Vom Wesen der Waldorfpädagogik
Brauchen Kinder eine andere Erziehung? – oder: welche Selbsterziehung braucht der Pädagoge?
Zur Erziehungskunst 11/2013: Originell oder auffällig – Brauchen Kinder eine andere Erziehung?
Die neue „Erziehungskunst“ ist ein tiefes Plädoyer für eine von Liebe durchdrungene Erziehungskunst – und für die fortwährende Selbsterziehung der Erziehenden. In ihr wird etwas vom Ideal der Waldorfpädagogik erlebbar. Darum möchte ich hier ausführlich auf dieses Heft eingehen.
Und doch wird auch in diesem Heft in allen Beiträgen der entscheidende Schritt zu dem eigentlichen Quell, aus dem die Waldorfpädagogik hervorging und der sie erst voll lebendig machen würde, verschwiegen, offenbar nicht einmal gesehen. Ich werde auf dieses Entscheidende am Ende zu sprechen kommen.
Henning Köhler: Verhaltensoriginelle Kinder – Wegbereiter einer lebbaren Welt
Eingeleitet wird das Heft von Henning Köhler, der sich seit Jahrzehnten für einen wirklich in Liebe und Verständnis lebenden Blick auf die Kinder einsetzt.
Köhler macht auf das grundsätzliche Problem aufmerksam, dass jede „Verhaltensauffälligkeit“ oftmals unmittelbar negativ beurteilt wird, ohne sich zu fragen, ob sich darin nicht etwas tief Berechtigtes, Sinnhaftes ausdrückt – und auch das Kind seinen Weg bewusst gewählt hat:
Und so würde das neugeborene Kind, so es denn könnte, zu uns sprechen: Ich will meinem Stern folgen, auch wenn es ein steiniger Weg sein wird und alle Welt mir zu verstehen gibt, es sei der falsche …
Wird einem Kind jedoch ständig zu verstehen gegeben, es sei so, wie es ist, unannehmbar, wird es innerhalb kürzester Zeit zermürbt (selbst Erwachsene würden dies nicht aushalten!) – und nun erst recht „auffällig“:
Irgendwann ist aus dem besonderen Kind ein unglückliches, frustriertes, unmotiviertes, tief enttäuschtes Kind mit paranoidem Abwehr- oder Vermeidungsverhalten geworden.
Und lange Jahre und später die Pubertät stehen dann erst noch bevor! Köhler weist darauf hin, dass hier im Grunde reich begabte und hoch motivierte Kinder so unter Druck geraten und so verkannt werden, dass sie gar nicht anders können, als sich „schräg“ zu verhalten.
Köhler weist auch auf das hin, was wir immer wieder übersehen: unsere hoch kinder- und menschenfeindliche „normale“ Welt: Hektik, Lärm, Mediendominanz, die phantasietötende Alltagswelt mit fast völlig fehlender Erfahrung der Natur, die heilsame Sinneserfahrungen und ganz ursprünglich-religiöse Gefühle vermitteln würde. Und inmitten dieser buchstäblich ver-rückten Welt herrscht zugleich ein „nachgerade neurotisches Normalitäts- und Funktionalitätsdenken“ und setzt die Kinder einem unglaublichen Anpassungszwang aus.
Unsere Kultur wendet sich gegen die Lebens- und Seelenbedürfnisse von Kindern – und damit gegen sich selbst. [...] Wie, wenn sie gekommen wären, um uns wachzurütteln? – Viele von denen, die als anpassungsgestört gelten, sind, bei Licht betrachtet, hundertmal „gesünder“ als der angepasste Normalbürger, der schon gar nicht mehr weiß, was ihm fehlt, um sich als ganzer Mensch zu fühlen; der seine Sehnsucht zum Schweigen gebracht, den inneren Tänzer in Ketten gelegt, das Staunen verlernt, das Spielen vergessen, kurz: den „Sozialisation“ genannten Selbstverleugnungs- und Abstumpfungsprozess erfolgreich vollzogen hat.
Durch das Leitbild des „reibungslos funktionierenden Menschen“ wird „normal“ (= der angepassten Mehrheit entsprechend) mit „gesund“ gleichgesetzt und alles „Unnormale“ sofort mit einem „therapeutischen“ Aktionismus beantwortet und pathologisiert.
