Rudolf Grosse: Erlebte Pädagogik

Auszüge aus: Rudolf Grosse: Erlebte Pädagogik. Schicksal und Geistesweg. Fischer Verlag, 1984. | Hervorhebungen und die meisten Zwischenüberschriften H.N.


Inhalt
Gemeinschaftsbildung
Zeugnisse und geduldiges Reifenlassen
Der Lehrer ein Künstler – Pädagogik eine Kunst
Schülerbeurteilung und Lebenswirklichkeit
Die Lehrerkonferenz
Seelengesetze
Lebensfragen
Über die Temperamente
Lehrerbildung – Selbsterziehung
„Frühförderung“ oder Seelenstärkung  


Gemeinschaftsbildung

[...] Was einen Schüler in den Untergründen seiner Seele fort­während beschäftigt, ist die Sehnsucht, von seinem Lehrer, der immer eine bedeutende Rolle spielt, verstanden und durchschaut zu werden. Die Erfüllung dieser Sehnsucht ist von größter Wichtigkeit, da davon das Gefühl der Sicherheit und Befreiung beim Heranwachsenden abhängt. In ungezählten Schülerindividualitäten ist, vor allem in der Gegenwart, der Eindruck vorherrschend, zu Hause von den Eltern eigentlich nicht mehr verstanden zu werden. Die Art, wie heute ein Kind heranwachsen muß, ist vom geistigen Gesichtspunkt aus, wegen des allgemeinen Unwissens über die Gesetze des Jungseins, von einer schmerzlichen Tragik erfüllt. Darum achtet der Schüler mit innerem Gehör auf jede Äußerung des Lehrers, ob dieser vielleicht sein eigen‑intimes Rätsel formulieren und aufzugrei­fen vermöge. Ist dies einmal – dem Lehrer meist unbewußt – geschehen, dann entwickelt sich ein starkes Band inneren Vertrauens zu dem Lehrer, der einem auf solche Art den Schlüssel zu sich selbst hat geben können. [...]

Rudolf Steiner stand der Lehrer­schaft durch die fünf Jahre seiner Schulleitung unermüdlich geistig helfend, anspornend, erkenntnisweckend zur Seite. Das trug seine Früchte in der schnellen Konsolidierung der Schule. Nachdem die drei ersten Jahre der Waldorfschule vorbei waren also im Herbst 1922, war mit einem Schlage so etwas wie eine innere Geburtsstunde der Individualität „Waldorfschule“ vorhanden. Das konnte man bis ins kleinste hinein spüren. Auch die Lehrerschaft wurde davon durchsetzt, indem sie plötzlich das dominierende Herzorgan der Schule wurde und der Schülerschaft mit einer vorher nicht gekannten Autorität gegenüber trat. Und bei den Schülern? Da brach sich jene Begeisterung und Liebe für die Schule Bahn, die bei den Waldorfschülern sprichwörtlich geworden ist.

Für einen Schüler, der gleich mir aus einem üblichen Gymna­sium herkam, war alles an der Waldorfschule bestürzend neu. Als ich in meine Klasse kam, mit der ich aufs engste verwachsen sollte, befand ich mich einer Gruppe von jungen Menschen gegenüber, die eine Offenheit, Geradheit und Freiheit in ihrem Sichdarleben hatte, die meine sprachlose Bewunderung her­vorrief, da jeder die Grenze seines Verhaltens selber zu ziehen schien. [...]

Diese neue Art von Gemeinschaft beschäftigte mich in den ersten Wochen meines Waldorfschülerdaseins besonders. Unvergeßlich sind mir diese ersten Wochen geblieben, weil sie von einem unerhörten Freiheitsgefühl begleitet waren und von dem schwer zu formulierenden Empfinden, immer näher an echtes Menschsein heranzukommen. Schon der äußere Ablauf des Unterrichts beeindruckte mich. Vor seinem Beginn wurde von Schülern und Lehrer gemeinsam der „Morgenspruch“ von Rudolf Steiner gesprochen, der mir täglich eine mich tiefbe­wegende Bestätigung des Menschseins gab und dem ich mit konzentrierter Aufmerksamkeit folgte. Öfters, wenn ich für mich allein war, wenn Lebensrätsel und Daseinsprobleme drängend wurden, gingen meine Gedanken zu diesem Spruch hin, vertieften sich in ihn und erlebten die große ordnende Kraft dieser Worte. War doch die ganze Weltenordnung in ihm enthalten und teilte sich der Seele mit. [...]

Daran anschließend möge besonders jener anderen Lehrer gedacht werden, die gleich Dr. Schwebsch die Träger des Oberstufen‑Unterrichtes waren: Dr. Walter Johannes Stein, Dr. Eugen Kolisko, Dr. Herbert Hahn, Martin Tittmann, E. A. K. Stockmeyer, Graf Bothmer – um nur diejenigen zu nennen, die in den beiden obersten Klassen damals Unterricht erteilten. Wenn man ihre Leistungen vom heutigen Standpunkt aus beurteilt, muß man ihnen allen ein glänzendes Zeugnis ausstel­len. Ich habe keine Lehrerschaft je gekannt, die sich so rückhalt­los hingebend ihrer pädagogischen Aufgabe gewidmet hat, wie das damalige Kollegium der Waldorfschule. Es wehte der Hauch einer geschichtlichen Mission, ungewollt und ungesucht, in ihrem Wirken.

Ein Waldorflehrer zu sein, war auf eine einzigartige Weise mit einem hohen Ansehen verbunden, wie es geistigen Pionieren gebührt, und eine größere Auszeichnung als die, von Rudolf Steiner als Lehrer an die Schule berufen worden zu sein, gab es nicht.

Die so Berufenen waren durchwegs hochbegabte Persönlich­keiten mit außergewöhnlichen Gaben. In der Regel waren sie – und das ist sehr beachtenswert – vorwiegend junge Menschen, oft nur um wenige Jahre älter als die Schüler der obersten Klasse und gerade knapp mit dem Studium fertig geworden, also zwischen Anfang zwanzig bis dreißig. Das, was sie zu Waldorflehrern machte, mußten sie erst aus sich selbst heraus entwickeln. Ja, es gab welche, die von Rudolf Steiner vor ein ihnen ganz fremdes Unterrichtsfach gestellt wurden, in das sie sich grundlegend einzuarbeiten hatten, wie das z.B. Dr. Stein geschehen war, dem als Mathematiker der Geschichtsunter­richt zugeteilt wurde. Wenn ein Lehrer auf einen solchen Auftrag hin etwa bescheiden sagte, daß er aber dieses oder jenes nicht könne, dann war die trockene Antwort: „Dann nehmen Sie eben Bücher und eignen sich das an. Vielleicht kann Ihnen ein Kollege dabei helfen.“

Ein Musterbeispiel für ein solches Sichaneignen war Walter Johannes Stein. Er war ein hinreißender, faszinierender Geschichtslehrer. Sein freundlich‑herzliches Wesen war im Unterricht überstrahlt vom Duktus. des Geschichtsforschers, der mit einer imponierenden Sicherheit die spirituellen Zusam­menhänge im Geschichtsverlauf sichtbar machen konnte. Trotz seines äußerlich bescheidenen, stillen Auftretens, das über­haupt keiner disziplinarischen Mittel bedurfte, um gänzliche Ruhe im Unterricht zu haben, wirkte er durch seine geistige Potenz als unbestrittene Autorität. Sein mit ruhiger, gelassener Stimme vorgebrachter Unterricht war jedoch innerlich enorm dramatisch und geistreich, seine Gespräche und Diskussionen mit den Schülern unübertroffen an Schlagfertigkeit und witzi­ger Dialektik, wie wenn die Blütezeit der Scholastik auferstan­den wäre. Das Überzeugende und unnachahmlich Lebendige seines Unterrichts bestand in einer Darstellungs‑ und Schilde­rungstechnik, die so den Stoff behandelte, als ob er selbst mit dabeigewesen wäre. Das konnte er deswegen tun, weil er ein immenses Quellenstudium betrieb, das ihm Detailkenntnisse von Milieu und Persönlichkeiten, von Umständen und Motiven geschichtlicher Handlungen vermittelte, die in keinem Geschichtswerk zu finden waren. [...]

Die Waldorfschule war trotz ihrer Größe an Zahl der Schüler und Lehrer gekennzeichnet durch eine immer stärker sich bildende echte Gemeinschaft, die Schüler und Lehrer fest miteinander verband. Man darf ja bei der Schulung des Schülers nicht nur daran denken, was er, der einzelne, jetzt gelernt und sich angeeignet hat, sondern ebensolche Sorgfalt muß man dem Darinnenstehen in der Gemeinschaft widmen. Jeder junge Mensch sehnt sich in der Regel nach Gemeinschaft, Zusam­mengehörigkeit und Geselligkeit. Diese sozialen Kräfte müssen gebildet und gefördert werden. Sie wuchern zu lassen, ist ebenso eine Gefahr, wie sie überhaupt nicht zu berücksichtigen und daher zum Absterben zu bringen. Das Zusammenlernen in einer Schulklasse ist nun in erster Linie ein starkes soziales Element, das an und für sich ausgedehnte pädagogische Wir­kungen hat. Aber jede Klasse strebt danach, sich von allen anderen abzukapseln und ein egoistisches Sondersein zu füh­ren, Es muß der Lehrerschaft daran liegen, daß alle Schüler sich in einem großen Schulorganismus, einem wichtigen, zu respek­tierenden Schulwesen eingebettet wissen und sich wohlfühlen in dieser Gesamtheit. Eine Stimmung von solcher Gemein­schaft zu erzeugen, muß das bewußte Bestreben der Lehrer­schaft sein. Dazu gehört, daß die Lehrer selber eine solche Gemeinschaft bilden und sich daher alle und jeder einzelne für die Schule und ihre Schüler verantwortlich fühlen. Dann aber muß die Gelegenheit herbeigeführt werden, daß die ganze Schule, alle Schüler mit allen Lehrern zusammen, sich in rhythmischen Zeitabständen treffen und gemeinsam etwas erleben. Die größte gemeinschaftsbildende Kraft ist die Kunst, und die Form, in der sie wirkt, ist das Fest oder die Feier. [...]

