicht mehr zu glauben wagte...
Selbstverständlichkeiten
Es ist keine Frage, dass Waldorflehrer gute Lehrer sein sollen. Es ist daher auch keine Frage, dass die Ausbildungsstätten für Waldorflehrer keinen Dilettantismus treiben dürfen, dass sie den werdenden Lehrern auch absolutes Grundwissen vermitteln müssen, wie es jeder Student der Pädagogik in den ersten Semestern lernt. Es wäre fatal, wenn Waldorflehrer nicht einmal jenes Grundwissen hätten, welches die Voraussetzung für eine gute Lernatmosphäre und zufriedene Kinder ist! Gut gemeinter Idealismus allein hilft nicht. Wenn man nicht einmal gewisse Grundfertigkeiten hat, wird man damit scheitern und dann schließlich ebenfalls – wie viele Lehrer vor einem, an den Staatsschulen und den Waldorfschulen – Kinder anschreien, an die Tafel schreiben, vor die Tür schicken und so weiter... Um wirklich Lehrer zu werden, braucht es grundlegende, basale Kenntnisse, und es braucht grundlegende, absolut notwendige Fähigkeiten, das Gewusste auch anzuwenden.
Doch dies ist nur die Technik, die Grundbedingung von Pädagogik – so wie die Fingerübungen und die geübten Finger des Pianisten. Schlimm wäre es, Waldorflehrer sein zu wollen und nicht einmal die Fingerübungen zu beherrschen. Doch diese machen den Klavierschüler noch nicht zu einem Pianisten. Und die pädagogischen Grundkenntnisse, die zu Fertigkeiten werden sollen, machen den Lehrer noch nicht zu einem Erziehungskünstler. Ein Erziehungskünstler ist mehr, weit mehr als ein guter Lehrer. Waldorfschulen brauchen gute Lehrer, aber sie sind, wenn sie nur diese haben, noch keine Waldorfschulen...
Es geht in diesem Aufsatz nicht darum, die gegenwärtige Realität zu beklagen, dass es an den Waldorfschulen allzu viele Lehrer gibt, die gute Waldorflehrer sein könnten, wenn sie die Grundfähigkeiten hätten, ohne diese aber sogar schlechtere Lehrer als an der Staatsschule sind. Vielmehr geht es hier darum, was Waldorfschule überhaupt sein kann, wenn sie ihr Potential ausschöpft – wenn es die Menschen täten, die Waldorflehrer werden. Der Pragmatismus hat an dieser Stelle also nichts zu suchen. Dass Waldorflehrer die „Technik“ beherrschen müssen, ist selbstverständlich – aber was sind Waldorflehrer ihrem Wesen nach?
Dies ist der Punkt, an dem Pragmatiker nicht mehr folgen können – weil sie nicht mehr folgen wollen. Sie haben eine natürliche Abneigung gegen das Ideale und den Idealismus – und weil sie das Geistige gerade ablehnen, gibt es nichts, was diese „naturgegebene“ Abneigung überwinden könnte. Sie müssen den Geist hassen, weil sie nichts in der Hand haben, wodurch sie ihn lieben lernen würden...
Die Pragmatiker machen geltend: „Vermittelt die nötigen Grundkenntnisse, dann ist alles in Ordnung.“ Richtig ist daran die Abneigung gegen einen falschen Idealismus, der lebensfremd die Grundlagen übersieht, auf denen erst sich das wahre Ideal entfalten kann. Der wahre Idealist muss tatkräftig im Leben stehen – er muss ein besserer Praktiker sein als der Pragmatiker selbst. Der richtig verstandene Idealismus hat diese Kraft. Die wirkliche Anthroposophie verbindet den stärksten Idealismus mit dem lebenspraktischsten Stehen im Leben, sie stellt den Geist wirklich in das Leben hinein. Sie denkt den Geist nicht aus, sondern der reale Geist macht den Menschen noch praktischer, als es jeder abstrakte Pragmatismus könnte.
Die Anthroposophie stellt sich niemals gegen wahre Erkenntnisse, auch nicht gegen die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften – wenn diese wirklich wahr und lebensfruchtbar sind. Aber die Anthroposophie geht über die Erkenntnisse der Wissenschaften und über die Praxis der heutigen Praktiker noch weit hinaus. Inwiefern?