Und dann entfaltet Köhler eine wirkliche Menschenkunde, von der man spürt, dass hier Imaginationen mitleben, ohne die die Wirklichkeit gar nicht erfasst werden kann:
Ich begegne als Erziehungsberater und Therapeut von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer häufiger den scheuen, schüchternen, lauschend zurückgeneigten, stets etwas traurigen Dämmerungskindern, wie z.B. Eduard Mörike eines war. Sie scheinen wirklich aus einer anderen Welt zu kommen und scheuen offenbar davor zurück, sich auf diese hier vorbehaltlos einzulassen. Man kann von Poetenseelen oder Märchenlandfahrern sprechen – wegen des unerhörten Bilderreichtums, der in ihnen schlummert. Sie sind auf ihre Art sehr klug, lernen aber nur, wenn man an ihre spezifische Klugheit appelliert und ihr Tempo kennt. Gemächlichkeit, Geduld, Besonnenheit ist ihr Lebenselement. Sie lieben die Stille. –
Zu ihnen gesellen sich oft freundschaftlich die Erdkinder: meist Buben mit einem liebenswert koboldhaften Zug, etwas finster, reichlich bockig, Experten für alles Handgreifliche und Praktische, geborene Mechaniker. Sie lieben Geschichten von Erfindern, weil sie selbst Erfinderseelen sind, allerdings mit einer Gemüts- und Interessenlage, die eher ins siebzehnte oder achtzehnte Jahrhundert passen würde. Viele von ihnen sind sehr naturverbunden und haben einen ausgeprägten Sinn für Substanzqualitäten. [...] Wenn ich diese Kinder vor mir habe, tauchen verschiedene Bilder auf: Kräutersammler, Alchimist, Schnitzer, Goldschmied.
Hüter der Wirklichkeit kann man sie nennen. Ihr Problem: Sie lernen entweder mit Praxisbezug, mit allen Sinnen oder gar nicht. Viele von ihnen gelten als Schulversager, Teilleistungsgestörte, Minderbegabte. Ihre Stärken, falls man sie überhaupt sieht, zählen nicht viel heutzutage. Sie lieben klare, einfache Worte.
Jeder Pädagoge kennt den zarthäutigen, feinwahrnehmenden, seelenvollen, überaus fürsorglichen und mitleidigen Typ der Fühlkinder, oft Mädchen (oder mädchenhaft wirkende Buben). Sie sind sehr ängstlich, dadurch auch manchmal tyrannisch in den Äußerungen ihres Bedürfnisses nach Geborgenheit. Auf mich wirken manche von ihnen so, als seien sie bis in die Jugendjahre hinein erschrocken, überhaupt auf der Welt zu sein. Nennen wir diese Kinder Tröster- oder Pflegerseelen, weil damit ihre größte Stärke umschrieben ist. Frappierend früh fühlen sie sich für Mitmenschen verantwortlich und nehmen manchmal, ihrer Angstgestimmtheit zum Trotz, erstaunliche Risiken auf sich, um jemandem beizustehen, zum Beispiel einem in Not geratenen Tier.
[...] Trösterseelen brauchen das Erlebnis der zwischenmenschlichen Sinnhaftigkeit des Lernens, um wirklich interessiert bei der Sache zu sein. Anderenfalls langweilen sie sich nur, trotz ihres Fleißes. Es gibt für diese Kinder keine bessere „Motivationsverstärkung“, als etwas für jemanden zu tun. Lernen, um später anderen helfen zu können – das überzeugt sie. Wenn es in der Schule gelingt, Wissen und Fähigkeiten im Kontext „Pflege, Fürsorge, Heilen und Schenken“ zu vermitteln, hat man Fühlkinder gewonnen. –
Schließlich die ungeduldig vorwärtsdrängenden, erlebnishungrigen, „hyperaktiven“ Sturmkinder oder auch Sucherseelen. Ihnen muss man, um sie für das Lernen zu begeistern, immer etwas Neues, Aufregendes, Herausforderndes bieten. Sie wollen sich bewegen, mitreden, diskutieren, mitentscheiden, in kühnen Plänen schwelgen, Abenteuer erleben. Und ganz nah dran sein an dem, was die heutige Zeit bietet. [...] Gleichwohl ist ihnen die Natur ein Labsal. Dort werden sie ruhig. Ihr Freiheitsdurst setzt uns in Erstaunen, ihre Zügellosigkeit wirft große pädagogische Probleme auf. Andererseits gibt es kaum hilfsbereitere, kreativere, originellere Kinder als diese, von denen es manchmal heißt, sie pubertierten kindheitslang. [...]
Zweifellos gab es die beschriebenen Wesensveranlagungen schon immer. Aber noch nie waren sie bei so vielen Kindern so radikal, ich möchte fast sagen: unbeugsam ausgeprägt.
Köhler beschließt seinen Aufsatz damit, dass noch wichtiger als das Erkennen solcher seelischer Wesenstypen das tiefe, unverstellte Interesse an der Individualität selbst ist. Erst hier eröffne sich ein neues Wahrnehmungsorgan für die Schönheit des anderen Menschen, die Ehrfurcht vor dem Du, von dem Martin Buber spricht.
Andere Kinder – anderer Unterricht?
Auch das Gespräch mit den langjährigen Klassenlehrerinnen Birgitt Beckers und Christiane Krauch zeigt, wie viel Erfahrung es bei Pädagogen gibt, die aber durch das heute dominierende Schulsystem und die ganze Kultur schlicht missachtet wird.
