Vom Wesen der Waldorfpädagogik
Der christliche Auftrag der Waldorfpädagogik
Thomas Jachmann: Der christliche Auftrag der Waldorfschule. Quelle: www.thomasjachmann.de, 26.01.2012. Hervorhebungen H.N.
„... dass man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat“
„Worin hat denn die eigentliche Versuchung bestanden? Darin hat sie bestanden, dass Luzifer herangetreten ist an das menschliche Ich, das der Mensch hätte erhalten sollen in seiner Reinheit neben dem Astralleib... Und was sich der Mensch aufgenommen hat an luziferischer Kraft, das ist der Überschuss des Ich über den Astralleib, das ist die größere Ichlichkeit, die eigentlich eine Luziferität ist.“
(GA 134, 3)
Der christliche Auftrag der Waldorfpädagogik
Bei der Vorbereitung auf das 50-Jahr-Jubiläum der Waldorfschule in Stuttgart beschloss man, eine Dokumentation herauszugeben, die „ein lebendiger Ausdruck für die weiterwirkende Erziehungskunst R.Steiners“ sein sollte. 1972 erschien daraufhin das bekannte Buch von Frans Carlgren „Erziehung zur Freiheit“. [...] Einige Jahre später wurde 1975 das ebenso bekannte Buch von Christoph Lindenberg „Waldorfschulen: angstfrei lernen, selbstbewusst handeln“ herausgebracht.
In den beiden Titeln werden zwei wichtige Grundanliegen der Waldorfpädagogik schlagwortartig formuliert. Beide Bücher sind unvergessen geblieben und haben mit ihren Titeln offensichtlich zentrale Aspekte der Waldorfpädagogik getroffen. Die einleitenden Worte von E.Weißert beleuchten zusätzlich ein bedeutendes Anliegen der Waldorfschulen.
Der Titel der Erziehungskunst vom April 2004 „Reinkarnation und Karma“ berührt ein ebenso wichtiges und zentrales Thema, bei dem jedoch schon eine gewisse Schwierigkeit besteht, es in angemessener Weise öffentlich darzustellen. Sicherlich gibt es darüber hinaus noch andere wichtige Impulse, aus denen heraus Waldorflehrer ihre Pädagogik impulsieren. Viele davon lassen sich sehr gut nach außen hin darstellen, andere wiederum sind von sehr persönlicher Natur, sodass man nur mit einer gewissen Scheu und Zurückhaltung davon sprechen kann.
Ich möchte nun die Frage stellen, ob es nicht zusätzlich zu all den schon erwähnten Bereichen noch einen besonderen pädagogischen Auftrag gegenüber den Kindern gibt, den wir als Waldorflehrer zu erfüllen haben. Er gehört meiner Ansicht nach zu den Anliegen, die sich nicht so einfach formulieren lassen und bei denen es heute immer schwerer wird, sie in verständlicher und annehmbarer Weise darzustellen.
Rudolf Steiner formuliert diesen Auftrag 1919 mit folgenden Worten:
„Man muss mit dem Bewusstsein unterrichten, dass man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat, dass man jedes Kind dahinbringen muss im Lauf des Lebens, den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt in sich zu finden.“ (GA 296, 5)
Unerlöste Kräfte wirken im Seelenleben
Seit vielen Jahren kommen nun immer mehr Kinder in die Schulen und Kindergärten, die eine besondere Aufmerksamkeit in der Erziehung beanspruchen. Sie wurden der Anlass zu der bekannten, anhaltenden pädagogischen und medizinischen Diskussion, bei der sich bis heute kein Ende absehen lässt. Die Frage nach den menschenkundlichen Ursachen der seelischen Andersartigkeit oder Besonderheit dieser Kinder führte ebenso zu einer endlosen Auseinandersetzung, wie ich sie vergleichsweise nur um das Kind von Europa: Kasper Hauser erlebt habe. G.Kühlewind nennt sie ‚Sternkinder’. (G.Kühlewind Sternkinder, Stuttgart 2001) In einem gewissen Gegensatz zu ihm gibt ihnen F.Linde den Namen ‚Christuskinder’. (F.Linde, Christus-Kinder, Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland Michaeli 2002)
Der Untertitel von G.Kühlewinds gleichnamigen Buch „Kinder, die uns besondere Aufgaben stellen“ bezeichnet jedenfalls unbestritten, die Herausforderung, die sie an uns stellen.