Wirklichkeiten
Die Anthroposophie eröffnet weiteste Perspektiven auf das wirkliche, das volle Wesen des Menschen, der Welt und ihres Zusammenhanges. Sie blickt auf die geistigen Hintergründe, die erst die volle Wirklichkeit geben, wenn der Mensch erkennend – in einem lebendigen, erlebenden Erkennen – auch in diese eintauchen kann.
Hier wollen die Pragmatiker und die Geistverleugner ebenfalls nicht mit. Sie haben Angst vor dem Geist, weil sie glauben, das Ganze sei niemals beweisbar und niemals klar erkennbar. Doch sie brauchen sich nur einmal fragen, wie sie sich, ihren Lebenspartner und ihre eigenen Kinder betrachten: Als geist- und seelenlose Fleischmassen, die wie die Tiere auf Sinnesreize reagieren und daneben vielleicht noch gehirngebunden gewisse „intellektuelle Funktionen“ aufweisen? Man muss sich nicht gleich an das Wort „Seele“ gewöhnen, um doch anzuerkennen, dass Menschen Gefühle haben, dass sie Freude, Trauer, Schmerz empfinden können. Dass sie Begeisterung empfinden können – zumindest die eigenen Kinder, wenn man es schon selbst verlernt hat... Dass sie ein tiefes Erkenntnisstreben haben können, dass sie von tiefen Fragen nach dem Leben, auch nach dem Tod und nach Vielem bewegt sein können, nach dem Wesen des Menschen...
Wer nicht wie ein Pragmatiker verschämt oder brutal über solche Fragen hinweggeht, dem zeigen die Tatsachen selbst, dass hier mehr vorliegt, als die moderne Wissenschaft je erklären könnte oder wollte. Der Materialismus ist an diesem Punkt schon immer gescheitert – er hat es nur nie eingestanden. Wären die Pragmatiker und die Geistverleugner ehrlich mit sich selbst, müssten sie zumindest eingestehen, dass der Mensch ein ... ungeheures Rätsel ist. Die Tragik aber ist, dass die meisten von ihnen in ihrem Denken so eingefahren und selbstüberzeugt sind, dass sie die Realität des Rätsels und der Fragen gar nicht empfinden können. Das eingefahrene Denken schaltet die reale Erlebens-Fähigkeit vollständig aus – und so beantwortet das abstrakte, selbstgefällige Denken Fragen, die überhaupt nur beantwortet werden könnten, wenn man sie einmal wirklich erleben könnte.
Der Materialismus ist eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung“: Ein Mensch, dessen Denken sich ganz auf das Materielle fixiert, wird das Rätsel nie empfinden können – und ein solcher Mensch wird immer mehr mit dem physischen Gehirn denken, wird immer mehr nur ein intellektuelles Tier werden. Oder er bewahrt sich einen Rest Menschlichkeit, den er aber nicht als einen solchen Rest ansieht, denn er erkennt ja gar nicht an, dass der Mensch ein völlig eigenes „Naturreich“ bildet. Der Mensch ist das erste Naturreich, in dem der Geist selbst in die Natur einschlägt, wodurch auch die Seele eine Realität wird... Der Materialist aber verurteilt seinen eigenen Geist zur Nicht-Realität (es sei denn, er ist sehr geistreich, diese Ausnahmen gibt es auch) – und seine Seele zu einem dahinvegetierenden Rest, ohne den der Mensch wirklich zum Tier werden würde...
Was tut dagegen die Anthroposophie? Sie weist den Menschen hin auf sein wahres, volles Wesen. Sie eröffnet unzählige Blicke auf die differenzierten, unendlich wunderbaren Zusammenhänge einer Welt und ihrer Wesen, die über das Materiell-Stoffliche weit, weit hinausgehen – so, wie der Mensch über das Staubkorn hinausgeht, der Engel über die Amöbe...