Etwas vom Interessantesten, was ich im Hinblick auf die Gemeinschaftsbildung als Schüler miterlebte und sehr schätzte, war der Abschluß des Schuljahres vor Ostern und der darauf­folgende Beginn des neuen: Wieder wurde am letzten Schultag die Schülerschar versammelt und jetzt trat Lehrer für Lehrer vor die ganze Versammlung, sprach aber jeweils nur seine .eigenen Schüler an: „Liebe Schüler der siebten Klasse!“ zum Beispiel. In wenigen Sätzen hob er ein besonderes Element des vergangenen Schuljahres heraus und beleuchtete es in einem neuen Zusammenhang. Es waren mahnende oder ermun­ternde, tadelnde oder zufriedene Worte und Hoffnungen, die für das neue Schuljahr ausgesprochen wurden. Wie nun jeder einzelne Lehrer sich dieser Aufgabe entledigte, war überaus spannend. Man lernte alle Lehrer, an denen man, auch wenn man von ihnen keinen Unterricht hatte, ganz allgemein interes­siert war, von neuen Seiten her kennen. Wieviel Herzlichkeit, menschliche Güte, lösende Heiterkeit und besinnlicher Ernst wurden da sichtbar und kaum einer war moralisierend oder philiströs. Es waren liebenswerte Persönlichkeiten, die da vor einem standen, und wenn jemand ganz besonders ins Schwarze getroffen hatte bei seiner Ansprache, war man stolz auf ihn und empfand: „Das war ein echter Waldorflehrer.“ In einer solchen Zusammengehörigkeit regen sich bedeutsame Kräfte, die viel zur seelischen Bildung beitragen, wenn es auf einem solchen Niveau sich abspielt wie an der Waldorfschule.

Der Beginn des Schuljahres wurde dann wieder in freudiger, erwartungsvoller Tonart mit Ansprachen eröffnet. [...]

Zeugnisse und geduldiges Reifenlassen

[...] Vom ersten Schultag an geht unter den Schülern einer Klasse das Myste­rium der Gemeinschaftsbildung vor sich. Wer nur ein wenig Sinn für seelisch‑geistige Vorgänge hat, wird diesem Mysterium einen sehr hohen Rang im Werden des Menschen, in der Entwicklung seiner Seele einräumen. Die Kinder leben tag­täglich in einem „übersinnlichen“ Zusammenhang miteinan­der, keines ist isoliert in seine Haut eingeschlossen und nimmt seine Kameraden nur von außen durch die Sinne wahr, sondern jedes lebt „außer sich“ in den andern mit darin, wird durch die andern angeregt, erzogen, geformt, geweckt und bereichert, so daß zur Existenz einer Kinderseele, zur glücklichen, gesunden Existenz, ganz notwendig die vielen anderen seiner Klasse mit dazugehören. Eine einzige Woche des Zusammenlernens genügt, um die Seele bleibend, ein ganzes Leben lang, mit den anderen zu verbinden. Das, was der Lehrer und der Unterricht am Kinde vermögen, ist nur denkbar auf dem lebendigen Boden einer solchen Seelengemeinschaft. Wenn man etwas im Leben ernst nehmen muß, dann ist es das Schicksal, das Menschen miteinander verbindet. Hier in einer Schulklasse lebt sich handgreiflich Schicksal aus, bildet sich und eint eine Menschengruppe für lange Zeit. Jeder, der sich an seine Schulzeit erinnert, weiß, wie innig man mit seinen ehemaligen Schulkameraden verbunden ist und verbunden bleibt, wie einem dadurch Kräfte und Hilfen erwachsen.

Auch der Lehrer ist in diese Schicksalsgemeinschaft mit einbezogen. Nicht nur dadurch, daß er durch seinen Unterricht daie Schüler fördert, ihnen durch sein Menschsein moralisches Vorbild und inneren Halt schenkt und durch seine ganze Art die Kindercharaktere entscheidend mitprägt, sondern im Sinne der Schicksalsgesetze gehört er intensiv in diesen Kreis junger Erdenmenschen, die ihr Schicksal und damit auch ihn suchen, mit hinzu. Es nimmt einen daher nicht wunder, daß Rudolf Steiner in erster Linie das eliminiert hat, was solche Seelenge­setze verletzt: das ist das sogenannte Sitzenbleiben der Schüler. Ein Kind, das, oft in Unkenntnis seiner Psyche, vom Lehrer so taxiert wird, als ob es im Lernen beim Vorwärtsschreiten der Klasse nicht mithalten könne, wird nicht versetzt und muß in einer tieferen Klasse denselben Stoff repetieren. Und schon ist eine lebenslänglich dauernde Wunde geschaffen worden: her­ausgerissen aus dem Schicksalskreis, dem es nach höherem Walten angehört, leidet ein solches Kind unsagbar unter einer derart rein intellektuellen Fürsorge. Es würgt die innere Hei­matlosigkeit, die Verfemung, welche es durchmachen muß, die Schande, weil es so bloßgestellt worden ist, in sich hinein. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß Kinder darüber hinweg­kommen – sie tun bloß so. Gegenüber einem solchen brutalen Akt, der Heiligstes vernichtet, wiegt das Nichtmithalten‑Kön­nen im Lernen gering. [...]

Längst gehört es zur intimen psychologischen Erkenntnis, daß es Kinder mit verschiedener zeitlicher Entwicklungsschnelligkeit gibt: solche, die schnell und mühelos auffassen, aber den Stoff nicht eindringlich mit sich verbinden, und die anderen, die langsam und oft mühsam zu verstehen scheinen, bei denen das Gelernte aber lange nachwirkt, ja zu einer Frucht reift, die eine selbständige Leistung dieser Seele ist und größere Bedeutung besitzt, als wenn dem äußeren Schein zuliebe ein sofort abfragbares Wissen vorhanden gewesen wäre.

Noch ein anderes Problem hängt damit zusammen, daß es nämlich Schüler gibt, die alles intellektuelle Lernen und jede Abstraktion vor ihrer Geschlechtsreife nicht leisten können. Es dringt in sie ebensowenig ein wie das Wasser in die Haut. Sie erwecken den Eindruck der Dummheit, während in Wirklich­keit ihre Seele noch in ganz anderen, in bildhaften Welten zu Hause ist. Haben sie die Pubertät absolviert, dann erkennt man sie in ihrem verwandelten Wesen oft nicht wieder, und in kürzester Zeit haben sie, fast spielend, das nachgeholt, was ihnen vorher nicht beizubringen war. Wie oft hat Rudolf Steiner auf die Klage eines Lehrers, daß mit einem Schüler nichts anzufangen sei, gelassen geantwortet: „Der wird in der 9. Klasse den Knopf schon noch auftun!“ Und so geschah es dann auch. Ich selbst habe Schüler erlebt, die nach dem 16. Lebensjahr so erstaunliche Entwicklungen durchgemacht, das Abitur bezwungen und doktoriert haben, während sie bis zur Oberstufenreife als ganz schwach beurteilt werden mußten, daß ich längst aufgegeben habe, gültige Urteile aufgrund des Lernens abzugeben. Da müssen ganz andere Indizien vorhan­den sein, um zu einer vorwiegend negativen Aussage zu ge­langen. [...]

Die Waldorfschule hat solchen Entwicklungswahrheiten im weitesten Maße Rechnung getragen, indem der Lehrer durch die Führung der Schüler von der ersten bis zur achten Klasse seine Kinder intim kennenlernen kann und er ganz allein zu entscheiden hat, ob es noch möglich ist, einen Schüler von Klasse zu Klasse aufrücken zu lassen, oder ob andere Maßnah­men zu treffen sind. Diese Verantwortungsfreiheit gibt dem Lehrer die Geduld des Zuwartens, des Reifenlassens, des Beobachtens und unentwegten Förderns eines Kindes. Und wie oft ist diese Geduld belohnt worden, welche dankbaren Schüler hat man später ins Leben entlassen können, in welchem manch­mal gerade diese sich durch lebensnahe energische Initiativen, durch kräftiges Durchhalten in schwierigen Situationen und durch eine besonders freudige Aufgewecktheit in ihrem Berufe ausgezeichnet haben. Sie waren die im Leben so nötigen Willensmenschen.

Was braucht nun ein Kind, das sich ganz dem Lehrer hingibt, ihm grenzenlos vertraut und sich ihm zeigt, wie es ist? Es braucht das unverlierbare Empfinden, daß der Lehrer es lieb hat, daß er ihm die Wege des Lernens zeigt, gütig im Verstehen der Schwächen, gerecht im Tadeln und Erziehen.