Sind es nur besondere Aufgaben, oder wird durch ihre provokante Art der genannte Auftrag, der vielleicht als die zentrale Aufgabe der Waldorfpädagogik bezeichnet werden könnte, neuerdings von ihnen energisch eingefordert?
Ein zentraler Diskussionspunkt in der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Andersartigkeit der heutigen jungen Generation ist in zunehmenden Maße die Frage nach den Hintergründen des immer stärker sichtbar werdenden Individualisierungsprozesses, der Selbständigkeit und der für viele wahrnehmbaren zunehmenden Offenheit, Feinfühligkeit und Empfindsamkeit oder auch Hellfühligkeit und des steigenden spirituellen Hungers der Kinder.(Ergebnis der Umfrage „Haben Sie generelle Veränderungen in der Kindesentwicklung wahrgenommen?“ der Projektgruppe: Erziehung und Gesundheit/Früheinschulung, durchgeführt im Auftrag der Pädagogischen Forschungsstelle und des IPSUM-Institutes und der Mitarbeit der Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten in Deutschland an Waldorfschulen und Kindergärten)
Für mich stellt sich dabei eine andere dringliche Frage: Haben diese Phänomene nicht einen gemeinsamen Ursprung, sind sie nicht der Ausdruck einer seelischen Gesamtverfassung mit einer dazu gehörigen körperlich-leiblichen Entwicklung, die schon seit Urzeiten besteht, aber in unser Zeit in durchaus dramatischer Weise zum Vorschein kommt und eine ungeheuer entscheidende pädagogische Aufgabe an uns stellt, nämlich die erwähnte Rettung zu vollziehen?
Dabei darf nicht übersehen werden, dass der zunehmende Individualisierungsprozess und die kommende Hellfühligkeit nur die eine Seite des immer auffälliger werdenden seelischen Phänomens darstellen.
Neben der steigenden Zappeligkeit und Nervosität sind seit den letzten 15 Jahren eine immer stärker werdende Melancholie, die sich auch als Wehleidigkeit ausdrücken kann, und diffuse Lebensängste bei sehr vielen Kindern schon im Kindergartenalter mit rasant steigender Tendenz zu beobachten. Diese Lebensunsicherheit und Traurigkeit erscheinen ohne erkennbare Ursachen, wie ins Leben mit hereingebracht. Weil diese Stimmungen sehr oft überspielt werden, da die Kinder schon im frühesten Alter die Fähigkeit erwerben, die Ängste zu verstecken und die tiefsitzende Melancholie die Neigung besitzt, sich hinter einer scheinbaren oft übertriebenen Ausgelassenheit und Übermütigkeit zu verbergen, werden sie leicht von den Erwachsenen verkannt oder gar übersehen. Darüber hinaus besitzen diese Stimmungen die fatale Eigenschaft, dass sie dem jeweiligen Menschen in den meisten Fällen nicht bewusst werden und unerkannt das Leben erschweren und belasten.
Zu den wachsenden seelischen Problemen der Kinder gehört auch eine zunehmende Willensschwachheit, die sich nicht so sehr als körperliche Bequemlichkeit bemerkbar macht, sondern das Vorstellungsleben betrifft. Das heißt, dass der Wille als bewegendes Element nicht mehr kraftvoll mit dem Vorstellungsleben verbunden werden kann, sodass das innere seelische Verarbeiten des Aufgenommenen träge wird oder ganz aufhört. Es wird somit letztendlich nichts mehr aufgenommen, obwohl ganz normal wahrgenommen wurde.
Damit verbunden beschleicht den jungen Menschen ein zunehmendes Gefühl innerer Ohnmacht gegenüber der eigenen leiblichen Organisation. Man ist nicht so recht der Herr im eigenen Hause. Dieses Ohnmachtgefühl kann sich aber auch in steigender Aggression und zunehmender Gewaltbereitschaft Luft verschaffen. [...]