Dürftigkeiten
Der Hass der Materialisten und Pragmatiker gegen alles Geistige ist eigentlich ein Hass gegen das Leben selbst, das in seiner Wirklichkeit so tiefgehend ist, dass es Angst einjagen müsste, wenn man es in seiner wahren Realität wahrnähme. Auch Materialisten können noch immer fröhliche, lebensfrohe Menschen sein, aber ihre ganze Weltsicht ist unendlich beschränkt – und so dann auch ihr Leben, so dann auch ihr Streben. Es kann sich eigentlich alles immer wieder nur auf das Materielle oder aber das Intellektuelle beziehen. Dort, wo es die Seele berührt, müssten sie ihre eigene Weltanschauung eigentlich schon verleugnen... Und dort, wo die tiefsten Lebensfragen heraufdringen, müssen diese gewaltsam unterdrückt werden. Engel – sind lächerlich. So etwas wie ein Schicksalsfaden, der sich durch das Leben zieht – ist Unsinn, oder Zufall.
Der Materialist hat keine Ahnung – aber er hat den Hochmut, einfach alles abzuweisen, denn „die Wissenschaft“ reicht ja völlig aus, alles zu erklären. Bis auf das, was sie nicht erklären kann, aber das wird ausgeblendet... Mit Gewalt will der Materialist an seiner Anschauung festhalten – denn sie gibt ihm und seinem unbeweglichen Denken Sicherheit. Er würde alle Sicherheit unmittelbar verlieren, wenn er sich wirklich darauf einlassen müsste, was doch wirkliche Tatsachen sind: dass es Gefühle gibt, dass es Fügungen gibt, Ahnungen, Regungen tiefer Selbstlosigkeit; dass der Mensch die Gesetze der Welt in seinem Denken finden kann; dass er einen Willen hat; dass jeder Mensch derart einzigartig ist; dass er sich innerlich in ungeahntem Maße entwickeln kann – man könnte auf unendlich viele Phänomene stoßen und immer mehr erleben, wie der Mensch ein unendliches Rätsel ist...
Dort, wo es kompliziert wird, hört der Materialist einfach auf zu denken – oder kehrt aggressiv zu dem zurück, was er schon immer gedacht hat und was scheinbar Erklärungen bietet, in Wirklichkeit aber nur völlig lückenhafte „Fertigbau-Gedanken“ sind, die angeblich irgendeinen Erklärungswert haben. Letztlich ist das Weltbild des Materialisten: Eine göttliche Welt, eine über die einfachsten Erklärungen hinausgehende Welt gibt es nicht, denn alles ist aus der Materie entstanden. – Dass hier der Bock zum Gärtner gemacht wird, dass nämlich die Theorie, der Glaube, die Prämisse zu einer „Erklärung“ und zur angeblichen „Realität“ aufgeblasen wird, wird absolut nicht mehr bemerkt.
Was unterscheidet dann aber Materialisten und Menschen, die nach der vollen Wirklichkeit streben? Alles. Der Materialist kann nur das Materielle und den an die Materie gebundenen Intellekt entwickeln. Der Mensch, der die Fesseln des Materialismus abwirft, kann alles entwickeln.
Besinnen wir uns einmal auf das Gefühl. Welche armselige Oberflächlichkeit und Blässe hat heute noch das Gefühl! Wo leben noch tiefe Gefühle? Allenfalls in sentimentalen Filmszenen, wo der Mensch an etwas erinnert wird, was er im Grunde schon längst verloren hat. Die Gefühle des Materialisten können sich nur auf das beziehen, was mit dem Leiblichen zu tun hat – und mit dem an den Leib gebundenen Egoismus. Auch ein Materialist kann sich schlecht fühlen, wenn ihn die Freundin verlassen hat. Warum eigentlich...? Auch ein Materialist kann seine Kinder liebhaben. Warum eigentlich? Wegen der Blutsverwandtschaft, die sich dann in gewissen Hormonen äußert? Wie auch immer, wirkliche Liebe ist dann eigentlich unmöglich – Liebe unabhängig von allen Leibesgrundlagen. Und wirkliche Liebe zu Menschen, die leiblich-verwandtschaftlich nichts mit einem zu tun haben, ist erst recht völlig unmöglich – unmöglich, oder aber unerklärlich...