Diesem Empfinden gaben die Zeugnisse Bestätigung. Die Zeugnisse, die Rudolf Steiner für die Schüler angab, waren nur einmal im Jahr auszustellen. Sie sollten eine Art erzählender Biographie des Werdeganges in diesem Jahr sein, mit der Grundhaltung der Positivität. Da sollte dem Schüler gesagt werden, was er im Laufe des Jahres gut gemacht, wie er sich angestrengt und fleißig gelernt habe, daß die negativen Dinge überwunden und an ihrer Stelle im nächsten Jahr um so bessere Leistungen erwartet und erhofft würden – das Ganze ein Anspornen, ein Bestätigen, ein positives Werten. Wenn das die Stimmung des Zeugnisses ist, dann darf durchaus auch ein berechtigter Tadel ausgesprochen werden, er vernichtet dann nicht. Wer solche Zeugnisse nicht selbst erlebt hat, weiß nichts von ihrer überwältigenden moralischen Wirkung. Mit atembe­raubendem Interesse liest der Schüler, was ihm sein Lehrer zu sagen hat, er ist bis ins Innerste berührt von der liebevollen Menschenkenntnis, die ihm aus seinen Worten entgegenkommt, er fühlt sich in seinem Streben nach gutem Lernen und Vorwärtskommen am meisten dadurch unterstützt, daß er Anerkennung und Lob findet, so daß ein heiliger Wille ent­steht, in Zukunft noch mehr zu leisten. Glückliche Schüler waren wir, wenn wir mit unseren Zeugnissen nach Hause gingen und nur eines in unserer Seele hatten: „Was ist das für eine wunderbare Schule, und wie lieben wir sie und unsere Lehrer.“ [...]

Das Wirken aus dem unmittelbaren Kontakt heraus ist überhaupt ein pädagogisches Geheimnis, denn dadurch wird eigentlich der Schüler seelisch und moralisch gehalten. Der vom Lehrer allein gelassene und nur intellektuell unterrichtete Schüler ist viel mehr der Gefahr des Abgleitens in moralisch schwierige Situationen ausgesetzt als derjenige, der sich mit seinem Lehrer verbunden weiß. Dieses Verbundensein darf aber nicht als eine subjektive Bindung verstanden werden, sondern als ein Darinnenstehen in dem Geist der Schule. Von einem starken pulsierenden Geist war die Waldorfschule durchzogen, und ganz ihrem unmittelbaren lebendigen Wesen entsprechend war, daß Rudolf Steiner in keinem Unterricht ein Lehrbuch in der Hand des Lehrers sehen wollte. Weder Lehrer noch Schüler durften Bücher haben. Der ganze Unterricht war auf das unmittelbare Geistgeschehen aufgebaut, das der Lehrer im lebendigen Entwickeln und Erarbeiten des Stoffes mit den Schülern gemeinsam im Unterricht entstehen ließ. Und nicht nur der Lehrer „ließ entstehen“, sondern in zündender, packender Weise entwickelte sich aus der Sache heraus ein objek­tives, frei sich darlebendes Erkenntnisgeschehen, das tatsäch­lich mit seelenverwandelnder, ja sogar intelligenzsteigernder Macht sich auswirkte. Der Schüler bekam einen beweglichen und weiten, aber immer sehr spirituellen Horizont.

Das war die Folge davon, daß das tote Buch ersetzt werden mußte durch die Anstrengung des Lehrers, mit der Klasse den Stoff zusammen zu erarbeiten, und das führte zu jenem wesent­lichen menschlichen Kontakt, der dann in allen Entwicklungs­problemen des jungen Menschen eine so tragende Kraft besaß. [...]

Wir Waldorfschüler hatten ein unermeßliches Vertrauen zu unseren Lehrern, da wir spürten, aus welchem pädagogischen Impuls des Förderns, Verstehens und Heilens heraus gewirkt wurde. Aber dieses Vertrauen war keine Blindheit, da eine solche Erziehung den Schüler offen für seine Umwelt und sehr freimütig im Aussprechen von Unstimmigkeiten macht. [...]

Der Lehrer ein Künstler – Pädagogik eine Kunst

Wie manche Nacht lag ich im Suchen nach dem rechten Weg wach, überzeugt, daß die erzieherische Kraft nicht aus dem Intellekt, sondern aus der Hingabe an das höhere Wesen dieses Knaben und den echten Geist der Pädagogik fließen müsse. Das begründete mein von da an unaufhörliches Verhältnis zu den von Rudolf Steiner gegebenen Lehrermeditationen, die ich in allen Notlagen des Lehrertums als unfehlbare Quelle für innere Stärke und Substanz erlebte. Als der wahre Geist der Pädagogik hat mir die lebendige Christuswesenheit gegolten. Mich an sie zu wenden war mein Streben als Heilpädagoge und Lehrer. Rudolf Steiner hat in einem seiner pädagogischen Vorträge in Dornach dem Lehrer folgenden Satz für seine innere Arbeit gegeben:

„Lieber Gott gibt, daß ich selbstlos werde in bezug auf meine persönlichen Ambitionen und Christus mache, daß das paulinische Wort in mir lebendig werde: Nicht ich – sondern der Christus in mir.“

Mit diesen Sätzen habe ich gelebt und ihre Wirkung früh erfahren. [...]

Als Einundzwanzigjähriger durfte ich zum erstenmal eine erste Klasse führen. Wer noch nie das Glück oder die Gnade gehabt hat, siebenjährige Kinder unterrichten zu dürfen, weiß nichts von jener Welt, in die der Erwachsene sich da hineinbegibt und die ihn völlig dem gewöhnlichen Erdenleben entführt. Da existiert mitten unter uns eine Welt, die den ausgebildeten Intellekt des Lehrers nicht gebrauchen kann, mit dem er restlos scheitert, wenn er sich damit durchsetzen möchte, die nach anderen Gesetzen lebt und die eine Himmelsluft atmet, allem einen seltsamen Glanz verleihend, der unserer Erwachsenen-E­rde unbekannt ist.

Erstklässler sind Wesen, die im Nu die Art ihres Lehrers äußerlich und innerlich nachahmen, die ihn sozusagen mit Haut und Haar verschlucken und der für sie zum A und O des Seins wird. Ist der Lehrer ein blasser Intellektueller, der im Gefängnis seiner Abstraktionen lebt, so drohen auch sie blaß, trocken und abstrakt zu werden. Ist er dagegen ein künstlerischer Pädagoge, dann tauchen sie auf, die naiv‑künstlerischen Fähigkeiten der Kleinen, ihre Phantasie und ihre herzhaften Unbe­fangenheiten. Ihre Daseinslust, und ihr Lerneifer durchbrausen das Schulzimmer und jeder Tag ist der Tag einer neuen Schöpfungsgeschichte. [...]

Das Unterrichten als ein künstlerisches Tun anzuschauen, ist das höchste Verständnis, das jemand dafür aufbringen kann. Ein Musiker komponiert aus der Welt der Töne, mit den Inspirationen, die ihm geschenkt werden, und bringt zur Geburt, was vor ihm niemand gehört hat. Ein Maler, der aus den Farben heraus sein Bild entstehen läßt und der beim Malen das Werden des Bildes mit Staunen erlebt, steht in einem Schöpferprozess darin, der erst hinterher der Erkenntnis zugänglich ist.

So steht der Lehrer vor seiner Klasse. Er kennt den Stoff, den er vorzubringen hat, er entwickelt ihn anschaulich, und beim Sprechen und Erzählen fließt etwas mit hinein, was aus dem Zuhören der Schüler stammt. Das Zuhören ist kein passiver Vorgang. Kräftig packen die Schüler zu, wenn die Bilder des Lehrers ihre Seele erreicht haben, und plötzlich fängt es an zu klingen wie bei einem gemeinsamen Musizieren. Eine Unter­richtsstimmung hat sich eingestellt, die unversehens ein gemeinsames Erlebnis für alle ist. In diesem Klingen, Malen, Bauen aus Seelen‑Stoff – denn es ist sowohl ein Malen, Musizieren wie ein Plastizieren – vollzieht sich in der Sphäre des Künstlerischen das Lernen. Die Kinder sind Mitschaffende und weil sie das sind, haben sie auch gelernt. Bei diesem Lernen entwickeln sich seelische Kräfte. Die Schüler werden innerlich stärker als sie vorher waren, es verbindet sich etwas aus den Tiefen ihres Wesens mit dem, was der Lehrer unterrichtet hat, und das führt über das Niveau hinaus, das sonst der einzelne in die Schule mitbringt. Ist solchermaßen der Unterricht zu einem „Erreichnis“ geworden, dann haben Lehrer und Schüler gemeinsam etwas zur Geburt gebracht, das einmalig ist. Denn jede Schulstunde ist etwas für sich, das nicht reproduziert werden kann. Damit teilt der Lehrer auch das schwere Los des Künstlers. Nur ist seines noch schwerer, denn der Künstler legt Pausen ein, wenn er in keiner schöpferischen Phase ist. Der Lehrer aber muß jeden Tag sich als Künstler betätigen und bewähren. Wie kommt er zu dieser schöpferischen Quelle? Das ist die Grundfrage seiner künstlerischen Existenz!

