20.05.2010

Von der heiligen Aufgabe der Selbsterziehung der Erziehenden

Gedanken zu dem wesentlichen Geheimnis der Waldorfpädagogik. 


Am Ende eines seiner vielen Vorträge, in denen Rudolf Steiner darüber gesprochen hat, wie Erziehung zur Kunst werden müsse, sagte er mit großem Ernst:

"Wenn man in eine Schule hineingeht, die im Sinne dieser Erziehungskunst geführt wird, wenn man betrachtet die ganze Gesinnung des Lehrerkollegiums, von der doch ausstrahlt alles dasjenige, was in jeder Klasse, mit jedem einzelnen Kinde geschieht, dann muß es so sein, als ob über der Türe, wo sich die Lehrer für ihre intimsten Beratungen versammeln, ständen die immerdar mahnenden Worte: 'Alle Erziehungskunst soll sein für Euch die Erstehung der Forderung Eurer eigenen Selbsterziehung. Eure Selbsterziehung, Ihr Lehrer, ist der Keim alles desjenigen, was Ihr als Erzieher der Kinder wirken könnt. Ja, Ihr werdet nichts anderes wirken für die Kinder, als was aus Eurer Selbsterziehung hervorgeht.' – Das muß aber nicht nur stehen wie ein Mahnwort von außen, sondern das muß tief eingeschrieben sein in das Herz, in die Seele, in das Gemüt jedes einzelnen Lehrenden und Erziehenden."


Ja, Ihr werdet nichts anderes wirken für die Kinder, als was aus Eurer Selbsterziehung hervorgeht...!

Das sind ungeheuer deutliche Worte, die auf eine Realität verweisen. Die Frage ist nur, ob man erkennen und empfinden kann, was hiermit gesagt ist. Nichts kann gewirkt werden, wirksam werden, was nicht aus der Selbsterziehung hervorgeht... Nichts für die Kinder.

Man kann natürlich alles Mögliche wirken, was nicht für, sondern gegen die Kinder ist. Man kann ihnen Wissen eintrichtern, man kann sie durch körperliche Prügel oder seelische Macht gefügig machen, sich so zu verhalten, wie man es haben will. Man kann auch vieles andere tun, was diese oder jene Wirkungen hat, die man für sehr wichtig und sogar für im Sinne der Kinder hält. Aber man kann in Wirklichkeit für die Kinder nichts wirken, als das, was aus der eigenen Selbsterziehung hervorgeht.

Was ist der Mensch?

Was wollen die Kinder eigentlich? Wir müssen uns klar machen, dass es keine Kinder sind – in dem absoluten, abstrakten Sinne, in dem wir es immer wieder wahrnehmen , sondern Individualitäten, die im Laufe eines langen Prozesses ihr Wesen zur Erscheinung bringen wollen. Und das bedeutet: Sie wollen wahrhaft Mensch werden. Und sie wollen in wahrhaft individueller, in ihrer ureigensten Weise Mensch werden.

Erich Fromm hat einmal geschrieben:

"Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind."

Damit hat er auf seine Art verstanden und ausgedrückt, worum es geht.

Die Menschwerdung ist etwas, was man sich nicht großartig genug vorstellen kann. Von Leo Tolstoi rührt ein weiteres wunderbares Zitat:

"Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast, verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung. Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rührt, dass es keinen Gott gibt. Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast, so rührt das daher, dass an deinem Glauben etwas verkehrt war, und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst..."


Man kann in diesem Zitat an die Stelle von "Gott" zunächst getrost "Mensch" setzen. Derjenige denkt von Gott gar nicht groß genug, der nicht vom Menschen so hoch und tief wie nur möglich denken kann...

