Zukunft der Waldorfpädagogik?
Der Tod am Bettende
oder: Das Drama der zwei möglichen Richtungen des Willens
Der Tod. Seltsam, ihn plötzlich zu sehen. Fast. Die Nachricht des Arztes vor drei Wochen war ein Schock gewesen. Unheilbar. Letztes Stadium. Für die Schulmedizin ein hoffnungsloser Fall. Ein Fall. Für ihn ein Fall in den Abgrund. Fassungslos, ratlos, gedankenlos – obwohl die Gedanken sich gejagt hatten. Der Fall hatte erst aufgehört, als die Schmerzen begannen. Vor drei Tagen. An den Schmerzen war er aufgewacht für die Wirklichkeit. Und da konnte er dann auch wieder klare Gedanken fassen. Sie jagten sich nicht mehr. Sie waren so klar wie nichts jemals zuvor. Und nun stand er da. Der Tod.
Seltsam. Es gab Geschichten, in denen der Tod am Bettrand steht. Er hatte immer gedacht: mittelalterlich. Aber der Tod war zeitlos. Real. Und nun stand er an seinem Bettende. Er sah ihn nicht, wie er das Bettende selbst sah. Er fühlte ihn. Dunkel. Der Tod war dunkel. Nun konnte er sogar verstehen, warum man ihn mit Kapuze dargestellt hatte. Alles an ihm war dunkel. Und beängstigend real. Er wartete – der Tod. Wenn er schon gekommen war und wartete, würde er nicht mehr lange warten müssen...
Er wartete also. Seltsam. Er hatte Schmerzen, der Tod stand an seinem Bett, aber er hatte keine Angst. Alles war so klar. Die Gedanken, aber auch alles andere. Es gab keinen Ausweg. Es gab nur den Wartenden... Wozu dann Angst haben? Oh ja, er wusste, wovor man Angst haben konnte. Aber all das war nicht mehr möglich, wenn die Dinge so klar waren. Als seine Gedanken klar wurden, hatte es noch einen Rest von Angst gegeben. Nun, wo der Tod am Bettende wartete, war auch dieser Rest noch verschwunden.
Nur noch absolute Klarheit. Klarer als eine Sternennacht. Klarer als Kristallglas. Klarer als Messers Schneide...
Die Gedanken, die jetzt noch da waren, waren keine Gedanken mehr. Sie waren Schicksal. Schmerz. Gefühl. Wille. Wille ohne Ziel. In diesem Leben nicht mehr. Aber wie stark war dieser Wille! Er hatte nicht gewusst, dass der Wille so stark sein könnte...
Wenn er noch einmal leben könnte, weiterleben, und wenn auch nur drei Wochen ... nein, drei Tage ... nein, drei Stunden ... dann würde er alles mit Liebe tun. Nein, in Liebe. Aus der Liebe. Gleich war wieder Besuchszeit. Seine Frau und seine Kinder würden kommen. Vielleicht Kollegen. Vielleicht der eine oder andere Schüler. Oh, Liebe. Er hatte nicht gewusst, was Liebe war. Wirklich war. Jetzt wusste er es. Jetzt, wo der Tod am Bettende stand.
Seltsam, wie das Leben an einem vorüberzog. Das gelebte Leben. Das Leben, das eigentlich ach so oft gar kein Leben gewesen war. Kein Leben und vor allem keine Liebe. Nie hatte er die Liebe in sich getragen. Nie die ganze Liebe, die er erst jetzt kennenlernte. Musste man dafür erst sterben? Vielleicht starb der Mensch, weil er nicht die ganze Liebe in sich trug? Wenn er sie aber in sich trüge ... dann müsste er Sonne werden. Was er jetzt kennenlernte, war so groß, dass man es in seinem Herzen gar nicht bergen konnte. Man würde mit dieser Sonne im Herzen geradeso vergehen wie eine Kerze, die sich ganz ihrem Flammesein hingab.
Er würde nie wieder ärgerlich sein. Er würde nie wieder genervt sein. Nie nervös. Er würde aus der Ewigkeit heraus leben. Oh, wie sehr erinnerte er sich noch an den traurigen Blick einer Kollegin, die er wegen irgendetwas kritisiert hatte. Den Grund hatte er schon lange vergessen. Ihr Blick stand nun vor ihm, als wäre es vorhin gewesen. Traurigkeit, Verletzung, eine Wunde in der Seele. Nie wieder hatten sie ein harmonisches Verhältnis gefunden. Dieser Mangel wurde ihm jetzt erst klar. Und er wog wie Blei, schwerer, immer schwerer. Und all die anderen Menschen, denen er je begegnet war! Zahllose andere Situationen.