Denken, Fühlen und Wollen sind Kräfte des Unsichtbaren, die fortwährend in die Welt des Sichtbaren, des Materiellen einströmen. Je nach ihrer Natur führen sie zu aufbauenden oder zerstörenden Wirkungen. Die Verantwortung des Lehrers, der ja an und mit diesen Seelenkräften der Kinder, und zwar mit allen dreien harmonisch arbeitet, sie weckt, entwickelt und brauchbar macht, ist grenzenlos. Um da vorwärts zu kommen, muß er seine eigene Seele entwickeln und trainieren. Seelenfor­schung und Seelenausbildung an sich selbst ist seine mit diesem Beruf zusammenhängende Tätigkeit. [...]

Schülerbeurteilung und Lebenswirklichkeit

[...] Wie oft habe ich in meiner Tätigkeit als Lehrer die Erfahrung gemacht, daß wir in die erste Klasse Schüler hereinbekamen, die in mancher Beziehung voller Hemmungen, ja mit Defekten belastet erschienen. Mitleid und Sorge überfiel einen bei ihrem Anblick, denen man nicht nachgeben durfte; man mußte statt dessen Hoffnung und Einsatz daneben stellen. Wenn man dann nach sechs, sieben Jahren dieselben Sorgen­kinder wieder mit ihrem Anfangszustand verglich und sich vor das Gemüt führte, wie negativ das Urteil am Anfang gelautet hatte, und den jetzt erreichten Fortschritt betrachtete, dann mußte man an ein Wunder glauben. Oft wird man erst durch einen noch viel längeren Lebensabschnitt, der bis ins Berufsal­ter, ins spätere Erwachsenen‑Sein hineinführt, darüber belehrt, was aus solchen ungünstigen Lebensanfängen werden kann. Um was es sich handelt, ist der Wille des Lehrers, vor den Vererbungsmächten nicht zu kapitulieren, sondern den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Das ist für den Heilpädagogen eine selbstverständliche Gesinnung, sie sollte es aber für jeden Lehrer werden. In der Schule spielt sich ein unaufhörlicher Kampf um das Menschsein ab, und diesen Kampf gilt es mit Elan zu führen. Entscheidend sind die acht bis zehn Schuljahre, in denen das Kind noch sehr aufnahmefähig, lernbegierig, umwandlungsfähig und beeindruckbar ist.

Da sind es nun gerade die Bilder, die der Lehrer im Unter­richt findet und vor die Seelen hinstellt, die unmittelbar das Kindeswesen ergreifen und es zu einem Wachstum und Auf­wachen bringen, was gleichsam zu einem Freiwerden von Kräften führt, die durch die Vererbung zugedeckt oder ausge­schlossen sind. Für Minuten oft nur kann der Lehrer am Auge des Kindes entdecken, daß „mehr“ von ihm, von seinem höheren Wesen da ist als sonst. Diese Minuten wachsen, sie rufen nach Verlängerung, die Vorgänge, die sich dabei abspie­len, gleichen einer Geburt, wo etwas Ungeborenes, das ins Leben herein will, sichtbar wird. Vielleicht gelingt es! hofft der Lehrer. Und wie oft wird er hoffnungslos, wenn wieder alles – scheinbar – zurückgefallen und zugeschüttet ist. Man kann und darf nicht zwingen, sondern muß im Bunde mit dem Kinde durch den Einsatz im Unterricht dem Schicksal das Angebot machen: greif zu! Und zu sich selber: Habe einen langen Atem! Ein Jahr ist zu wenig! Rüste dich für sieben, acht oder noch mehr Jahre! [...]

[...] Wenn man zur Erkenntnis gekommen ist, daß ein Schüler offenbar den Anforderungen nicht genügt, dann dürfte die Lehrerschaft bei dieser negativen Feststellung nicht stehen bleiben, sondern müßte unmittelbar zu der positi­ven Frage übergehen, ob ein Mensch da ist, der sich um diesen Schüler kümmern kann. Diese beiden Dinge haben innerlich miteinander zu tun. Es gehört zu den wunderbarsten Erfahrungen, die das Leben einem schenkt, daß überall dort, wo ein Mensch sich für einen anderen einsetzt, das Schicksal geändert werden kann. Jetzt allerdings fängt das Leben an unbequem zu werden, denn immer dort, wo Kinderschicksale in Frage stehen, muß auch ein Verantwortungsträger da sein. [...]

Schon nach den ersten Tagen war mir klar, um wieviel schwe­rer das Lehrersein in der untersten Stufe als bei den älteren Schülern war. In der Oberstufe kann man an das Verständnis, an die Einsicht der Schüler appellieren, was in der ersten Klasse nicht gelingt und auch nicht versucht werden sollte. Da hängt alles von der lebendigen Gestaltung, vom richtigen Wechsel und vom eifrigen Mitmachen der Kleinen ab. Es geht darum, Interesse zu wecken, Lerngenuß entstehen zu lassen und alles im Tun unmerklich zu formen. Dafür ein Beispiel:

Die Kinder waren eines Tages unruhig, zappelig und unfähig zuzuhören. Da ein Schimpfen und Moralisieren durchaus unpädagogisch ist, ließ ich sie auf ihre Bänke stehen und herunterspringen. Ein großes ausgelassenes Hallo war die Folge. Noch einmal und noch einmal mußten sie das tun und dann mit stampfenden Schritten hinter mir her durch die Bankreihen ziehen, ein lärmender Umzug. Plötzlich wandte ich mich zu ihnen um und sagte nur: „Leiser“. Das Spiel gefiel, die Füße stampfen nicht mehr. Dann folgte der nur geflüsterte Zuruf: „Auf die Zehenspitzen!“ Jetzt bemühte sich jeder, so unhörbar wie der Lehrer aufzutreten und an seinen Platz zu huschen. Ich stellte mich vor die Klasse hin, legte den Finger auf die Lippen und flüsterte: „Alles ganz still!“ Es war still wie in einer Kirche. Das hielt ich etwa zwei Minuten durch und lobte sie dann für die wunderbare Ruhe, die sie eingehalten hätten. Was war die Folge? Am nächsten Tag der Ruf: „Dür­fen wir heute wieder ruhig sein?“

Das ist ein Beispiel dafür, wie man das, was aus den Kindern im Chaos herausbricht, durch die rechte Formung in eine erzieherische Kraft überführt. Denn eine gewollte Ruhe ist Kraft. Wenn der Lehrer schalkhaft ist, Humor und Spielfreude besitzt, gelingen ihm solche Schlachten leicht und mit feiner Hand. Die Klasse reagierte geradezu wunderbar auf solche und ähnliche Prozeduren und in kurzer Zeit wurde die ganze Disziplin mit den Augen, mit einem kleinen Wink mit der Hand oder anderen, immer feiner werdenden Gesten erledigt. Beide waren jetzt aufeinander eingestellt, Klasse und Lehrer bildeten eine Einheit.

Die Lehrerkonferenz

[...] Darum kann es gar nicht anders sein, als daß das Pädagogische den Mittelpunkt der Kollegiumsarbeit bildet und daß von dorther die ständige Belebung der Erziehungsimpulse fließt. Wenn ein Kollegium weise beraten ist, dann wird es im Rahmen des Möglichen alle nichtpädagogischen Probleme, wie etwa die organisatorischen und finanziellen, an einen engeren Kollegenkreis delegieren – aber eifersüchtig darüber wachen, daß alle pädagogischen Fragen der gesamten Lehrerkonferenz gewahrt bleiben.

Von dieser pädagogischen Kernbildung hängt die lebendige Existenz des Kollegiums ab. Die geistige Erneuerung der Lehrerschaft, welche wie ein geistig‑seelischer Lebensprozeß sich unbemerkt, aber eben doch fortzu abspielen muß, kommt nicht von selbst. Gar bald merkt der im Schulganzen darinnen­stehende Lehrer, wie unerbittlich die Sprache der Tatsachen ist. Wenn er sich um die innere Entwicklung der Schule nicht kümmert, wenn er die sensible Beobachtung des Wesens „Schule“ nicht ausbildet, kann er eines Tages die bedrückende Feststellung machen, wie sich nach und nach vier Eigenschaften der Schule, das heißt des Lehrerkollegiums, bemächtigt haben, die der Vertiefung und Entfaltung der pädagogischen Fähigkeit und des Unterrichts so im Wege stehen, daß maßlose Schwie­rigkeiten entstehen. Diese vier, aus der Erfahrung vieler Jahr­zehnte beobachteten Gegenkräfte heißen: die geistige Schwere, die Formlosigkeit, die Intellektualität und die Anpas­sung.

Mit der geistigen Schwere eines Kollegiums ist seine Phanta­sielosigkeit, der Mangel an Initiative und Schwung in der Arbeit gemeint. Das Ganze ist brav, aber lahm. Weder der Unterricht noch die Schüler stehen im Lichte einer geistigen Ausstrahlung, die unweigerlich zu spüren ist, wo Energie und künstlerischer Schwung walten, wo man spürt, daß von diesem Kollegium etwas ausgeht, was immer dann der Fall ist, wenn eine geistige Geschlossenheit des Wesens „Kollegium“ da ist.