Als nächstes sehr auffälliges und bedeutsames Phänomen erleben wir das immer früher werdende Ich-Sagen der Kinder mit dem dazu gehörigen Erwachen eines anfänglichen Ich-Gefühls. Heute beginnen schon manche Kinder mit 1½ Jahren Ich zu sich zu sagen.
Diesen seelischen Entwicklungen gegenüber zeigt sich im Leiblichen der Kinder eine zunehmende körperliche Kränklichkeit. In der Auswertung der Fragebögen der genannten Projektgruppe an Waldorfkindergärten wird der Anteil der Kinder, die körperliche und Verhaltensschwächen aufweisen, heute sehr hoch eingeschätzt. (zwischen 50% und 70% )
Zusammenfassend lassen sich drei Grundentwicklungstendenzen deutlich erkennen:
1. Einer zunehmenden seelischen Offenheit steht ein wachsendes Ohnmachtgefühl gegenüber.
2. Das immer früher erwachende Ichgefühl, die wachsende Selbständigkeit und Individualisierung werden von einem Brüchiger- Werden der Leiblichkeit begleitet.
Als drittes bedeutsames Phänomen zeigt sich das Rumoren der im Seelenleben aufsteigenden unklaren Bilder, Sehnsüchte und Phantasien, die nicht sinnvoll ergriffen werden können und damit verbunden eine Willensschwäche im Vorstellungsleben.(GA 199 16. Vortrag Dornach 11. September 1920)
Menschenkundliche und pädagogische Betrachtung
Menschenkundlich betrachtet lockert sich das seelisch-leibliche Gefüge im Bereich der oberen Sinne (Seh-Sinn bis zum Ich-Sinn), der Ätherleib beginnt sich aus seinem Zusammenhang mit dem physischen Leib zu lösen.(GA 118, 1) Daneben scheinen sehr viele Kinder eine zunehmende seelische Dünnhäutigkeit zu besitzen, verbunden mit einer abnehmenden Eigenwahrnehmung und Eigenempfindung. (Siehe Thomas Jachmann, Erziehungskunst Heft 12/2003) Dadurch entsteht unter anderem die seelische Offenheit und Hellfühligkeit gegenüber Mensch und Natur. Die unteren Sinne hingegen, die neben der Erfahrung des Tastens, des Gleichgewichts, der Bewegung und dem körperlichen Wohlbefinden (Lebenssinn) dem Menschen auch Gefühle von Sicherheit ,seelischer Freiheit, innerer Ruhe, Seinsgefühl und Behaglichkeit vermitteln, strahlen heute nicht mehr in entsprechendem Maße diese Gefühle in die Seele. Durch diesen Mangel wird wiederum vornehmlich das Ohnmacht- und Unsicherheitsgefühl bewirkt.
Die Verfrühung des Ich-Sagens (Ich-Gefühl) verbunden mit zunehmender Individualisierung steht in einem besonderen menschenkundlichen Verhältnis zur abnehmenden Gesundheit der Kinder. Diesen Zusammenhang erwähnt Rudolf Steiner in seiner Vortragsreihe: Die drei Wege der Seele zu Christus (GA 143, Stockholm, 16.-17. April 1912) Im Vortrag vom 16. April 1912 stellt er diesem frühen Ich-zu-sich-sagen eine andere Tatsache gegenüber, dass der Mensch nämlich erst mit dem 21. Lebensjahr durch seine Organisation reif wird, ein Ich zu entwickeln, das heißt bis zu diesem Zeitpunkt erst aus den Kräften der Leiblichkeit des Ätherleibes und Astralleibes einen entsprechenden Ichträger (Ichorganisation) gebildet hat.
Diese Gegenüberstellung zeigt, dass sich das seelische Ich-Bewusstsein zeitlich von seiner leiblichen Grundlage emanzipiert hat. Es erscheint schon im ersten Jahrsiebt, obwohl der leiblich-seelische Ich-Träger des Menschen erst gegen Ende des dritten Jahrsiebtes vollständig ausgebildet wird.