Hier wird deutlich, dass noch vor zehn Jahren viele Familien einen Elternteil hatten, der zuhause für die Kinder da sein konnte – während die Kinder heute nicht einmal mehr krank sein dürfen, sondern krank in die Schule kommen. Die Phasen, in denen die Kinder konzentriert arbeiten können, werden immer kürzer. Sie sind willig, lieb und lernbereit – aber sie kommen immer früher an ihre Grenzen. Lernen in Gemeinschaft, Ansprache der ganzen Klasse ist nicht mehr ohne weiteres möglich, viele Kinder brauchen individuelle Zuwendung und Erlebniszusammenhänge.
Das schon früh aus der Umgebung aufgenommene intellektuelle Wissen verhindert, dass die Kinder auch im Empfinden, Fühlen und Erleben leben können. Wenn ein Lehrer seelisch lebendig das Wirken der Sonne schildert und ein Junge kommentiert: „Photosynthese“, so ist ein solches Kind durch die ihm von irgendwoher aufgedrängten Begriffe von allen tieferen Ebenen des Erlebens abgeschnitten. Dies geht mit einer tiefen, unbewussten Enttäuschung und Gefühlsarmut einher.
Auch die Ebene des Willens wird in gewisser Weise immer schwerer erreicht. Viele Kinder wagen es nicht, ins Tun zu kommen, weil es „nicht so schön wird“, wie sie es sich vorgestellt haben oder bei sich oder der Lehrerin sehen. Hilfreich ist es hier zum Beispiel, das Tafelbild und die Bilder der Kinder gemeinsam, zeitgleich entstehen zu lassen.
Wie stark neben allen negativen Wirkungen der Umwelt auch die Individualität eine Rolle spielt, zeigen folgende Worte von Frau Beckers:
Ich kenne Kinder in meiner Klasse, die aus zerrütteten Verhältnissen kommen, die Pflegekinder sind: Da kann man sich nur wundern, was das für kräftige, lebendige Kinder sind. Welche Individualitäten müssen das sein, die sich da durchkämpfen? Andere wären da schon längst zerbrochen.
Und zwei weitere Aussagen von ihr und Frau Krauch machen deutlich, wie sehr sich heute neue Fähigkeiten entwickeln (wollen):
Bemerkenswert ist auch, wie die Kinder, aber auch die Jugendlichen untereinander eine neue Art von Liebesfähigkeit leben, auch gegenüber ihren Lehrern. Es ist zwar heute von Mobbing die Rede, aber das ist nur die Schattenseite dieser Fähigkeit. Ich erlebe immer wieder, wie neue Klassenkameraden äußerst liebevoll aufgenommen werden, von Ausgrenzung keine Spur.
Normalerweise erlebt man im Rubikon, spätestens in der Pubertät, dass die Geschlechter sich voneinander distanzieren. Jetzt erlebe ich hingegen, wie dieser liebevolle Umgang untereinander anhält, keine Grobheit bei den Jungs, respektvoller Umgang miteinander. Es ist ein nahezu brüderlich-schwesterliches Verhältnis. [...] Sie gehen auch mit den Schwächen des Lehrers insgesamt sehr verständnisvoll und humorvoll um. Andererseits muss man den Respekt vor dem anderen den Kleinen erst beibringen, sie kommen oft distanzlos in die Schule. Sie unterbrechen die Rede des anderen, sie stören im Unterricht und haben dabei keinerlei schlechtes Gewissen.
Neu ist, dass die Schüler ihren Lehrer deshalb lieben, weil er – und das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich – immer da ist. Diese Kontinuität schätzen und würdigen die Schüler sehr.
Neu ist auch: Die Schüler wollen nicht mehr als Gruppe angesprochen werden. Sie hören dann einfach nicht zu. [...] Wenn ich allerdings den Raum für eine eigene Arbeit öffne, zum Beispiel im Rechnen, dann werden die Kinder richtig aktiv, helfen sich gegenseitig und erfinden neue Aufgabenstellungen –, sodass dann auch die schwächeren Schüler nach der nächst schwereren Aufgabe greifen. Wenn die Schüler selbst bestimmen können, welchen Schwierigkeitsgrad, welches Pensum sie erarbeiten möchten, dann befeuert sie das. Dort, wo sie bestimmen können, was und wie sie lernen, sind sie zu Höchstleistungen bereit.
Das heißt nicht, sich aus seiner Verantwortung zu stehlen, wie Beckers betont:
Ich erlebe es als einen regelrechten Angriff auf unsere Kultur, wenn man dem Kind das, wonach es von seiner Entwicklung her verlangt, vorenthält. Sozusagen die Rolle eines Lerncoaches einzunehmen und nur noch aus dem Hintergrund zu agieren, halte ich für eine pädagogische Katastrophe. [...]
Es ist nicht eine Erfindung der Waldorfpädagogen, dass das Kind zu ihnen als liebevollen Autoritäten aufblicken soll, sondern es ist ein unmittelbares Bedürfnis der Kinder. [...] Worauf es aber jetzt ankommt, ist, als Lehrer nicht nur zu einer Klasse als Ganzes zu sprechen, sondern auch das einzelne Kind wahrzunehmen. Das geht nur, wenn ich mich selbst fortwährend hinterfrage.