Die Formlosigkeit ist ein weitverbreitetes Übel. Der Lehrer kann derart in seine Probleme versinken, daß er von seiner Umwelt nur wenig wahrnimmt. Und zu dieser Wahrnehmung gehört vor allem die Form des Schullebens selber. Zwischen erstarrter bürokratischer Ordnung und formloser Willkür ist jenes Zwischenreich einer wohltuenden Lebensform aufzu­bauen, die nur dann entsteht, wenn Toleranz mit dem Wissen um die therapeutische Wirkung der Form sich verbindet. Der bewußtseinswache Lehrer bildet fortwährend die Form im Zusammenleben, der ekstatische sowie der mystisch versun­kene lassen sie verkommen. Die Schüler müssen aber zur Form erzogen werden, da sie auf das Seelenleben weckend und haltgebend zurückwirkt und eine Grundlage für ein gutes soziales Zusammenleben bildet. Man braucht nur ein Schul­haus zu betreten, um an dem, was einem da auffällt, Symptome vor sich zu haben, die zeigen, ob eine Lehrerschaft wach ist oder ob sie schläft.

Folgenreich für die Pädagogik ist der Sturz in die Intellektua­lität. Es braucht nur ein bis zwei Lehrer zu geben die ihren Unterricht auf eine intellektuelle Bahn gebracht haben und mit den daraus resultierenden Wissenserfolgen glänzen, dann brei­tet sich in kurzer Zeit diese Seuche aus und macht den künstlerischen Duktus der Schule illusorisch. Man sagt dann gerne, man müsse doch mit der Zeit gehen, und merkt nicht, wie der Intellekt keine seelische Bildungs‑ und Aufweckekraft hat, sondern ein Wissen im Schnellverfahren vermittelt, das die Seele des Schülers mehr und mehr lähmt und inaktiv macht.

Daraus folgt dann die Anpassung an die sogenannten „For­derungen der Zeit“. Man müsse modern sein, ist ein Lieblings­wort dafür und öffnet damit die Schule für alles, was von draußen kommt und das Schulwesen dem herrschenden Ungeist ausliefern möchte. Das kann, Radio, Kino, Fernsehen sein (die Argumente dafür sind verführerisch scharfsinnig und einleuchtend), es kann in vielen und immer wieder neuen Gesichtern auftreten. Aber immer ist diesem Ungeist eines eigen: er ist der „Strom der Zeit“. Pädagogik im Sinne Rudolf Steiners holt Urteil und Impuls, Bejahung und Verneinung einzig aus dem Menschen selber: fördert das, was die Schule tut, den Reifeprozeß des Menschen oder läßt es ihn verkümmern. Je nachdem muß der Lehrer den Mut haben, auch gegen den Strom zu schwimmen. [...]

Seelengesetze

Die Einsicht, daß man den Buchstaben aus einem Bild heraus entwickeln soll, da die Menschheit selber vom Bild ausgegan­gen und erst nach und nach zur Abstraktion, die die heutige Buchstabenform zeigt, gelangt ist, gilt als pädagogische Methode in allen Fächern. Es ist der phylogenetische Entwick­lungsgedanke Haeckels, der auf die Pädagogik angewendet wird.

Die Entdeckungen, welche der Lehrer bei seinen Kultur­- und Geschichtsstudien selber macht, wenn er zu den Kulturformen der Frühzeit vorzudringen sucht, haben für das ganze Aufbauen seines Unterrichts eine belebende Wirkung. Zunächst macht er die deprimierende Feststellung, daß er mühsam die Bücher zusammensuchen muß, um das hier nötige Quellenstudium betreiben zu können. In den „unmöglichsten“ Werken findet er eingestreut die Goldkörner, die sein Wissen darüber bereichern. Sogar in Kochbüchern habe ich wertvollste Darstellungen über Sitten und Gebräuche gefunden, die kein Geschichtsbuch enthielt. Seine eigene Unterrichtsvorbereitung wird so zu einem vertieften Studium der Menschheitsge­schichte, die erst jetzt den richtigen Elan bekommt, weil er dieses Studium für seine Schüler betreibt. Er wird bald merken, wie aus seiner Begeisterung ein Funke auf seine Schüler überspringt und sie mitreißt. Denn die Schüler lassen sich anstecken und begeistern, und jeder neue Morgen bringt neue Impulse und Entdeckungen ins Schulzimmer hinein.

Unverse­hens fängt der Lehrer an, mit den Augen seiner Schüler die Welt zu beobachten und mit den Fragen ihrer Seelen zu leben. Wenn er eine Reise macht, denkt er daran, was er davon seinen Kindern und Schülern mitbringen könnte; er forscht gründli­cher allem nach, als wenn er nur für sich allein etwas wissen möchte, denn er kennt die bohrenden Fragen der Buben und Mädchen, die einfach über alles Auskunft haben möchten und das selbstverständliche Vertrauen haben, daß ihr Lehrer eben auch jede Frage beantworten könne. So ändern sich die Per­spektiven auch für den Lehrer, und das gehört zur bedeutend­sten Umformung, die er durch seine Schüler erfährt und die ihn sehr bald aus allem Studierten in die lebendige Konkretheit des jugendnahen Pädagogen bringt.

Aus allem steigt die Wahrheit vom Gesetz der Seelenmeta­morphose auf: wer sich Erkenntnisse und Wissen aneignet, muß dafür ganz bestimmte Seelenkräfte hinopfern. Je mehr die intellektuell‑abstrakte Art des Wissens sich entwickelt, desto schwächer werden die sozialen Fähigkeiten, desto geringer das Interesse am anderen Menschen, um so unbändiger der Ego­ismus. [...]

Man kann das Aufwachen am Morgen durch Schocks erreichen, wie Lärm, Wecken, Rütteln oder durch ein vorsichtiges sanftes Aufwecken. Für die Schule umgesetzt heißt das, daß die Schüler zum Tagwachen ihres Seelenlebens hinge­führt werden müssen – nicht durch Schocks, sondern durch ein Heranbringen des Weltwissens auf der Stufe des Bildes, an dem die Seele ihre tieferen Kräfte stärkt und steigert. Sie haben dann von selbst den Drang, allmählich ganz wach im Sinne des Erwachsenen zu werden. Und dieses „Ganz‑Wachsein“ bedeu­tet, daß der Intellekt in Verbindung mit exakten Sinnesbeob­achtungen wirkt. Die Schüler unvermittelt in die Intellektua­lität hereinbringen, heißt ihre Seele mit einer Schockmethode mißhandeln. Derartig aus der Traumwelt „herausgeweckt“ worden zu sein, macht viele Kinder mißmutig, ängstlich und lebenswund, Zustände, die nie auftreten, wenn man mit der Seele und nicht gegen ihre Entwicklungsgesetze unterrichtet! [...]

Diese Betrachtung hilft einem außerordentlich für die Führung des Unterrichts, falls man in einen solchen Vergleich einzutauchen versteht. Denn viele Intimitäten der kindlichen Seele rücken einem näher, wenn man damit arbeiten lernt, daß das ganze Gefüge des Kindes sich im Element des „Träumens“, des gefühls‑ und gemütsdurch­setzten Seelen‑Bildergewoges befindet. Ein schrittweises Hin­führen zum „Aufwachen“ wird einem dann das Unterrichten durch alle Schulklassen sein, bis am Ende dieser Schulperiode, vom zwölften Jahre an mehr und mehr, das Aufwachen sich energisch durchsetzt. Aber dieses „Aufwachen“ wird von der Seele des Schülers her durchgesetzt, es ist sein Prozeß und seine Anstrengung. Damit soll darauf hingedeutet werden, daß eine von innen gesteuerte Gesetzmäßigkeit zum Durchbruch gelangt, die ihre geistige Hilfe von der Seite des Unterrichts her benötigt. Der Lehrer steht, wenn er solche Gesetze der Psyche kennt, vor dreierlei Möglichkeiten des Geschehens: das Kind wacht zu früh auf. Das ist heute vorwiegend der Fall, da die Reize und Sensationen der Umwelt den „Traumzustand“ der Seele brutal durchbrechen und das Kind in die Außenwelt hereinzerren. Altkluge, gescheite, frühreife Kinder, eben kleine „Erwachsene“ mit zu wachem Verstand sind die Folge.

Das polare Gegenbild stellen die Kinder dar, welche weit über die Pubertät hinaus in einer verschlossenen Traumwelt verharren und nicht zum Aufwachen zu bringen sind.

Die Minderheit macht in harmonischem Gleichmaß die Schritte, die der Entwicklung angepaßt sind. Die Pädagogik hat nun hier einzugreifen. Sie muß versuchen, die Polaritäten des „zu früh oder zu spät“ zu harmonisieren, und das geschieht dadurch, daß man das Richtige tut. [...]

Lebensfragen

Viele Schüler gibt es, die schon früh von Lebensfragen erfüllt sind und oft davon gequält nach Antwort suchen. Es fällt einem auf, wie wenig sie damit herausrücken, wie wenn sie von einer seltsamen Scheu zurückgehalten würden. Sicher ist auch das Unvermögen mit im Spiel, solche Fragen zu formulieren und ins Bewußtsein zu heben. Es ergibt sich daraus für den Lehrer die Aufgabe, im Unterricht soviel als möglich vom Leben und von den Menschen selber zu sprechen, so daß Lebensbilder entste­hen, die aus den vier Wänden des Schulzimmers herausführen. Es entwickelt sich von selber so etwas wie eine Lebenskunde, die ihren festen Platz in jedem Unterrichtsfach haben sollte. Eine Frage müßte mit heiligem Ernst aufgegriffen und behan­delt werden, die bis ins reife Erwachsenenalter einer immer neuen Antwort bedarf und mit der jeder Mensch seinen Lebensweg antritt: was ist der Mensch? Wer bin ich selbst? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Tod?