„Alles, was der Mensch erleben kann an Zwiespalt zwischen äußerlicher Organisation und innerer Erfahrung, an Leiden und Schmerzen im Leben dadurch, dass ihm gewisse Dinge vermöge seiner Organisation nicht möglich sind, an Disharmonie zwischen dem, was er wünschen und wollen und dem, was er ausführen kann, die Tatsache, dass er Ideale haben kann, die über seine Organisation hinausführen, all dass führt zurück auf die Tatsache, dass das Bewusstsein unseres Ich einen ganz anderen Weg geht als der Träger unseres Ich.“
Und weiter:
„Dass wir mit unserem Ich einen selbständigen Weg gehen, der sich nicht kümmert um unsere Organisation, daran erinnert uns diese Organisation, wenn sie der Ich-Entwicklung in Krankheit, Siechtum, Tod ein Hemmnis entgegensetzt.“
Kurz gesagt: Ein frühes von der Leiblichkeit emanzipiertes Ich-Bewusstsein hat ein Brüchig-Werden, ein Vertrocknen der Leiblichkeit zur Folge, dass neben seelischer Ohnmacht zu Krankheit und Tod führt. Das heißt, der frühe Individualisierungsprozess der Kinder, verbunden mit einem immer früher erwachenden Ich-Gefühl wird teuer mit einem zunehmenden Verlust an Gesundheit und seelischer Stabilität erkauft!
Das Rumoren der im Seelischen aufsteigenden Bilder bespricht Rudolf Steiner an anderer Stelle:
„Jetzt beginnt die Zeit, in welcher die Seelen aus der geistigen Welt, indem sie durch die Empfängnis und die Geburt zum irdischen Leben heruntersteigen, sich Bilder mitbringen. Bilder, wenn sie mitgebracht werden aus dem geistigen Leben in dieses physische Leben herein, müssen unter allen Umständen, wenn Heil für den Menschen und für sein soziales Leben entstehen soll, unbedingt sich mit dem astralischen Leib verbinden, während sich das Bildlose nur verbindet mit dem Ich. Und es war vorzugsweise die Auslebung des Ich, welche in der Menschheit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts geblüht hat. Jetzt aber beginnt die Zeit, wo der Mensch fühlen muss: In dir leben aus vorgeburtlichem Leben heraus Bilder, die musst Du in dir während des Lebens lebendig machen. Das kannst du nicht mit dem bloßen Ich, das muss tiefer in dich hineinwirken¸ das muss bis in den astralischen Leib hineinwirken.
Wenn nun das unterdrückt wird (...) Und was entstehen daraus für Menschen? Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen, Menschen, die nicht wissen, was sie wollen, weil sie etwas wollen, was man nicht wissen kann, weil sie etwas wollen, was mit keinem möglichen sozialen Organismus vereinbar ist, was sie sich nur vorstellen, was in ihre Phantasie hätte gehen sollen, da nicht hineingegangen ist, sondern in ihre sozialen Treibereien hineingegangen ist.“ (...)
„Denn wir beginnen heute auch anders zu schlafen, als im regulären Leben der intellektualistischen Zeit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts geschlafen worden ist. (...) Jetzt sind wir an dem Punkte der Menschheitsentwicklung, wo wir aus dem Schlafe heraus die Imaginationen nehmen, die sich einleben wollen nicht bloß in unser Ich, wo die Ratio herrscht, sondern wo sich die Bilder hineinleben wollen in unseren astralischen Leib.“ (Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung, GA 199, 16. Vortrag, Dornach 11. September 1920)
1912 in Stockholm und 1920 in Dornach und an weiteren ähnlich lautenden Stellen lässt Rudolf Steiner in auffälliger Weise jedes Mal einen eindringlichen Hinweis auf die Pädagogik folgen. Sie hat die vornehmliche Aufgabe die Schäden und das Unglück, die in beiden Fällen entstehen, wenn diese Bilder und Imaginationen nicht erweckt werden konnten, zu heilen und sie nach Möglichkeit zum Leben zu erwecken, das heißt eine Vertiefung des Gemütes – und Empfindungsleben zu bewirken. In diesem Sinne spricht er 1923 in Stuttgart davon, dass der Mensch, schon wenn er geboren wird, ein zu heilendes Wesen ist und eben deshalb der Lehrer auch ein Heiler sein muss. (GA 302a, 2) Durch sein ganzes Vortragswerk ziehen sich solche Appelle und Rudolf Steiner wird nicht müde, darauf hin zu weisen, dass Menschen erzogen werden müssen, die erstens diese Bilder in richtiger Art im von der Fantasie getragenen Seelenleben entwickeln und ins Bewusstsein bringen können und zweitens die besonderen Kräfte besitzen, der Verfrühung ihres Ich-Bewusstseins gerade in den ersten drei Jahrsiebten begegnen zu können.