Guido Peuckert: Back to the Roots
Peuckert beginnt seinen Aufsatz mit der Feststellung, dass ihm schon vor fünfzehn Jahren ein erfahrener Klassenlehrer erzählte, dass jeder Durchgang schwerer werde: die Nachahmungskräfte wie auch die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit würden immer geringer, die frühere Intellektualisierung wirkt sich immer stärker aus.
Diese Aussagen decken sich mit meinen Erfahrungen. Am stärksten fallen mir diese Veränderungen im Verhalten und Wesen der Kinder im Spielturnen auf, da ich dort jedes Jahr neue Erstklässler beobachten kann. Die Zahl der Kinder, die ausgesprochen oder unausgesprochen die Frage stellen: „Was bringt mir das eigentlich, in den Kreis zu kommen?“ ist deutlich gestiegen. Meiner Wahrnehmung nach sind die Anforderungen an uns Lehrer größer geworden. Und sie steigen weiter.
Auch Peuckert betont nun aber, dass ein essentieller, ganz zentraler Punkt noch immer die „geliebte Autorität“ ist. Es geht nicht nur um ein einigermaßen leicht fallendes „Laborieren an der Methodik, Didaktik und an den äußeren Bedingungen“, sondern unmittelbar um die Persönlichkeit des Lehrers. Peuckert weist auf das Wahrbild, die reale Idee des Lehrers hin. Indem man sich mit dieser Idee verbindet, entwickle sich das „Lehrerorgan“ und erzieht den Pädagogen.
Die Schüler nehmen es wahr, wenn sich die Lehrerschaft in „den geistigen Strom“ stellt. Der Lehrer betritt den Raum, es wird still, die Schüler sind erwartungsvoll und werden hoffentlich nicht enttäuscht. Steiner beschreibt diese sichere Haltung im vierten Vortrag des Methodisch-Didaktischen Kurses. Hier wird von ihm die berühmte erste Schulstunde geschildert [...]
Der Erwachsene besitzt das Vermögen, den Dingen ihre Namen zu geben: „Dies ist eine gerade Linie und das andere ist eine krumme Linie“. Die Souveränität, die diese Geste ausstrahlt, kann natürlich nicht nur aus dem Ego kommen, sie fußt auf einer Gewissheit, die in der geistigen Welt wurzelt. In dieser Haltung liegt etwas sehr Beruhigendes für die Kinder. Meines Erachtens darf man sich trotz aller Rücksicht auf die Individualität von der Kraft dieser Geste nicht abbringen lassen.
Die Kinder in den ersten Schuljahren bekommen klare, liebevolle Vorgaben und müssen nicht entscheiden, zum Beispiel welches Gelb sie nehmen, oder auf welche Seite sie schreiben. Sie sollen erleben, dass es sich wirklich lohnt, mitzumachen, sich zu melden, in den Kreis zu kommen, dem Lehrer, den Mitschülern zuzuhören und die Gemeinschaft zu genießen. Es wird tatsächlich immer schwerer, alle Kinder zu diesem Genuss zu bringen, aber das Ideal kann doch ein Leitstern sein. Der Lehrer soll aus dem jeweils höheren Wesensglied heraus erziehen, welches das Kind mit seinem nächsten Entwicklungsschritt erst erreichen wird. Dieses ist im Lehrer bereits individualisiert und die Kinder erkennen es in der authentischen Ich-Begegnung.
Peuckert ruft dazu auf, die Elemente des Hauptunterrichts bewusst zu gestalten, denn es sei unmittelbar spürbar, wenn die Kinder selbst einen Methodenwechsel fordern. Man muss auf Stimmungen, auf Jahreszeiten, Wochentage usw. wirklich eingehen können:
Wann ist die Stimmung für den Morgenspruch, damit er kein „Grabesgesang“ wird? Werden Unterrichtsinhalte nur behandelt, weil man sie eben behandeln muss, können sie nicht „lebensvoll“ sein. Das nenne ich etwas ketzerisch „Waldorfmanierismus“. Dazu gehören auch Tafelbilder, an die Kinder nicht mehr anschließen können. Die heutigen Kinder sind sehr empfindsam, wenn sie nicht mitgenommen werden, und reagieren mit Passivität oder offener Ablehnung. An diesen Punkten muss der Lehrer offen sein und sich von den Kindern erziehen lassen.
Christoph Meinecke / Kirsten Schreiber: Glaubt an mich!
In diesem Aufsatz geht es um „Waldorf-Drop-Outs“ durch falsch verstandene Erziehung – so der Untertitel. Es geht um den zwölfjährigen Miguel, der an eine Waldorfschule gewechselt ist. Er redet oft ungefragt, stört den Unterricht, löst oft Streitereien aus usw. Dennoch wird er von den Mitschülern größtenteils gemocht und hat bei seiner Klassenlehrerin ein „Stein im Brett“, er gehört zur ganzen Gemeinschaft dazu.