Können solche Fragen philosophisch‑weltanschaulich beant­wortet werden? Man käme dabei bald in ein recht trockenes Fahrwasser und hätte den jungen Seelen das Fragen, oder Suchen nach Antwort, abgewöhnt. Lebensfragen haben es in sich, daß ihnen nur ein Bild, ein künstlerisches Gleichnis als Antwort angemessen ist.

„Was ist Gott?“ – Jenes Wesen, das die Welt und den Menschen geschaffen hat. – Warum kann man ihn nicht sehen?

Das wollte einst auch ein König wissen. Er fragte alle Weisen seines Landes, aber ihre Antworten befriedigten ihn nicht. Entweder waren sie so einfältig oder so schwer, daß er damit nichts anfangen konnte. Da besuchte er einen Einsiedler, von dessen Weisheit überall gesprochen wurde. Auch ihm stellte er die Frage, warum der Mensch, der von Gott geschaffen worden sei, seinen Schöpfer nicht sehen könne. Da führte ihn der Einsiedler vor seine Hütte hinaus, wies mit seiner Hand hinauf zur Sonne und sprach: „Blicke in die Sonne!“ Der König hob seine Augen hinauf und wandte sich schmerzlich geblendet sogleich wieder vom Sonnenlicht ab. „Wie willst du, törichter Mann, Gott anschauen, wenn du nicht einmal die Sonne, welche sein Werk ist, ertragen kannst?“ – Da ging der König demütig in sein Schloß zurück.

„Was ist die Seele und was tut sie nach dem Tode?“ – Sie ist das in uns, was lernt und arbeitet, was nach Erkenntnis und Weisheit strebt, was sich von der Wahrheit, Liebe und Güte leiten lassen will, damit es in ihr immer heller wird. Sie sucht inneres Licht. Betrachte die Raupe. Sie arbeitet sich an der Pflanze hinauf, frißt die Blätter, wird groß und stark, und am Ende ihres Raupenlebens beginnt sie um sich ein Gehäuse zu spinnen, und in dieser Puppe ruht sie und macht eine eigentüm­liche Verwandlung durch. Eines Tages, wenn die Zeit dafür gekommen ist, wird die Puppe durchbrochen und ein Wesen kommt herausgekrochen, das sich nach dieser schweren Arbeit obenaufsetzt, von der Sonne bestrahlt wird, seine Flügel aus­breitet und sich plötzlich von der Pflanze abhebt und hinauf­fliegt in das Licht. Der Schmetterling, die verwandelte Raupe, ist nun ein Angehöriger der Licht‑ und Sonnenwelt geworden.

Alle Fragen der Schüler fordern die Antwort eines Künstlers, der im Bilde auszudrücken versteht, was Nahrung für viel mehr ist, als was dem kleinen Verstand angepaßt wäre. Nur sollte keine Deutung hinten nachfolgen. Das Bild muß stehenbleiben und vielleicht noch wie ein Rätsel wirken. Das Unausgesprochene klingt am längsten nach und kommt immer wieder wie eine Ahnung in die Seele zurück.

Eines sei eingeräumt: die entsprechenden Bilder zu finden, um den Schülern eine Antwort auf ihre Lebensfragen zu reichen, ist keine Tätigkeit des Verstandes, der sich ein Bild „ausdenkt“, sondern ist selber eine künstlerische Tat, eine Art begnadeter Inspiration. Und darum ein Vorgang, den man nicht herbeizwingen kann, sondern auf den man warten lernen muß. [...]

Über die Temperamente

Beim Unterrichten spielen diese vier Reifegrade eine große Rolle. Was man wieder beachten muß, ist die allgemein gültige pädagogische Richtlinie, daß man keine Kräfte im Kinde unterdrücken darf, sondern sie durch richtige Anwendung umwandeln soll. Im Geschehen des Unterrichts müssen wir Lehrer die Fähigkeit haben, das, was die einzelnen Tempera­mente als Eigenschaft haben, auch nutzbringend für den Unter­richt zu verwenden. Ein einfaches Rezept! Wie sieht es jedoch in der Praxis aus? Ein kleines Beispiel kann helfen.

Es sei in einer unteren, vielleicht einer zweiten Klasse ein Satz von der Wandtafel abzuschreiben. Es ist klar, daß der Phlegmatiker am längsten dafür braucht, danach der Melancholiker, während Sanguiniker und Choleriker am ehesten damit fertig sind. Das Abschreiben ist eine Beschäftigung, die an und für sich dem Phlegmatiker liegt, er ist also seinem Wesen nach richtig beschäftigt. Der Sanguiniker, der mit einer gewissen Leichtig­keit, oft Flüchtigkeit, sich dieser Aufgabe widmet, geht bald dazu über, durch ein farbiges Ausmalen seiner Buchstaben die nötige Variation in sein Schreiben hineinzubringen; die Melan­choliker beschäftigen sich gerne damit, die geschriebenen Wörter zu kontrollieren, auch beim Nachbarn, ob keine Fehler unterlaufen sind, während der Choleriker seine Schrift mit besonders kräftigen Farbzügen ausstattet.

Gerade solche Auf­gabenerweiterungen oder Zutaten erfinden die Schüler von selber und in diesen Erfindungen belegen sie aufs schönste ihre Temperamentsart. Im Betätigen dieser ureigenen Tempera­mentskräfte fühlt sich jeder Schüler glücklich und ist darum offen und innerlich bereit, wenn man ihm eine Aufgabe stellt, die eine Änderung des Temperamentes einleitet. Wenn man etwa dem Choleriker sagt, er möge das, was er geschrieben habe, noch einmal abschreiben, aber mit so zarten und feinen Buchstaben, wie er das noch gar nicht könne, wird das Choleri­sche eingesetzt, um eine neue Fähigkeit zu üben und eine alte zu überwinden. Oder wenn der Melancholiker seine im allgemei­nen kleine und brave Schrift beim neuen Abschreiben des Textes plötzlich recht groß machen muß, mit großen Abständen zwischen den einzelnen Wörtern, oder wenn der Sanguiniker plötzlich den Satz so abschreiben muß, daß er ihn von rückwärts nach vorne schreibt, dann werden hier Kräfte gefordert und mobil gemacht, die das Kind mit Hilfe des Lehrers als etwas Neues gern und freudig übt. Und den Phlegmatiker versucht man zwei, drei Wörter schneller als bisher schreiben oder für jedes Wort eine andere Farbe nehmen zu lassen. Für diese Stiländerung des Temperamentes ist Freude und Humor als Stimmung nötig, damit die Kinder in jene Verfassung hinein­kommen, aus der allein die schwere Aufgabe Erfolg haben kann, nämlich stückweise aus ihrem Temperament herauszu­kommen und im Sinne eines andern zu arbeiten. Viele Kinder erleben solche Übungen mit einem gewissen Reiz, und der Lehrer sieht ein bewußteres Element in die Klasse einziehen.

Eine wichtige Hilfe in diesen Bemühungen um eine Wand­lung des Temperamentes – die ja eigentlich nur das Heranrufen eines ausgleichenden anderen ist – ist die Art, wie der Lehrer den Unterricht erteilt. Daß der Lehrer fortwährend sich in der Gefahr befindet, auch seinerseits nur gemäß seinem Tempera­ment zu unterrichten: langweilig als Phlegmatiker, ewig wie­derholend und perfektionierend als Melancholiker, sprunghaft schwatzsüchtig als Sanguiniker, schockierend dramatisch als Choleriker, darf nie aus dem Auge verloren werden. Denn in der Temperamentserziehung ist der Lehrer mit inbegriffen. Er sollte es fertigbringen, in vier Rollen auftreten zu können, also nicht nur sich selbst den Kindern als Stilelement anzubieten, sondern je nach der Gruppe, der er sich zuwendet, in entspre­chender Stimmung zu sprechen und zu gestalten. Das ist eine eminent künstlerische Aufgabe und verlangt eine außerordent­liche pädagogische Einstellung, so daß Unterrichten nicht nur heißt, ein Fach zu beherrschen, um es erklären zu können, sondern auch die Seelen der Kinder zu berücksichtigen in der Art, wie der Unterricht dargeboten wird.

Daß der Choleriker unter den Schülern durch alles Drama­tische tief befriedigt wird, kann man aus seinem Gesicht direkt ablesen. In jedem Fach, ob es nun Geographie, Biologie, Mathematik oder Geschichte sei, kann etwas so dargestellt werden, daß daran die Schwere der Aufgabe, die Anstrengung der Lösung, die scheinbare Sackgasse, alles als Kampf gemeint, sichtbar wird und sich dadurch die innere Cholerik der Seele verbraucht und „abkämpft“. Es ist interessant zu bemerken, daß dieselben Formen genausogut für den Melancholiker gebraucht werden können, wenn die Stimmung und Tonart entsprechend nuanciert werden, so daß eine Empfindung der Mühe, die das Leben bereithält, durchgemacht wird. In dieser Lebensschwere findet er sich gespiegelt und bestätigt, aber jede Bestätigung macht sicher und löst die Verkrampfung. Er kann also einen Schritt aus sich heraus tun.