Wir müssen dem Kind also in jedem Jahrsiebt die Kraft hinzu geben, die ihm fehlt, weil die Entwicklung seiner leiblich-seelischen Hüllen (Physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) nicht mit der seelischen Ich-Entwicklung übereinstimmt. Was heißt das?
Altersgemäße Pädagogik, die zum Gemüt des Kindes spricht
Eine Antwort auf diese Frage ist in der altersgemäßen nach Jahrsiebten gegliederten Pädagogik gegeben. In jedem Jahrsiebt bildet der heranwachsende Mensch an seiner Hüllennatur und entwickelt so zusammen mit der Ausbildung des physischen Leibes im ersten Jahrsiebt, des Ätherleibes im zweiten und des Astralleibes im dritten Jahrsiebt, schrittweise seine Ichorganisation als künftigen Träger des Ich im zwanzigsten bis einundzwanzigsten Lebensjahr. Nachahmung einer lebensgemäßen, sinnvoll gestalteten und sich ebenso verhaltenden Umgebung im ersten Lebensabschnitt, Anregung durch die liebeswerte und akzeptierte Autorität im zweiten und die Anregung von Fantasie, Begeisterung und Interesse für die Welt im dritten Lebensabschnitt durch die erwachsenen Begleiter, erleichtern dem Heranwachsenden die Ausbildung seiner leiblich, seelischen und geistigen Hüllen.
Darüber hinaus braucht der Lehrer, Erzieher und Begleiter des Kindes für seine Pädagogik, um sie heilend wirksam werden zu lassen die Durchdringung seines ganzen Wesens bis in seine Empfindungs- und Gefühlswelt „mit dem, was Geisteswissenschaft in die Empfindungen in die Gefühle, in das ganze Verhältnis des Menschen zur Welt hineingießen kann.“ (GA 296, 4). In eindrucksvoller Weise schildert R.Steiner diesen inneren Weg des Lehrers zu diesem Durchdrungensein 1924 in Stuttgart (GA 308, 4 abends). Unterricht und Erziehung haben auszugehen von einem lebendigen Durchdrungensein „das einen hineinstellt in die Klasse so, wie wenn man wäre etwas, das in diesem Wirken auf die Kinder (...) nach vorne sich äußert, indem von hinten her die Weltgeheimnisse pulsierend den Menschen durchströmen, wie wenn man wäre das bloße Werkzeug dafür, dass die Welt zu dem Kinde sprechen könnte.“
Diese Ausbildung des Lehrers, zu der jeder Mensch seinen eigenen Weg finden muss, legt die Grundlage für den Waldorfpädagogen, um in den ersten zwei Jahrsiebten altersentsprechend die Welt dem Kinde bildhaft und sein empfindendes, fühlendes Erkennen erreichend, nahe zu bringen, so dass es immerfort den geistigen Ursprung der Welt erahnen kann und sich mit ihm als gleichartiges geistig-seelisches Wesen verbunden fühlt. (GA 308, 4 abends)
Das richtige Gespür für die noch unerlösten Seelenregungen
Für den Lehrer und Erzieher ist es aber auch von großer Bedeutung, dass er in den Bildgestaltungskräften, die aus dem Vorgeburtlichen heute mitgebracht werden und in den Imaginationen, die aus dem Schlaf kommen, wenn beide nicht richtig erkannt und pädagogisch aufgegriffen werden, eine der wichtigen Ursachen für die oben aufgezählten seelischen Symptome erkennt.