Der Materialismus verhindert also etwas, was eine Realität sein könnte, wenn man den Materialismus abwerfen würde. Er erklärt die Wirklichkeit also nicht, er verhindert die volle Wirklichkeit gerade.
Denken wir einmal an die tiefen Gefühle, die ein Mensch haben kann, der tief religiös ist. Ein solcher Mensch kennt innere Empfindungen und ein inneres Erleben, das einem Materialisten für immer eine völlig unbekannte Welt bleiben wird – sowohl in ihrer Qualität, als auch allein schon in ihrer Tiefe. Der Materialist kann all dies für Illusionen erklären, aber er spricht über etwas, was er nicht einmal ansatzweise kennt und auch nicht einmal ansatzweise beurteilen kann, wenn er nicht zu seinen eigenen bequemen Glaubenssätzen Zuflucht nimmt. Die materialistische Holzhammer-Wissenschaft kann natürlich alles beurteilen...
Aber wo liegt die wahre Menschlichkeit? In einem reichen, tiefen inneren Seelenleben, das sich bis zu religiösen Empfindungen weiten kann – oder in einem sehr, sehr armen Seelenleben, das bis auf den hochmütigen, abstrakten Intellekt fast nichts mehr aufweisen kann?
Empfinden wir einmal das Wesen dieses Intellekts. Mit einem auf die Spitze getriebenen Hochmut ist er von sich selbst überzeugt, glaubt, alles beurteilen zu können – und fragt sich niemals, woher er eigentlich dieses Recht nimmt; woher er eigentlich seine Sicherheit nimmt ... und mit welcher Sicherheit, mit welchem Recht er anderen Menschen Dinge abspricht, ja sie sogar lächerlich macht.
In unserer Zeit geht der Intellekt aufgrund der zunehmenden Gefühllosigkeit immer mehr mit einer Profanisierung aller Lebensbereiche einher, mit erschreckender Oberflächlichkeit und Frivolität. Und dort, wo es zu menschlichen Konflikten kommt, da offenbart der Intellekt in Verbindung mit den aus den leiblichen Untergründen aufsteigenden egoistischen Impulsen seine ganze Aggressivität: etwa in einer kalten, aggressiven Sprache, in Zynismus, in starker Abwertung – und sich dabei immer in vollem Recht fühlend.
Im Intellekt lebt keine Wärme und kann keine Wärme leben. Das Wesen des Intellekts ist die Kälte, das Gefühllose. Liegt hier die wahre Menschlichkeit? Nein, hier liegt gerade ihr Verschwinden...
Die künftige Waldorfschule
Die Aufgabe der Waldorfschule der Zukunft ist keine Geringere als die Rettung des Wesens des Menschen. Die Waldorfschule ist der große Gegner des Intellekts, welcher selbst der große Feind des Menschenwesens ist und es von innen heraus verschüttet und erstickt. Während fast die ganze heutige „Kultur“ in der kalten Rationalität versinkt – und am anderen Pol in einem Genuss-Wellness-Spaß-Leibeskult, dessen verschiedene Aspekte als das Höchste im Leben verehrt und erstrebt werden –, ist es die künftige Waldorfschule, von der die Rettung des wahren Menschenwesens ausgehen wird:
Jenes Wesens, das Wärme in den Intellekt hineintragen kann, wodurch der Fluch durchbrochen wird und die wahre Natur des Geistes wieder beginnen kann, sich zu offenbaren: eine reine, eine im Grunde heilige Intelligenz, die immer mehr lernen kann, die ganze Tiefe des Lebens und der Wirklichkeit zu erfassen... Das Erkennen selbst kann eine heilige Handlung werden, ein Erkenntnis-Kultus, eine innige Kommunion mit der Wirklichkeit. Der Materialist sieht nichts, der wahre Mensch wird einst einen unendlichen Kosmos voller Wunder schauen. Die Waldorfschule aber wird dieses heilige Intelligenzwesen im Menschen retten...