Das Variieren im Ansprechen der vier Gruppen scheint nur in der Theorie schwer zu sein. Im Leben des Unterrichts ergibt sich die rechte methodische Anwendung, wenn man sie einmal von innen her verstanden hat, bald von selbst aus dem Gefühl heraus.

Unter den pädagogischen Anweisungen, die Rudolf Steiner in seinen Seminarkursen für Lehrer erteilt hat, waren mir diejenigen eine fortwährende Belehrung, welche vom Lehrer eine innere Zucht und eine hohe Wachheit fordern, weil er die Erziehung des Temperamentes durch eine Art konträren eige­nen Seelenverhaltens fördern soll. Es wird von Rudolf Steiner in jenem Seminarvortrag (21. August 1919) das Folgende aus­geführt:

„Ein phlegmatisches Kind ist teilnahmslos. Und es ist inner­lich nicht viel beschäftigt. Nun versuchen Sie als Lehrer, recht viel Anteilnahme für ein solches Kind in Ihrem Innern aufzubringen, zu erwecken, sich zu interessieren für jede Lebensregung des Kindes. Es gibt immer Gelegenheit. Das phlegmatische Kind kann, wenn man den Zugang findet zu seiner Teilnahmslosigkeit, sehr interessant werden. Aber äußern Sie dieses Interesse nicht, versuchen Sie teilnahmslos zu scheinen. Versuchen Sie selbst, Ihr Wesen zu spalten, haben Sie innerlich viel Teilnahme, äußerlich geben Sie sich so, daß es aus Ihnen das Spiegelbild seines eigenen Wesens zu sehen bekommt. Dann werden Sie erzieherisch einwirken können.

Beim cholerischen Kind dagegen versuchen Sie innerlich teilnahmslos zu werden, mit kaltem Blute zuzuschauen, wenn es tobt. Versuchen Sie, wenn es das Tintenf aß zur Erde schmeißt, so phlegmatisch, so gelassen wie möglich äußerlich zu sein. Auch innerlich durch gar nichts ergriffen zu sein. Und versuchen Sie, im Gegenteil dazu äußerlich möglichst viel von diesen Dingen mit dem Kinde in Teilnahme zu besprechen, aber nicht unmittelbar nachher. Zeigen Sie sich möglichst ruhig äußerlich und sagen Sie mit der möglichsten Ruhe: Du hast nun das Tintenfaß zerschmissen! Am anderen Tage besprechen Sie, wenn das Kind selbst ruhig ist, teil­nahmsvoll die Sache mit ihm. Sprechen Sie darüber, was es getan hat, zeigen Sie die größte Teilnahme. Zwingen Sie so das Kind, hinterher die ganze Sache in seinem Gedächtnis zu wiederholen, durchzunehmen. Verurteilen Sie auch ruhig die Vorgänge, wie es das Tintenfaß auf den Boden geworfen, zerschlagen hat. Man kann auf diese Weise mit tobenden Kindern außerordentlich viel erreichen. Auf andere Weise bringt man sie nicht dazu, das Toben zu bekämpfen ...“

Diese Worte genügen, um den Lehrer nachhaltig auf sein Verhalten den Schülern gegenüber hinzulenken und dieses soviel als möglich in sein Bewußtsein zu nehmen. Als sich mir im Laufe der Jahre eine immer geschicktere Handhabung bei der Anwendung dieser Ratschläge ergab, war ich jedesmal von neuem beeindruckt, wie stark und unmittelbar diese Methode auf die Schüler wirkt. Und zwar nicht nur beim einzelnen, sondern auch auf ganze Klassen.

In lebhafter Erinnerung steht eine Szene vor meiner Seele, wo ein kleiner zehnjähriger jähzorniger Delinquent von der Klasse beschuldigt worden war, daß er vermutlich derjenige sei, welcher seinen Kameraden heimlich etwas aus dem Schulran- zen nehme und für sich behalte. Ich mußte der Sache nachgehen und nahm ihn nach der Pause unauffällig in ein leeres Zimmer und fragte ihn danach aus. Ein entrüstetes, ja empörtes Wehren gegen einen so furchtbaren Verdacht war die spontane Reaktion. Ich fragte ihn, was er in seinen Taschen habe? Ein harmloses Auspacken der einen und der anderen Jackentasche wirkte überzeugend, und nur zögernd, unsicher geworden, fragte ich ihn nach dem Inhalt seiner Hosentaschen. Da sei auch nichts drin, war seine Antwort. Dann solle er die Taschen ausleeren, verlangte ich von ihm. Er weigerte sich, ich bestand aber darauf, und indem er nun überaus langsam ein Objekt nach dem andern herausklaubte, wurde unleugbar evident, daß das die gesuchten Gegenstände waren. Ich schaute ihn an und sagte nur: „Und?“ Als Antwort bekam ich, aus heiterem Himmel sozusagen, einen furchtbaren Fußtritt gegen mein Schienbein, daß mir Hören und Sehen verging, dem ein schreiendes Anbrüllen folgte, daß das alles nicht wahr sei, und er habe niemandem etwas genommen. Darauf trat und schlug er wie wild um sich herum in einem, ganz verzweifelten Toben, so daß überhaupt nichts mit ihm anzufangen war. Ich ließ ihn allein und ging in das Klassenzimmer zurück, um weiterzuarbeiten. Am anderen Tag, nachdem ich ihn völlig ignoriert hatte, nahm ich ihn um dieselbe Zeit in dasselbe Zimmer und besprach jede Einzelheit des Vorfalles mit ihm: „... und dann hast du deinem Lehrer einen Tritt gegeben, Du!“ Da fing er erbärmlich an zu weinen, ein völlig zusammengebrochenes Büblein stand vor mir: „Er habe das ja gar nicht tun wollen und nie, nie mehr werde er so etwas tun ...“ Durch Wochen hindurch war er ein anderes Wesen, voll von heiligem Eifer und Streben und wie nie zuvor ansprechbar.

Ein anderes Bild. Wir Lehrer merkten, daß die ganze Schülerschar außer Rand und Band gekommen war. Ein wildes Toben herrschte auf dem Pausenhof, statt der lustigen Spiele, wie sie sonst üblich gewesen waren. Unhöflichkeit, derbes, fast brutales gegenseitiges Benehmen gehörte dazu. Die Ermahnungen der Lehrer machten kaum Eindruck. Als von einem unserer schönen Bäume im Übermut ein prächtiger Ast einfach runtergerissen worden war, war genug „Heu unten“. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, die ganze Schülerschar am deren Tag im großen Saal zusammenzurufen. Erwartungsvoll saß die unruhige Jugend vor mir, als ich sie anzusprechen begann. Ich hatte mir vorgenommen, nicht zu moralisieren, aber ganz energisch das Verhalten zu zeichnen. Ich ließ den ganzen Pausenbetrieb entstehen, schilderte anschaulich die Beobachtungen am Spiel und Betragen der Schüler und schloß damit: „Und nun frage ich Euch, tut man das? Benimmt man sich so? Kann man so weitermachen?“ Ich blickte in ganz betroffene Gesichter, ein beklommenes Schweigen herrschte, und überall war ein Zu-sich-Kommen und Schämen.

Am anderen Tag eine ausgewechselte Jugend! Wie wenn ein fremder Geist sich verzogen und Kinder zurückgelassen hätte, wie sie nach Wesen und Erziehung eben sein sollen und auch sein wollen. [...]

Lehrerbildung – Selbsterziehung

[...] Obgleich jedermann erlebt und weiß, daß der Mensch „denkt“, „fühlt“ und „will“, schreckt man doch davor zurück, das Denken, Fühlen und Wollen als übersinnliche Fähigkeiten des Menschen konsequent anzuerkennen.

Die Konsequenz der „Waldorfpädagogik“, ganz konkret von Leib, Seele und Geist zu sprechen und im Unterricht nicht nur damit zu rechnen, sondern den Lehrplan geradezu auf diese menschliche Trichotomie hin einzurichten und den ganzen Unterricht darauf aufzubauen, war das beängstigend Unge­wohnte. [...]

Für den Seminaristen sind solche menschenkundliche Betrachtungen exemplarisch, denn sie bringen ihn in einen so engen, lebendigen Kontakt mit den Vorgängen der Mensch­werdung, daß er aus dieser Schilderung eigene pädagogische Anschauungen entwickeln kann. Seine pädagogische Phantasie wird in Regsamkeit versetzt. Mit diesen Ausführungen möge genügend auf die Absichten hingewiesen sein, die eine Lehrerausbildung, wenn sie so stark die künstlerischen Betätigungen in den Mittelpunkt stellt, verfolgt.

Es ist einem jungen Seminaristen, besonders wenn er noch in den Anfängen der Zwanzigerjahre steht, verhältnismäßig leicht möglich, durch diese Übungen sich selbst in seinem Charakter, in seinen Fähigkeiten zu verändern und von dem bisherigen Kopfwissen zum realen, seelischen Erleben überzugehen. Man wird ein anderer Mensch, tiefer, ernster, ruhiger. Ein solcher Bildungsweg bleibt nicht auf die kurze Seminarzeit beschränkt. Als tätiger Lehrer schreitet man darauf weiter. Man wird nie fertig, man bleibt ein Lernender.