In den Fachunterrichten stößt er jedoch auf Ablehnung, immer mehr Lehrer sprechen sich gegen Miguels Verbleib an der Schule aus – und am Ende der Probezeit wird die Kündigung ausgesprochen. Einseitig wird also die Schicksalsgemeinschaft aufgekündigt – sogar gegen die Stimme der Klassenlehrerin. Die Schule hat entschieden, ein Ideal ist zerstört, Miguel und die Familie sind von der Schulgemeinschaft im Stich gelassen worden.
Ein Prozess der Problemverhärtung ist bereits in Gang gesetzt, wenn ein auffälliges Verhalten eines Einzelnen verantwortlich für das Problem anderer gemacht wird. [...] Hat Miguel das Problem oder haben es die Lehrer mit Miguel, der sie mit den eigenen individuellen Grenzen konfrontiert? Ist es ein Beziehungsproblem oder ein Verhaltensproblem? Bei allen Schwierigkeiten: die Klassenlehrerin schafft es, die Verbindung zu Miguel zu halten und zwischen Person und Verhalten zu differenzieren.
Die beiden Autoren weisen darauf hin, dass viele Kinder unter anderem Unterstützung in der Selbstwahrnehmung und im Körperempfinden brauchen. Kinder sollten sich täglich mindestens eine Stunde stark körperlich anstrengen. Untersuchungen zeigten, dass dann die schulischen Leistungen deutlich besser sind und wesentlich weniger Gewalt unter den Schülern auftritt. Auch Zirkus-Projekte zum Beispiel wirken zutiefst heilsam und fruchtbar.
Kinder rufen uns zu einer ernsthaften spirituellen Lebensführung auf.
Eine wertschätzende, treue, verlässliche, interessierte und respektvolle Beziehung ist für Miguel, wie für alle Kinder, von besonders großer Bedeutung. Dies können wir immer wieder dadurch ausdrücken, dass wir konsequent Verhalten und Person in unserer Bewertung von einander trennen. [...] Aber die Beziehung wird gemäß dem Motto: „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten“ nie in Frage gestellt.
Liebevolle, sichere Bindung ist das wirksamste Therapeutikum für kindliche und jugendliche Verhaltensabweichungen überhaupt. Ausschluss oder Schulverweise bewirken genau das Gegenteil.
Sven Saar: Du darfst erst raus, wenn du fertig bist!
Sven Saar wendet sich einmal mehr dem ewigen Thema „Hausaufgaben“ zu. Es ist bekannt, dass Rudolf Steiner sie eindeutig abgelehnt hat. Saar schildert nun einleitend einen fiktiven Dialog zwischen Mutter und Kind, der zeigt, wie oft Kinder und Eltern zuhause durch Hausaufgaben frustriert werden und in Streit geraten.
Seit Jahrzehnten zeigen Studien, dass Hausaufgaben keinen bildungsrelevanten Nutzen haben. Zudem haben Waldorfschüler auch ohne Hausaufgaben genug zu tun. Was in der Schule nicht geschafft wurde, sollte durchaus zuhause fertiggestellt werden, Korrekturen des Lehrers müssen verbessert werden. Vieles muss auch zuhause geübt werden: Das Einmaleins, das Lesen, das Stricken, die Flöte, das Orchesterinstrument. Dazu kommt die Mitverantwortung der Kinder in der Familie, im Haushalt usw. – ihr Alltag ist also auch ohne Hausaufgaben schon ganz schön voll.
Und so endet Saar mit folgenden Erfahrungen aus seiner langjährigen Tätigkeit als Klassenlehrer:
Ich halte die Behauptung für anfechtbar, dass mit regelmäßigen Hausaufgaben ab der ersten oder zweiten Klasse gute Gewohnheiten angelegt werden. In meinen eigenen Klassen gab es freiwillige Aufgaben für die, denen das Spaß machte, und manchmal individuell verordnete Spezialaufgaben für einzelne Kinder. Ansonsten ging es nur darum, mit dem Epochenheft nicht in Verzug zu geraten. Oft hatte an meiner früheren zweizügigen Schule mein „Parallelkollege“ eine andere Vorstellung als ich.
Nach der achten Klasse wurden dann die beiden Klassen zusammengelegt und neu gemischt. Die Oberstufenkollegen konnten, was das Arbeitsverhalten, den Bildungsstand und am Ende den Prüfungserfolg betraf, keinerlei Unterschiede feststellen …
Man darf nicht die Schwingen der Kinder stutzen, die vom Üben begeistert und beflügelt werden. Sie sollten gefüttert und gefördert werden, solange sie ihr Pensum gut bewältigen können. Zur gleichen Zeit sollte aber der Unterricht zumindest in den ersten sechs Klassen so gestaltet sein, dass Kinder nicht noch daheim zuarbeiten müssen, um überhaupt mitzukommen. Zu groß ist das Risiko, dass man in den überforderten heranwachsenden Menschen die Arbeit zur Qual werden lässt. Das wäre das Gegenteil von dem, was Waldorfpädagogik beabsichtigt.