Jenes Wesens, das Wärme in seinem Herzen empfinden kann. Reine Wärme, von den Fesseln des Leibes vollkommen freie Wärme, seelisch-geistige Wärme-Substanz, reale Liebe ... Liebe zur Welt, Liebe zum Mitmenschen. Die Menschheit hat heute noch nicht einmal eine Ahnung davon, wie tief und wie stark diese Liebe in Zukunft werden wird – in den Herzen derjenigen Kinder und Jugendlichen, die die Waldorfschule besuchen. Diese Kinder, diese jungen Menschen werden eine Liebe zur Welt fassen, wie sie heute noch gar nicht vorgestellt werden kann. Und sie werden von Lehrern erzogen werden, in denen selbst diese Liebe unendlich stark lebt, entwickelt in wahrer Selbsterziehung, in tiefem Streben nach einer Verwirklichung des Menschenwesens, in jeder Individualität auf einzigartige Weise...
Jenes Wesens, das Begeisterung empfinden kann – Begeisterung als unerschöpflichen Quell alles Handelns. Begeisterung als leuchtendes Juwel, welches das ganze Menschenleben heiligt. Was der Mensch mit wirklicher Freude und Begeisterung tut, strömt wirklich aus den Tiefen seines wahren Wesens. Hier liegt das Geheimnis des menschlichen Willens. Und die Waldorfschule wird die große Retterin des menschlichen heiligen Willens, der reinen, unschuldigen Begeisterungskräfte sein... Ach, wie sehr wird heute diese Lebenskraft des Menschenwesens durch die Kultur des Intellekts aufgezehrt und vernichtet! Die Waldorfschule wird gerade diese Lebenskräfte retten und hüten – und sie in eine Sphäre der Unschuld hineinstellen. Liebe zum Lernen, Begeisterung für alles, was mit einem reinen Streben, einer inneren Entwicklung zu tun hat; Begeisterung auch für alles wahrhaft Moralische, für das Gute... In der Waldorfschule werden all dies keine bloßen Worte sein, keine Phrasen, sondern Lebenskräfte – Lebenskräfte, die den Menschen ein ganzes Leben lang begleiten werden, die bis in das Leibliche hinein Verjüngungs- und Gesundungskräfte sein werden.
Nehmen wir nur ein winziges Beispiel. In der ersten Klasse können die Kinder noch Märchen hören – etwa das vom „Sterntaler“. In der Waldorfschule werden die Lehrer ein solches Märchen nicht nur erzählen. Sie werden daran selbst tiefste Seelenerlebnisse haben! Denn was für ein unendlich erschütterndes Bild ist dies: dieses reine Herz des Mädchens, diese tiefe Selbstlosigkeit. Alles schenkt es hin; immer wieder empfindet es, dass ein anderer Mensch dessen, was es selbst noch besitzt, nötiger bedarf – und so schenkt es sein Brot hin, seine Mütze, sein Leibchen, sein Röckchen... Und am Ende erhält es aus Himmelshöhen eine Überfülle, als reines Geschenk. Das ist weder in seinem ersten Teil noch am Ende eine sentimentale Geschichte, das ist im Bild eine Offenbarung des erschütternden Wesens des Menschen, des Mysteriums der Liebe! Und in der Waldorfschule werden die Lehrer dies in all seiner erschütternden Tiefe in ihrer Seele empfinden – und aus diesem Erleben der Wirklichkeit heraus sprechen. Und in den Herzen der Kinder wird das, was sie ja selbst aus Himmelshöhen in aller Fülle mitgebracht haben, wie die wunderbarsten Blüten aufgehen, Blüten nach einem Frühlingsregen...
Nur pflegen, hüten und herauslocken, was schon da ist, werden die künftigen Waldorflehrer – aber gerade dies ist eine Mysterienkunst, eine heilige Handlung! Erziehung wird nicht nur zu Kunst, sie wird zu einem Sakrament, denn es ist die Rettung des Menschenwesens, das Höchste...
Bedingungen
Was ist notwendig, damit die Waldorfschule der Zukunft ihre Aufgabe erfüllen kann? Es braucht Menschen, die diese wahrhaft heilige Aufgabe als die ihre empfinden – und die sich in wahrer Brüderlichkeit zusammenschließen. Es braucht Menschen, in denen ein tiefes Feuer der Begeisterung und der Sehnsucht brennt: Sehnsucht danach, das Wesen des Menschen retten zu können; Begeisterung für die unendliche Selbsterziehung, die dazu gehört, damit man zu dieser Rettung wirklich so stark beitragen kann, wie es hier angedeutet wurde.