Auf diese aufkeimenden Fähigkeiten muss man sich einlassen können. Zuerst einmal muss man es überhaupt für möglich halten, dass es solche Kräfte mit diesem Ursprung gibt. Im geduldigen und aufmerksamen Nachspüren und Aufsuchen dieser Ahnungen, Sehnsüchte, Motive und Empfindungen der Kinder bildet sich langsam ein Blick für diesen Seelenbereich und man erspürt dabei gleichzeitig, dass auf dem Grunde der eigenen Seele ebensolche noch unerlösten Seelenregungen schlummern, rumoren und ängstigen. Langsam gewinnt man ein Gespür dafür, durch welche seelischen Vorbereitungen der Erwachsene die seelische Ebene finden, erreichen und bewusst machen kann, in der diese Gestaltungskräfte wirksam sind. Das bildet wiederum die Grundlage dafür, dass der Erzieher sich auf das, was ihm aus den Seelen der Kinder noch ungeklärt entgegen kommt mit Verständnis einlassen kann und die richtigen Wege findet, darauf liebevoll einzugehen.
Durch die eigenen Seelenbeobachtungen wird einem auch das schon erwähnte Ohnmachtgefühl mit seinem doppelten Ursprung erlebbar. Zum einen ergibt es sich aus der beschriebenen Schwäche der unteren Sinne und der vorzeitigen Emanzipation des seelischen Ich-Erlebens von seiner leiblichen Grundlage. Zum anderen ist es aber auch die Wirkung dieser Bilder und Erlebnisse aus dem Vorgeburtlichen, die alle Menschen heute in sich tragen. (GA 182, Wie finde Ich den Christus, Zürich, 16. Okt. 1918) Dieses Ohnmachtgefühl drängt danach überwunden zu werden und ist der Ursprung und bildet den Antrieb für den zunehmenden spirituellen Hunger der Kinder.
Hier spürt der Lehrer sehr deutlich, dass er Hilfe geben muss, damit diese drängenden Ohnmachtgefühle erlöst werden können und aus der eigenen Erfahrung weiß er, dass diese erlösenden Kräfte nur aus einer Welt kommen können, die nicht einmal beim Namen genannt zu werden braucht, aber nur aus der Bemühung um ein geistiges Verständnis der Welt erreicht und erfasst werden kann. An dieser Stelle berührt sich die eigene Lebenserfahrung des Lehrers mit der spirituellen Sehnsucht der Kinder. Aus dieser gegenseitig zur Erfahrung werdenden seelischen Berührung gewinnt der Lehrer den Mut und die Kraft aber auch die Einfälle, den Unterricht und die Begegnungen mit den Schülern so zu gestalten, dass immer wieder für beide die in unserer Zeit liegenden Ideale: Ich interessiere mich tief und von Herzen für den anderen, ich erlebe alles Religiöse als ein selbstverständliches Urerleben der Menschen, dass keinen konfessionellen Zwang kennt und ich kann durch Ohnmacht und Wiederauferstehung gehen und das Erfahren des Geistigen in der Welt und das Erleben, dass Ich aus dieser Welt stamme, als Heilung erleben. (GA 182, Was tut der Engel in unserem Astralleib, Zürich 9. Okt. 1918)
Die Wurzeln der oftmals tiefsitzenden Melancholie und menschlichen Verunsicherung werden auch erkennbar, als Reaktion auf eine Zeit, der ein wirkliches geistiges Verstehen des Menschen und damit des eigenen Selbstverständnisses in Sinne von: Was für ein Wesen bin ich eigentlich, abhanden gekommen ist. [...]
R.Steiner beschreibt diesen Quell kommender allgemeiner Melancholie und Hypochondrie schon 1920 sehr deutlich:
„Und Menschen werden erstehen – und man wird sie sehen in den heranwachsenden Generationen-, die empfinden werden: Ja da stehe ich, ich habe eine Gestalt anders als die anderen Wesen, die um mich herum sind; ich schaue nicht aus wie die Tiere (...), ich schaue anders aus, aber ich weiß nicht, was ein Mensch ist, was ich selber bin. – Melancholie und Hypochondrie werden sich über die Seelen der heranwachsenden Generation lagern. Man wird das in den Schulen bemerken als eine Zeitstimmung.“
Die Ergebnisse der erwähnten Umfrage an Waldorfschulen und Kindergärten bestätigen diesen Sachverhalt eindrücklich.