Rada Pakrowska: Feste oder Fakten?
In diesem Leserbrief reagiert die Autorin auf einen Artikel von Christoph Johannsen von der „Internationalen Assoziation Osteuropa“ (IAO), die die osteuropäische Waldorfbewegung unter anderem in der Lehrerbildung unterstützt. Johannsen hatte über eine Tagung mit 200 Teilnehmern an der Waldorfschule Riga geschrieben, die 20 Jahre nach Gründung der IAO auch auf „das Erreichte“ zurückblickte.
Es ist schon erstaunlich, dass der kritische Leserbrief von Rada Pakrowska es in die „Erziehungskunst“ schaffte – und dies ist wohl nur der Tatsache zu verdanken, dass die Autorin selbst Osteuropäerin ist. Ich selbst wurde für ähnlich kritische Hinweise sogar entlassen, nachdem ich zwölf Jahre lang für die internationale Waldorfbewegung gearbeitet hatte...
Hier will ich einfach den Leserbrief selbst folgen lassen, der ganz offen darauf hinweist, wie schwierig die Situation der Waldorfpädagogik in Osteuropa wirklich ist:
[...] Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich die Waldorfschule in Osteuropa anders entwickelt als in Mitteleuropa, obwohl sie auf den gleichen Prinzipien basiert. Was sind die Gründe für diesen Misserfolg? Hat doch Steiner in seinem Vortrag über „Das russische Volkstum“ die wichtige Rolle Osteuropas für die Zukunft Europas prophezeit.
Ich frage mich, was in Riga gefeiert werden sollte? Laut Herrn Johannsen sollte dies ein Fest der Begegnung gewesen sein. Aber welcher Art von Begegnung? Hat man dort neue Gesichter gesehen, die aus 15 verschiedenen Staaten gekommen waren? Wo und wann wurden in den letzten Jahren neue Initiativen gegründet? Wie viele neue Schulen sind in den letzten Jahren entstanden, wie viele sind in Planung?
Da der Großteil der Waldorfschulen in den 1990er Jahren gegründet wurde, wäre es interessant gewesen, zu erfahren, wie sich die Oberstufe in den Waldorfschulen in Mittel- und Ost-Europa entwickelt hat. Sind genug ausgebildete Oberstufenlehrer vorhanden? Welche Schritte unternimmt die IAO, um die Waldorfbewegung besonders in Osteuropa an das gesellschaftliche Leben dort anzupassen?
Ist man im Dialog mit den Behörden und den akademischen Kreisen? Warum stehen die Waldorfschulen bis jetzt im Schatten? Welche Erfahrungen hatten diese Länder mit solch schwerwiegenden Problemen wie Korruption und Abhängigkeit von der Regierung? Darf es überhaupt eine Waldorfschule mit Direktor geben? Die Frage der Freiheit ist in diesem Zusammenhang ein großes Thema.
20 Jahre sind Zeit genug, Verantwortung zu übernehmen. Nur Musizieren, Tafelzeichnen, Eurythmie, feiern und gemeinsam Volkstanz machen sind nicht genug. Es ist an der Zeit, nüchtern zurückzuschauen, die entscheidende Frage zu stellen und zu beantworten: Wie können die Waldorfschulen in Mittel- und Osteuropa weiterentwickelt werden, ohne die landeseigene Kultur zu verlieren? Wie kann sich die Waldorfpädagogik weiterentwickeln, ohne die Grundlage der Waldorfpädagogik zu verlieren? Es geht nicht darum, ein Fest zu feiern, sondern über die Krise in der Entwicklung der Waldorfbewegung in Europa zu berichten. [...]
Vom Scheitern eines Kultur-Impulses
Der Leserbrief von Rada Pakrowska macht ein grundsätzliches Problem der Waldorfbewegung – und auch der anthroposophischen Zusammenhänge insgesamt – deutlich: eine furchtbare Doppelmoral. Worin liegt diese? Sie liegt darin, dass überall nur auf „das Positive“ und „das Erreichte“ geschaut werden darf – und dass der Blick auf das Negative, das Nicht-Erreichte, das die Waldorfpädagogik Verfehlende nicht sein darf, gnadenlos ausgeschaltet und bekämpft wird.
In internen Veranstaltungen geben selbst führende Vertreter der Waldorfbewegung heute zu, dass die Eltern teilweise mehr mit der Waldorfpädagogik verbunden sind als viele Lehrer; dass sie auch viel länger mit ihrer Schule verbunden bleiben als viele Lehrer; dass man an vielen Oberstufen Lehrer mit Waldorf-Ausbildung vergeblich sucht – von einer wirklichen Waldorf-Gesinnung im Sinne der wahren „Idee des Lehrers“ und einer wahren Erkenntnis des Kindeswesens ganz zu schweigen.