Diese Selbsterziehung bedeutet, in voller Wahrhaftigkeit und immer größerer Tiefe all seine eigenen Schwächen anzuschauen, um sie nach und nach überwinden zu können. Es bedeutet, einen immer tieferen moralischen Willen zu fassen, dies alles auch wirklich zu wollen und auch wirklich zu tun. Es bedeutet eine immer radikalere Absage an alle Oberflächlichkeit, an alle Abstraktion, an alle intellektuelle Ablähmung des tiefen Erlebens, an alles, was jeden Gedanken, jede Empfindung, jeden Willensimpuls immer wieder profanisieren, ver-alltäglichen will. Es bedeutet einen vollen, starken, stärkeren, stärksten Willen zur Heiligung all seiner Seelenerlebnisse. Heilig soll das Denken werden, heilig das Fühlen, das Empfinden, heilig das Wollen, das Handeln! Heilig ohne jeden Stolz, heilig in tiefster Reinheit und Unschuld. Und indem so die Kräfte der Seele und die Kräfte des Geistes sich immer mehr vertiefen, weiten und erhöhen, erhebt sich der Mensch. Zum ersten Mal offenbart sich wirklich das Wesen des Menschen auf Erden...
Einst hatte sich dieses durch ein Gotteswesen offenbart, das Mensch wurde. Seine Kräfte haben sich mit der ganzen Erde verbunden. Durch Ihn kann der Mensch diese heiligen Schritte tun. Dann aber kann sich das Wesen des Menschen auch in jedem einzelnen Menschen offenbaren, der wirklich nach dieser heiligen Wirklichkeit strebt: das volle Wesen des Menschen wahrzumachen, zu verwirklichen, zur Geburt, zur Blüte, zur Reife zu bringen.
Die künftige Waldorfschule braucht nur eines: Sie braucht Menschen mit einem unbegrenzten Mut. Mut, sich zu dem wahren Wesen des Menschen zu bekennen und mit aller Kraft danach zu streben – und sich damit gegen die gesamte Kultur zu stellen, die, unter der Macht des Widersachers, diesen Mut nicht aufbringt, sondern dies alles lächerlich machen wird. Doch die künftigen Waldorflehrer werden dieser Kultur nicht feindlich gegenüberstehen, sie werden einfach tun, was sie als notwendig erkannt haben. Möge die Kultur ihnen feindlich gegenüberstehen, sie verspotten und mit ihrem Zynismus verfolgen – die künftigen Waldorflehrer werden ein leuchtendes Vorbild an Menschlichkeit sein, sie werden allen Spott auf sich nehmen und weiterhin unbeirrt ihren Weg gehen, zutiefst geliebt von den Kindern, die ihnen anvertraut sind. Und sie werden gemeinsam mit diesen Kindern, die zu jungen Menschen heranwachsen, die Kultur von innen verwandeln.
Die alte, an einen völligen Todespunkt gekommene Kultur wird mit all ihrem Spott allmählich zusammenbrechen, so wie eine überalterte Blüte ohne Frucht verfaulen wird. Doch in ihrer Mitte wird sich durch Menschen, die den Mut zur vollen Wahrheit des Menschenwesens aufbrachten, eine völlig neue Kultur erheben – die wirkliche Kultur des Menschen. Und dieser Kultur werden sich all jene Menschen anschließen, die durch den mutigen Weg der Pioniere ebenfalls den Mut finden, das volle Menschentum zu wagen, immer mehr... Reich wird das Leben werden, unendlich reich, unendlich tief, aufrichtig, warmherzig, sanftmütig.
Wenn das Wesen des Menschen sich offenbaren darf, weil der Geist nicht mehr verleugnet wird, sondern gerade nach ihm gestrebt wird, wird die Menschheit einer Kultur, einer Epoche der Brüderlichkeit entgegengehen. Und dies – dies ist die wahre Aufgabe der Waldorfschule.