Der Umgang mit den Christuskräften
Aus der eigenen Lebenserfahrung und deren Vertiefung durch einen meditativen Übungsweg und der Beschäftigung mit der Anthroposophie kann der Lehrer und Erzieher erahnen und wissen, dass der Christus diejenigen Kräfte bringt, die über Ohnmacht und Melancholie hinweghelfen und den Mensch zu einer Erkenntnis von sich selber führen (Siehe GA 143, S. 125)
Aus dieser nicht Anlesbahren sondern nur durch das Leben zu gewinnenden Einsicht heraus kann der Waldorflehrer noch einmal, die jetzt vertiefte Frage stellen.
Wir müssen dem Kind in jedem Jahrsiebt die Kraft hinzu geben, die ihm zum Ausgleich fehlt, weil die körperliche Entwicklung nicht mit der seelischen Ich-Entwicklung übereinstimmt. Was heißt das bezogen auf die ganze Schulzeit?
Eine Empfindung muss bei den Kindern erweckt werden, dass es eine Kraft gibt, mit der man sich im Herzen durchdringen kann, die einem dann hilft, die Ohnmacht gegenüber sich selbst und seiner Organisation zu überwinden. Unmittelbar aus den geistigen Welten kommt diese Kraft! Nur diese Kraft hilft mir, damit ich im Leben zurecht kommen kann. Es gibt etwas, das macht das Ich wieder kräftiger in seiner Organisation, von der es sich emanzipiert hat. Von seinem Ich aus kann der Mensch sich mit diesen Kräften verbinden mit Impulsen der Kraft aus der geistigen Welt. Nur durch sein Ich kann er sich mit diesen Kräften verbinden. Diese Empfindung davon muss bei Kindern erweckt und veranlagt werden. In diesem Sinne ist der Christus durch innere Erfahrung erreichbar, ganz unabhängig ob man die historischen Tatsachen kennt oder vom Christentum etwas weiß. (GA 143, Die drei Wege der Seele zu Christus, gekürzte eigene Zusammenfassung)
Es gibt für den Lehrer im Verlauf „seiner Schulzeit“ eine gradweise Annäherungsmöglichkeit an diese Seelenerfahrung und Seelenempfindung,, die ihm die Möglichkeit verleihen kann, ein solches erkennendes Christus-Fühlen bei den Kindern zu veranlagen, wobei ihm die Seelenkräfte der Kinder heute immer mehr entgegen kommen.
In diesem Sinne kann wohl der zentrale Auftrag des Waldorflehrers, den er sich aber nur selbst erteilen kann noch einmal formuliert werden:
„Man muss mit dem Bewusstsein unterrichten, dass man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat, dass man jedes Kind dahinbringen muss im Lauf des Lebens, den Christus-Impuls in sich zu finden, eine Wiedergeburt in sich zu finden.“ (GA 296, 5)
Dabei ist zu beachten dass es sich bei dieser Rettung vornehmlich um eine Vertiefung der Gemüts- und Empfindungskräfte handelt und um eine Stärkung und empfindungsmäßige Durchblutung des Willenslebens im Bereich des Sinnes- und Vorstellungslebens. Die schon erwähnte Willensschwäche im Sinnesbereich der jungen Menschen ist zu einem großen Teil die Folge einer zunehmenden intellektuellen Austrocknung des Sinnes- und Vorstellungslebens, das dadurch eine zunehmende Lähmung erfährt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen die oben erwähnten Sätze von R.Steiner eine ganz besondere Bedeutung, dass alle Bilder und Imaginationen aus dem Vorgeburtlichen- und Schlafesleben sich mit dem Astralleib verbinden müssen, das heißt im von der Empfindung und der Fantasie belebten Vorstellungsleben wirksam werden müssen und nicht in den trockenen Intellekt abgleiten dürfen. (GA 199, 16)
Dieses vom Gemüt durchdrungene Vorstellungsleben bildet die Schale, in der sich die nicht von der Verfrühung des Ich berührten Kräfte bilden und sammeln können. Im Märchenbild ausgedrückt bereiten Lehrer und Schüler sich gemeinsam darauf vor, den helfenden Kräften des beim Vater zurückgebliebenen Goldkindes, das aber dann zur Rettung seines versteinerten Bruders doch in die Welt gezogen ist, den Boden zu bereiten. (Die Goldkinder, Märchen der Brüder Grimm)