Es gibt viele Schulen, an denen Fragen der Eltern nach der Waldorfpädagogik brüsk oder subtil zurückgewiesen werden, an denen solchen Fragen ausgewichen wird, an denen sie mit Allgemeinplätzen „verwässert“ werden und anderes mehr – und zwar nicht, um die „pädagogische Autonomie des Kollegiums“ gegenüber Eltern zu sichern, die „keine Ahnung“ haben, sondern um die eigenen Mängel und die fehlende Substanz zu verschleiern!
Nicht nur „auffällige“ Schüler fordern zu einer wahrhaftigen Selbsterkenntnis und Selbsterziehung auf, sondern auch „auffällig werdende“ Eltern!
Diese „Auffälligkeiten“ bedeuten nichts anderes als die Notwendigkeit, mit immer stärkerer Wahrhaftigkeit auf das zu schauen, was wirklich notwendig wäre; darauf zu schauen, wie weit man mit der Geist-Erkenntnis eigentlich ernst macht – oder eben nicht! Auffällige Schüler weisen immer wieder auf die eigene Ohnmacht hin, auf Fähigkeiten, die man selbst noch nicht entwickelt hat, die aber notwendig wären, um diesen Kindern heilsam begegnen zu können. Auffällige Eltern, die nach der Waldorfpädagogik fragen, weisen ebenfalls auf die Ohnmacht einer Schule, eines Kollegiums hin, auf Fähigkeiten, die noch nicht entwickelt sind, die aber notwendig wären, um den Kindern gerecht zu werden und von einer Waldorfschule sprechen zu können.
In Osteuropa sind die WaldorflehrerInnen oft hoch engagierte Menschen. Die Waldorfschulen dort bekommen oft keinerlei staatliche Unterstützung, alles muss selbst getragen und bewältigt werden. Viele der LehrerInnen suchen die spirituellen Hintergründe der Waldorfpädagogik und sicher tun Viele von ihnen auch viel, um gerade diese Grundlagen der Waldorfpädagogik in sich lebendig zu machen – sobald sie wirklich verstanden haben, dass dies die Essenz dieser Pädagogik ist. Doch die staatlichen Stellen wollen davon nichts wissen, und so führt die Waldorfpädagogik in Osteuropa (und nicht nur dort) ein absolutes Nischendasein und wird immer wieder gezwungen, sich ganz an alle staatlichen Anforderungen anzupassen.
Dass dies eine absolute Katastrophe für den Waldorf-Impuls ist, kann nicht oft genug betont werden, denn er sollte ursprünglich – und noch immer – ein Kultur-Impuls sein!
Dieser Kultur-Impuls zeigt sich auch nicht darin, dass es in Deutschland über 200 Waldorfschulen gibt und schon „viele Elemente“ der Waldorfpädagogik in das staatliche Schulsystem aufgenommen werden. Wenn man sich auf diese Tatsachen auch nur das Geringste einbildet, hat der eigentliche Impuls alle Kraft verloren – denn dieser eigentliche Impuls besteht nicht in „Elementen“ oder in irgendeiner Anzahl von Schulen, sondern in der spirituellen Substanz. Er besteht in einer spirituellen Weltanschauung und Menschenkunde und er besteht in der Frage, wie weit die Pädagogen diese spirituelle Substanz in sich selbst lebendig machen können. Er besteht in der Frage, wie dieser geistig-spirituelle Hintergrund wahrer Pädagogik in die Kultur und das allgemeine Geistesleben aufgenommen werden kann.
Wenn man so die Frage in ihrer wahrhaftigen Gestalt stellt, muss man sagen: Bis heute ist der Waldorf-Impuls als Kultur-Impuls gescheitert.
Und heute scheitert er bereits nicht mehr nur an den Mauern der heutigen, noch immer ganz auf Geist-Verneinung und Geist-Abwehr gerichteten Kultur, sondern er scheitert bereits innerhalb der Waldorfschulen. Denn auch innerhalb der Waldorfbewegung sind die Menschen, die rückhaltlos und mit tiefem Ernst die geistigen Hintergründe der Waldorfpädagogik und des Kindeswesens suchen, inzwischen in der absoluten Minderheit. Auch sie sind heute in vielen Waldorfschulen die „Auffälligen“, die „Störenfriede“ geworden – und am liebsten würde man auch sie loswerden und ausstoßen, wie diejenigen Schüler, denen man kündigt, weil nur noch die „auffälligen Lehrer“ mit ihnen zurechtkommen!
Die Frage der spirituellen Quelle
Ein Heft der „Erziehungskunst“, das eine Handvoll berührender Aufsätze in sich vereinigt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Aufsätze von einer Handvoll von Menschen stammen, die mit ihrer Erfahrung, ihrem Engagement und ihrer Blickrichtung zu den „leuchtenden Speerspitzen“ einer Bewegung gehören, innerhalb der sich die Geistesblindheit und der Unwille, das reale Geistige zu suchen, immer mehr ausbreitet. Sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch hier seit Jahren und Jahrzehnten vielfach dieselben Menschen sind, die etwas von Substanz hochhalten und das Erscheinungsbild der „Erziehungskunst“ prägen. Die Realität ist eine andere!
