19.09.2010

Schule als Ersatz für überforderte Elternhäuser?

oder: vom Auftrag einer Waldorfschule [am Beispiel Internet].

Einleitung: Das Problem

Der Titel ist provokant – eine gute Methode, um den Leser dazu zu bringen, auch wirklich zu lesen und nicht zu überlesen... Aber ist es das, was wir wollen? Provozieren und polarisieren, um an die unbewussten seelischen Motive zu appellieren? Um eine reflexartige Reaktion hervorzurufen, etwa: „Na sag mal, wie redet der denn?“ oder: „Ja, genau, was soll Schule denn noch alles...“?

Fest steht, dass man – wie sich hier zeigt –, einen solchen Titel schon sehr verschieden lesen kann. Und an den verschiedenen Reaktionen wird deutlich, dass es ein Problem gibt ... wie auch immer es aussehen mag.

Man kann sich von der Überschrift angegriffen fühlen (z.B. als Eltern). Oder man kann sich von ihr in seinen eigenen Auffassungen bestätigt fühlen (z.B. als Lehrer). Oder man kann an ihr bemerken, dass ein Problem existiert, dem gegenüber man sich als unbeteiligter Dritter empfindet. Die Frage ist aber: Was ist das Problem – und wie könnte man es lösen?

Der Untertitel ist dann ganz anderer Art: „Vom Auftrag einer Waldorfschule“. Noch ist darin nichts gesagt – und zugleich doch schon alles, aber noch unerkannt, unerfüllt. Der Untertitel ist im Moment noch eine offene Frage.

Aus einer Waldorfschule hörte ich, dass die Eltern einer Mittelstufenklasse das Kollegium gebeten hatten, sich als Schule mit der Frage des Internets auseinanderzusetzen. Das Anliegen und Bedürfnis der Eltern war es, dass die nun zu Jugendlichen werdenden Kinder (sei es durch die Lehrer oder aber von außen hinzugebetene Menschen) Hilfen und Aufklärung bezüglich des Internets und seiner Gefahren bekämen. So hinterlassen die Jugendlichen z.B. bedenkenlos „Spuren“ im Internet und geben Dinge von sich preis, die zu größtem Missbrauch führen können – und das ist nur ein Problem im Rahmen des großen Themas Internet.

Innerhalb des Kollegiums gab es dann jedoch Reaktionen folgender Art: Was sollen wir denn noch alles machen? Man sei doch nicht für alles zuständig, was die Elternhäuser nicht schaffen würden...

Es ist das weite Feld der Erwartungen, die Eltern an Lehrer haben – und die Lehrer an Eltern haben. Auf diesem Feld kommt es häufig zu Konflikten – dann wird es zum „Schlachtfeld“... Das Problem, wenn Probleme auf diesem Felde nicht gelöst werden, ist, dass die Kinder und Jugendlichen auf der Strecke bleiben, gleichsam wie die Toten, wenn sich auf dem Schlachtfeld der Rauch verzogen hat...

Mit anderen Worten: Man kann sich über vieles streiten, aber wer hat gewonnen, wenn man sich nicht einigt? Wie kann man ohne Einigkeit das Beste für die Kinder erreichen? Man kann es gar nicht.

Vom Auftrag der Waldorfschule

Ich mache jetzt einen Sprung zum Untertitel dieses Aufsatzes. Der Auftrag einer Waldorfschule. Für Rudolf Steiner war die Begründung der ersten Waldorfschule ein Versuch, etwas Allergrößtes in die Welt zu stellen – im Kleinen. In einem Vortrag sagte Rudolf Steiner darüber einmal zu den Lehrern:

[Der Pädagoge] muss in einer noch tieferen Weise in sein Zeitalter hineinwachsen: er darf nicht jenen Grundcharakter behalten, den das Denken und die ganze Gesinnung des Menschen in der Gegenwart hat. [...] [E]s handelt sich darum, die ganze Pädagogik und die ganze Didaktik in ein elementares Gefühl zusammenzufassen, so dass Sie gewissermaßen in Ihrer Seele die ganze Schwere und Wucht der Aufgabe empfinden: Menschen hineinzustellen in diese Welt. Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben.