Wenn man sich die Frage vorlegt, wodurch man eigentlich ein Lehrer sei, kann unter den mancherlei Antworten auch die folgende einer inneren Beachtung wert sein: dadurch, daß man auf die rechte Art durch das Wort zu wirken vermag.

Alles was der Lehrer an seine Schüler heranträgt, bedarf des Wortes. „Das Wort“ in seiner höchsten Qualität weckt die Seele, richtet sie auf, gibt ihr Kraft, zündet ein Licht an, weist den Weg. Ein solches Wort besitzt Substanz. Darauf kommt es an, ob der Lehrer versteht. aus solcher Substanz heraus zu sprechen. Man wird den Seminaristen diesen Hinweis geben, daß ein innerlich geführtes Leben den Worten Substanz gibt. Man wird den Begriff des „esoterischen Lebens“ entwickeln müssen.

Mit diesem Begriff fügen wir der Lehrerausbildung wiederum eine Qualität bei, die in früheren Epochen der Menschheits­entwicklung für eine solche Aufgabe, wie die der Erziehung und des Unterrichtes, eine Selbstverständlichkeit gewesen war, die aber mit dem Heraufkommen des intellektuellen Aufklä­rungsbewußtseins ausgemerzt worden ist. Es ist die Arbeit des Lehrers an seiner Seele. Mit dieser Arbeit wendet er sich nicht der Außenwelt, dem Exoterischen zu, sondern ist ganz und gar auf die Schulung seiner Innenwelt, des Esoterischen, konzen­triert.

Über sich selber Herr werden, unabhängig von den Einflüs­sen der Außenwelt zu sein, als ein freier Geist vor den Schülern zu stehen, das ist die esoterische Aufgabe. „In dem Moment, wo der Lehrer die Schwelle zum Schulzimmer überschreitet, hat er den Alltagsmenschen vor der Türe draußen zu lassen“ ist das Bild, mit dem Rudolf Steiner ausdrückt, was mit dem Begriff des Esoterischen gemeint ist. Denn wenn der Alltags­mensch draußen bleiben soll – welcher Mensch soll dann ins Klassenzimmer hereingenommen werden? Wohl ein neuer, ein zweiter, der „verborgene“ Mensch im Menschen. Den bringen wir nicht zur Geltung mit den Mitteln der Sinneswelt, ihn gilt es zu trainieren mit jenen Mitteln, die die Geistesschulung seit jeher gekannt und zur Verfügung gestellt hat. Rudolf Steiner hat dem Lehrer eine große Zahl von Meditationen gegeben, in die er sich versenken kann, wobei er diejenige für sich auswäh­len mag, die seiner Situation am meisten dient. Aber eine ist und bleibt unveränderlich als Grundstein da: die Meditation, die er jeden Abend vor seiner Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag durchzunehmen hat.

Die Erfahrung spricht es deutlich aus, daß der Unterricht in seiner inneren Kraft steht oder fällt mit der Durchführung dieser eigenen Seelenpflege des Lehrers. Die Entscheidung darüber, ob er seinen Schülern Steine statt Brot gibt, ob das Wort des Lehrers nur den Intellekt anspricht oder geistig weckende Substanz besitzt, fällt in diesen stillen Stunden der Meditation. Wer getragen wird von der Kraft der inneren Ruhe, wer vom Licht spiritueller Gedanken durchzogen wird, wer von der Sicherheit der geistigen Führung erfüllt ist, alles als Ergeb­nis der esoterischen Vorbereitung, dem leuchtet es ein, daß das Lehrerseminar von diesen Dingen nur sprechen, daß allein die Lehrerpraxis die Erfüllung geben kann. Der Lehrer betritt durch eigenen Entschluß den jahrzehntelangen Pfad der inneren Wandlung. Er macht sich zum Jünger des pädagogischen Geistes. [...]

„Frühförderung“ oder Seelenstärkung

Betrachten wir in diesem Sinne die Tendenz, im Kindergar­ten bereits mit dem Lesenlernen zu beginnen. Solche Bestre­bungen sind an und für sich nicht neu, da es seit Jahrzehnten Länder gibt, die dem Kindergarten die Aufgabe überbunden haben, den Kindern vom fünften Lebensjahre an schon das Lesen und andere Schul‑Anfängerkenntnisse beizubringen. [...]

Betrachten wir demgegenüber das Wesen des Kindes und seine ihm eigene Entwicklung. Das Urphänomen der Kindesnatur, das in hundertfältiger Weise in den ersten sieben Lebens­jahren zur Offenbarung kommt, ist die Nachahmung und die Phantasie. In diesen beiden Grundkräften des Menschenkindes drängt sich alles wie in einem Seelenkeim zusammen, was später als Begabung, Talent, Kraft, Energie usw. zur Entwick­lung kommt. Jede seelische Fähigkeit besitzt notwendige Pha­sen ihrer Ausbildung, die eingehalten und gepflegt werden müssen, wenn eine echte Reifung daraus hervorgehen soll. Es ist in der Natur draußen genugsam zu beobachten, wie es das Geheimnis des Lebens selber ist, das sich in den Reifungsrhythmen ausspricht. Man kann auch nicht durch Zwangsmaßnah­men unmittelbar aus der Raupe einen Schmetterling machen. Der Zustand der Puppe, welche sich die Raupe spinnt, ist der nach innen gewendete Verwandlungsprozeß, aus dem nach gebührender Zeit sich der Schmetterling erhebt.

Das Kind hat sehr viel verfeinert, aber eben auf seelischer Ebene, solche Metamorphosenvorgänge in sich, die sich Schritt für Schritt vollziehen müssen und an deren Ende im Laufe vieler Jahre dann der erwachsene Mensch steht. In dieser Ausbildungsgesetzmäßigkeit ist alles Lernen einzuordnen, so wie es hier öfter beschrieben worden ist. Das Verweilen des Kindes im immerwährenden Nachahmen, das ganz aus seiner Natur entspringt, und dann das Umsetzen oder Verwandeln dieser Nachahmungen in Spiel und phantasievolle Tätigkeit, läßt in der Seele Kräfte erwachen, die eine schöpferische Qualität haben. Sie sind im Grunde naiv künstlerisch und durchziehen und durchströmen das kleine Kind. Dabei wandelt sich immer das ganze Kind mit. Nichts bleibt stationär. Es ist sein Wesen, noch alles im Fluß zu haben. Je länger ihm also eine noch nicht nach Wissen und Intellektualität geformte und ausgerichtete Sinngebung erspart wird, desto länger bleiben die künstlerisch schaffende Phantasie und die Spielkräfte lebendig. Demgegenüber ist das Lesenlernen das abstrakteste Element beim ersten Schulen des Intellektes. Im Intellekt haben wir nicht den Keim oder Anfangszustand einer Fähigkeit, wie das in der Phantasie der Fall ist, sondern deren Ende. Die Entwick­lungsreihe könnte so aufgestellt werden: Nachahmung – Spiel und Phantasie – Bildervorstellung – abstrakte Intellektualität. Durch das Lesenlernen wird der Phantasiebetätigung bereits ein Todeselement beigemischt und ein frühzeitiges Lähmen des Lebensstromes hervorgerufen. Aus dem kindlichen, naiven, träumerischen, phantasievollen Lebewesen wird ein nach außen waches und verständiges Kind, das schnell begreift und eine Akzeleration des Intellektes durchmacht. Diese Akzelera­tion verkürzt die lebensnotwendige Phase des Spielkindes und viel zu früh setzt sich der Habitus des kleinen Erwachsenen durch. Ein Erfolg! Phantasiekräfte sind aber dem Leben selber verwandt, das Wissen jedoch dem Absterben. Wir rauben dem Kinde durch diesen „Erfolg“ Lebenskräfte, die ihm später als reifem Erwachsenen bitter fehlen, wenn das Leben von ihm Willen, Aktivität, Vitalität und Energie verlangt. Das zu frühe intellektuelle Lernen muß Jahrzehnte später durch Mangel an Lebensenergie teuer bezahlt werden. Die kurzatmige „Psycho­logie“, die das Lesen im Kindergarten empfiehlt und propa­giert, weiß nichts von den Zusammenhängen der Entwick­lungsepochen des Menschen.

Je länger ein Kind mit einem Schullernen, das sich nur an den Kopf wendet, verschont wird, desto fähiger und gesünder wird es als Erwachsener seine Aufgaben erfüllen können; je früher das Appellieren an den Kopf beginnt, desto müder, passiver und geistig uninteressierter wird der spätere Erwachsene. Die zu früh verbrauchten Kräfte machen sich in Depressionszustän­den oder in Lebensunlust geltend. [...]

Im Menschendasein ist ausschlaggebend, ob der Erwachsene starke Seelenkräfte zur Verfügung hat, besonders dann, wenn das Leben mit schweren Anforderungen und Prüfungen an ihn herantritt. Dann nützt es ihm gar nichts, daß er einst mit drei Jahren lesen gelernt hat, sondern daß er als Kind Lebensfreude im Kindergartenspiel aufgenommen, die wie ein lebendiges Kapital ihre Verwandlung in Selbstvertrauen durchgemacht hat und als solche wie ein Quell innerer Sicherheit zur Verfügung steht. [...]