Bei der Frage nach dem inneren Schulungsweg des Lehrers, der heute kaum noch gesucht wird, gibt es aber noch einen weiteren, ganz entscheidenden Punkt:
Schon die innere Entwicklung des Lehrers, damit dieser fähig wird, den Kindern wirklich so zu begegnen, wie es die Aufsätze dieses „Erziehungskunst“-Heftes oftmals so berührend andeuten, ist eine umfassende, tiefgreifende. Die Aufsätze sprechen von einem großen Verständnis der AutorInnen, von besonderen pädagogischen Fähigkeiten, von einem großen Liebeswillen und einem Streben nach einer wirklichen Erziehungskunst.
Aber selbst wenn man dies alles zusammennimmt, ist eine Frage noch nicht beantwortet:
Wie gewinnt man bewusst Zugänge zum Geistigen? Wie kommt man zu einem wirklichen Geist-Erkennen und Geist-Erleben, das über ein Bemühen um empathisches Verstehen des einzelnen Kindes hinausgeht? Mit anderen Worten: Wie wird spirituelle Erkenntnis zu einem bewusst betretenen und zielgerichtet gegangenen Weg, der das eigentliche Organ der Geist-Erkenntnis vollkommen bewusst entwickelt? Erst diese Bewusstheit würde das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen vollständig von innen heraus verwandeln, zu einem anderen werden lassen.
Worauf ich hinweisen möchte, ist dasjenige, was Rudolf Steiner das „reine Denken“ nennt – und was in seiner tieferen Bedeutung weit mehr ist als nur ein „sinnlichkeitsfreies Denken“. Die Übung eines solchen ist nur die Brücke zu dem, was das reine Denken in tieferem Sinne ist, nämlich eine wirkliche Auferstehung des Denkens und damit eine wirkliche Auferstehung eines höheren, zweiten Menschen in uns.
Dieser Weg ist es, auf den Mieke Mosmuller in ihren Büchern und Seminaren immer wieder hinweist – in Bezug auf die Pädagogik insbesondere in „Eine Klasse voller Engel“ und „Ein Kind ist eine sichtbar gewordene Liebe“.
Erst durch dieses reine Denken wird der Mensch ein bewusster Bürger zweier Welten, wird das Geistige für ihn wahrhaftig so real wie die sinnliche Welt. Voll bewusst und voll wirksam kann die Brücke zu den Quellen der Erziehungskunst nur auf diesem Wege geschlagen werden.
Ein Verständnis dessen, was Rudolf Steiner eigentlich mit dem „reinen Denken“ meinte; ein Erkennen, dass es die Quelle und die Essenz der ganzen Anthroposophie ist; ein Üben, um sich diesem reinen Denken anzunähern und es schließlich real in sich lebendig zu machen – sie sind die Schritte, die auch die Waldorfpädagogik erst von Grund auf wahr machen würden. Denn Menschen, die das reine Denken verwirklichen würden, würden die spirituelle Menschenkunde aus eigener Anschauung kennenlernen – nicht nur als aufgenommenes spirituelles Wissen, nicht nur in einem mehr fühlenden und halb-bewusst-gewussten Erkennen, sondern in voll bewusster, realer geistiger Anschauung.
Es braucht nicht betont zu werden, dass damit auch alles soziale Zusammenleben einen vollkommen anderen Charakter gewinnen würde; dass die Menschen, die das reine Denken verwirklichen, in der Lage sein werden, wirkliche soziale Gemeinschaften zu bilden, von denen man sich heute allenfalls eine blasse Vorstellung machen kann.
Erst, wenn das Denken nicht nur andere (spirituellere) Inhalte aufnimmt, sondern wenn es selbst etwas durch und durch Anderes wird als zuvor, wenn es innerlich eine Auferstehung erfährt, die nicht weitgehend genug gedacht werden kann, wird die Essenz der Anthroposophie wahrgemacht, denn sie gewinnt im Menschen selbst reales, übersinnliches, voll bewusstes Leben.
Waldorfpädagogik im eigentlichsten Sinne wird nur wahr, wenn die Anthroposophie ernst, michaelisch ernst, genommen wird. Wenn sie nicht bloß ein fruchtbares spirituelles Wissen wird, sondern innere Tat, real spirituelle Verwandlung der eigenen Seelenkräfte; Erkraftung und Läuterung des Denkens, das als ein vom Willen erweckt werdendes Organ erlebend in das Reich des Geistes eindringt.
„Es ist wirklich das Hereinziehen des vorirdischen Daseins in das Leben des Menschen, was dadurch bewirkt werden kann, und so ist es die Vorbereitung zu dem Berufe des Lehrers, des Unterrichters, des Erziehers.“
(Rudolf Steiner, 13.10.1922, GA 217).