Aus wie vielen Momenten bestand ein Leben! Wie war es möglich, dass sie alle am Ende eines Lebens wiederkehrten? Wie nachlässig war er gegenüber jedem seiner Schüler gewesen! Oh ja, er hatte sich Mühe gegeben, wie man sich eben Mühe gab, und noch mehr – so hatte er gedacht. Nun kam ihm all dies vor wie Stroh. Leicht wie Flaumfedern auf der Waage der Ewigkeit... Es war, als stand nun das Wesen seiner Schüler hüllenlos vor ihm. Ihre Erwartungen, ihre Hoffnungen – gegenüber ihren Lehrern, aber auch gegenüber ihm persönlich. Und überdeutlich sah er, dass nichts, aber auch gar nichts an ihrem Verhalten je bösartig oder falsch gewesen war. Die ganze Welt bestand aus Versäumnis. Versäumnis aneinander. Versäumnis der Liebe, Mangel an Verständnis, Fehlen von wahrer Geduld, Güte, Erkenntnis...
Oh, wie unendlich klar war die Erkenntnis auf einmal! Oder war es der Wille? Das Gefühl? Die Klarheit umschloss all dies, und es hörte auf, etwas Getrenntes zu sein. Liebe. Erkennende Liebe. Gütiges Verständnis. Ein anderes Sein. Und er fühlte: Dieses andere Sein würde alles Sein verwandeln. So wie ein einziger Tropfen lebendiges Blut ein Meer verändert. Wie eine einzelne Kerzenflamme einen ganzen Dom erhellt. Nicht bis in die fernsten Winkel, aber alles in ihrem Umkreis und weiter, immer weiter...
Der Tod wartete am Bettende. Und das Leben verwandelte sich in einen Spiegel. In liebende Erkenntnis. Woher kam diese brennende Flamme? Es blieb nichts Dunkles. Alles war licht und leicht und gut. Alles, was nicht licht und liebevoll war, war arm. Brauchte dieses Licht, suchte es... Die ganze Welt sucht das Licht! In einem Augenblick war dieser Gedanke da, und er wusste, dass er wahr war. Dass er die ganze Wirklichkeit erschöpfend umfasste. Wer sich selbst zum Hort des Lichtes machte, der war ein Helfer. Ein Helfer des Lichtes. Das in die Welt kommen wollte. Es war in der Welt, aber die Welt hat es nicht erkannt. Bekannte Worte, die nun wie in einem Donnerschlag ihren ganzen Sinn enthüllten.
Man durfte ein Träger des Lichtes werden. Es war eine Gnade. Es war das einzige, was Sinn gab. Das Licht war der Sinn. Jede Sehnsucht galt diesem Licht. Auf welcher Stufe auch immer. Wie unerkannt es auch blieb. Und so wie auch die kleinste Adventskerze noch ein Zeuge des ewig-unerschöpflichen Lichtes war, so konnte auch der schwächste, ärmste, bescheidenste Mensch ein Zeuge dieses Lichtes werden – um wie viel mehr als eine Kerze!
Nie wieder etwas Dunkles im Herzen! Nie wieder etwas Dunkles in den Gedanken! Nie wieder etwas Dunkles, Trübes, Zaghaftes im Willen! „Gib all das, was Du hast, den Armen, und folge Du mir nach!“
Wie kam es, dass man diese und noch viele andere Worte des Lichtes erst jetzt so wesenhaft hörte, als sind sie wirklich direkt zu einem gesprochen? Aus nächster Nähe. Wie vom Bettende... Nein, noch viel näher. Näher noch als das eigene Ich. Und auch das eigene Ich wurde nun erst wirklich eigen, nun, wo es licht wurde, wo es nach außen strahlen wollte...
Das Bettende. Dort war doch der ganz Andere? Der Tod? Der Dunkle? Aber wie –? Seine ganze Klarheit richtete sich nun auf Ihn, und er fühlte auf einmal, wie auch Er gleichsam ganz und gar licht geworden war, unbemerkt. Und dann fühlte er noch etwas. Er wusste nicht, wie, aber er fühlte: Wie wenn der Dunkle, Licht-Gewordene, gleichsam lächelte...
Und er wandte sich um und wich von ihm.
In zehn Tagen würde der behandelnde Oberarzt es wagen, von einem Wunder zu sprechen.