„Menschen hineinzustellen in diese Welt“. Damit meinte er also nicht, Menschen auf das Leben vorzubereiten, damit sie in der Welt zurechtkämen – sondern er meinte: Wer gegenwärtig in der Welt steht, tut das noch überhaupt nicht in wahrhafter Weise. Die wahrhaft menschlichen Kräfte sind überhaupt noch nicht entwickelt. Nur deshalb setzt sich fortwährend das Alte fort, nur deswegen konnte sich der Erste Weltkrieg ereignen, folgte noch ein zweiter (den Rudolf Steiner nicht mehr erlebte, aber vorausgesagt hatte), stehen wir jetzt vor den Trümmern unseres Wirtschaftssystems, betreiben trotzdem nur kosmetische Korrekturen und, und, und...

Mit der Waldorfschule sollte ein allererster Anfang gemacht werden, wirklich den Menschen zu erziehen – nicht einmal zu „erziehen“, sondern ihm den Weg zu bereiten, dass er sich durch alle Hindernisse hindurch zu seinem wahren Wesen entfalten könnte. Die geistige Individualität eines jeden einzelnen Menschen – das hatte Rudolf Steiner deutlich vor Augen – ist zunächst durch die verschiedensten Hemmnisse daran gehindert, zur Erscheinung zu kommen: Durch leibliche Hindernisse, durch Gewohnheiten, durch anti-individuelle Normen, Vorstellungen, „Sachzwänge“ usw. der Umgebung; durch seelische Hindernisse...

Wenn aber keine Individualitäten zur Erscheinung kommen können, oder wenn fortwährend wichtigste Kräfte, Potentiale und Impulse im Verborgenen bleiben müssen, weil sie sich entweder gar nicht entwickeln können oder aber an ihrer Entfaltung gehindert werden – dann rollt die Welt fort wie bisher. Und wenn sie so weiterrollt, nimmt sie einen immer unheilvolleren Lauf.

Diese größte Perspektive hatte Rudolf Steiner vor Augen: Dem geistigen Wesen jedes sich verkörpernden Menschen bei der vollen Entfaltung zu helfen – und eine wirkliche Veränderung der Weltverhältnisse, die nur aus der Kraft der vollen Individualität hervorgehen kann. „Die ganze Schwere und Wucht der Aufgabe empfinden: Menschen hineinzustellen in diese Welt...“

Begleiter werden – durch Selbsterziehung

Ich mache nun einen Sprung zurück zum konkreten Thema Internet. Wie soll ein Kind in diese Welt hineinwachsen können, wenn es in dem Alter, in dem es sich im Internet bewegt, ja vielleicht sogar darin verliert, überhaupt nichts von den Gefahren lernen kann? Wenn die Erwachsenen, die dieses Wissen haben, ihm die Hilfe verweigern? Vielleicht, weil sie selbst keine Ahnung haben...

Die Eltern bitten die Lehrer mit Recht um Hilfe, weil sie erleben, dass die Kinder in manchen Fragen ihre Ratschläge nicht mehr ernst nehmen, während sie von den Lehrern vieles noch in ganz anderer Weise annehmen. Es ist müßig, sich zu fragen, ob die Eltern dann in ihrem „Erziehungsauftrag“ versagen – was können Eltern denn noch anderes tun, als in einem solchen Fall um Hilfe zu bitten?

Als Lehrer könnte man dann sagen: „Wir können es auch nicht.“ – aber doch nicht einen Vorwurf aussprechen und sich darüber beklagen, was man noch alles tun solle und dass die Eltern in ihrem eigenen Auftrag versagen würden! Es geht doch um Realitäten, die weit über diese elenden Schuldfragen hinausgehen! Und diese Realitäten sind: Da sind Kinder, die zu Jugendlichen werden und die einen Wegbegleiter für die teilweise sehr gefährlichen Klippen auf ihrem Wege brauchen. Kinder und Jugendliche, die Menschen brauchen und suchen, für deren Hilfe sie dankbar sind, weil sie merken, dass sie von ihnen nicht „erzogen“ werden sollen, sondern dass da jemand aus seinem möglichst vollen Menschsein heraus zu und mit ihnen spricht.

Darum geht es: Um das Menschliche. Hier stehen wir alle vor der gleichen Herausforderung, denn niemand von uns hat all seine menschlichen Kräfte bereits entfaltet. Die Herausforderung ist, uns gegenseitig dabei zu helfen; unsere eigene Selbsterziehung immer ernster zu nehmen und immer mehr lieben zu lernen, um auf diesem einzig möglichen Wege den Kindern und Jugendlichen immer mehr Wegbegleiter und Wegbereiter werden zu können.

Wir wissen selbst, dass diese Aufgabe immer schwieriger wird – vor allem, weil die Kinder und Jugendlichen immer mehr unsere wahre Individualität brauchen und fordern. Eine Individualität, von der wir in vielerlei Hinsicht selbst noch gar nichts ahnen, weil auch wir noch vieles nicht können, die Entwicklung vieler Kräfte und Fähigkeiten versäumt haben, vielleicht nicht einmal wussten oder wissen, dass und wie man sie überhaupt entwickeln könnte – und dennoch sind sie in uns veranlagt, auch in unserer ureigenen Individualität...

Das ist also der Hintergrund, vor dem ich eine solche müde oder auch verzweifelte Klage höre: „Was sollen wir denn noch alles?“. Natürlich kann jeder so klagen – auch die Eltern. Und natürlich auch die Kinder und Jugendlichen! Doch es bleibt bei der Tatsache, dass diese jungen Menschen auf der Strecke bleiben, wenn wir nicht die notwendigen Fähigkeiten entwickeln, die wir brauchen, um ihnen die Entwicklung ihrer Fähigkeiten möglich zu machen.

Es heißt doch oft so schön: Die Kinder sind unsere Lehrer. Damit ist gemeint, dass sie uns durch das, was sie brauchen, fortwährend dazu auffordern, uns selbst zu erziehen. Wir wissen – und sei es unbewusst – doch fast immer sehr genau, was sie brauchen, und auch, wo unsere Fähigkeiten unzureichend sind. Worauf es ankommt, ist, dass dieses Wissen und Empfinden uns Mut machen sollte – und nicht verzweifeln lassen. Versuchen wir doch, die notwendigen Fähigkeiten immer mehr zu entwickeln! Versuchen wir doch, selbst nach dem zu streben, was uns unmöglich erscheint! Die Kinder werden es uns danken, denn das ist es, was sie noch vor allem anderen suchen, brauchen und ersehnen: Strebende Menschen. Denn nur der Mensch, der strebt, ist wahrhaft Mensch – und Menschen, das wollen sie alle werden, und dafür suchen sie jeden Tag neu Vorbilder...

Das Internet und der Mensch

Noch einmal das Internet. Das Internet ist eine Tatsache – und mit Tatsachen muss man sich auseinandersetzen; anders kann man sie überhaupt nicht verändern oder auch nur mit ihnen leben. Wir kennen oder ahnen die Gefahren des Internets. Wir wissen, dass unsere Kinder sich viel tiefer als wir selbst in diese Welt und diese Gefahren hineinstürzen. Wenn wir sie nicht darin allein und vielleicht stürzen oder sogar untergehen lassen wollen, müssen wir ihnen folgen und doch immer einen Schritt voraus sein. Wir müssen uns in das, worin sie uns zunächst voraus sind, einleben und uns Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die es uns ermöglichen, ihnen auch von all diesem etwas sagen zu können – aus unserem Menschsein heraus. Wir müssen in der Lage sein, auch das Internet in den Zusammenhang des Menschseins zu stellen – wir müssen fähig sein, darüber zu reden, wo das Internet „Spaß machen“ und „der Unterhaltung dienen“ kann, was es in der heutigen Welt ermöglicht hat, was sein Nutzen und sein Gutes ist – und wo die Gefahren liegen, das Verführerische, das Abgründige, der Missbrauch. All dies vor dem offenbaren Hintergrund der Frage: Was ist das wahrhaft Menschliche?

Was ist das Bedürfnis, wenn Menschen „chatten“? Was ist die Sehnsucht, wenn Menschen sich ein zweites, virtuelles Leben erschaffen? Was möchte ich, wenn ich mein Profil ins Internet stelle und private Fotos ins Netz hochlade? Welche Gefahren des Missbrauches gibt es? Wie kommt es zu Mobbing, wie wird dies durch das Internet noch erleichtert und welche noch viel gefährlicheren Eventualitäten lauern? Was geschieht mit dem Menschen und dem Menschlichen durch das Internet und seine verschiedenen Aspekte?

Zu all diesen Fragen müssen wir Erwachsenen uns Gedanken machen – wirkliche Gedanken, tiefgehend, konkret –, und sie mit der ebenfalls immer tiefer und lebendiger werdenden Idee des Menschen verbinden. Dann können wir mit den Kindern und Jugendlichen auch in ein wirklich wahrhaftiges Gespräch kommen – in ein Gespräch, in dem sie uns ernst nehmen, weil sie empfinden, dass wir es ernst meinen: Mit dem, was wir über das Internet sagen ... und mit dem, was wir als Idee des Menschen denken, empfinden und erstreben.