Im Grunde war und ist die ganze Anthroposophie Rudolf Steiners ein lebenslanges Bemühen, die unfassliche Größe des Geheimnisses des Menschen in immer wieder neuer Weise anzuschauen und Rudolf Steiner hat wirklich geistig geschaut. Man muss das nicht glauben man kann selbst verschiedene Wege gehen, um diesem Geheimnis näher zu kommen. Man kann zum Beispiel einmal intensiv über Sätze wie die von Erich Fromm oder Leo Tolstoi nachdenken, nachsinnen, meditieren... Dabei wird man allmählich doch ein klein wenig von diesem Geheimnis empfinden. Oder man kann an die größten und brennendsten Ideale denken, die man je gehabt hatte oder vielleicht noch hat. Und man wird wieder etwas von dem Geheimnis ahnen.

Und vielleicht wird man sich dann irgendwann mit der Anthroposophie beschäftigen und wird entdecken, dass es sich hier nirgendwo um einen Glaubensinhalt handelt, sondern um etwas, was einem den Blick immer mehr weitet. Und die Realität dessen, was man da aufnimmt, erweist sich daran, dass man dessen Realität in sich immer mehr erlebt. Man wird ein anderer Mensch dadurch. Natürlich nicht, wenn man in irgendeiner Dogmatik steckenbleibt, in der Abstraktion, im toten Wissen und so weiter... Jedoch dann, wenn man es sich wirklich zueigen machen kann, immer mehr. Dann verwandelt die Anthroposophie die menschliche Seele in genau der gleichen Weise, wie die höchsten Ideale es in so wunderbarer Weise tun. Darin ist nichts Mysteriöses und doch liegt darin das Geheimnis, das Mysterium der Menschwerdung.

Ideale und die Heiligkeit des Strebens

Der Idealismus ist sozusagen ein Stern, der uns den Weg zur Menschwerdung weist. In den Jugendlichen leuchten die Ideale zum ersten Mal hell auf, da leuchtet wirklich etwas vom Wesen des Menschen herein... In diesem Sinne müssten wir uns die jugendlichen Menschen und ihre Ideale eigentlich fortwährend als Vorbild nehmen! Später verblasst das dann fast immer wieder. Warum? Weil es in der äußeren Welt keine Erwiderung findet. Weil es wieder verschüttet wird, begraben, erstickt. Aber dann auch, weil es in dieser Zeit zunächst eine Art Vorverkündung ist und der erwachsene junge (oder auch ältere) Mensch sich die Ideale ganz bewusst und ganz aus eigener Kraft wieder neu erringen muss. Dann sind sie ganz sein eigen...

Ideale allein aber machen einen noch nicht zum vollkommenen Menschen. Jeder Mensch hat ja zunächst nur bestimmte Ideale. Es ist aber möglich, sich immer anderes auch zum Ideal werden zu lassen, sich immer andere Ideale ebenfalls zueigen zu machen. Das höchste Ideal ist vielleicht die Vollkommenheit selbst. Seine Höhe zeigt es nicht nur dadurch, dass es alles andere umfasst, sondern auch dadurch, dass es heute so wenig ernst genommen wird. Man will heute ja gar nicht mehr nach Vollkommenheit streben das ist ja viel zu anstrengend... Und dann hat man in seinem Bewusstsein auch schnell die passenden Ausflüchte: Vollkommenheit ist doch überhaupt nicht menschlich, ja unmöglich. „Irren ist menschlich“, Fehler sind menschlich...

Das ist alles richtig. Aber es kommt auch gar nicht darauf an, Vollkommenheit zu erreichen das ist in der Tat unmöglich, solange man kein göttliches Wesen geworden ist , sondern danach zu streben. Das Streben ist dasjenige, was den Menschen wahrhaft zum Menschen macht. Kein Ideal kann auf Erden vollkommen erreicht werden. Ideale sind nicht "von dieser (irdischen) Welt", sondern haben ihre Heimat in einer anderen Welt aber in einer Welt, in der der Mensch ebenfalls seine wahre Heimat hat... Der Mensch ist eben ein "Bürger zweier Welten". Wenn er aber diese andere Welt vergisst, dann hört er immer mehr auf, Mensch zu sein. Mensch nämlich ist man nie, sondern man kann es immer nur werden ganz im Sinne von Erich Fromm.

Damit kommt man zu einem anderen Begriff der Vollkommenheit. Man kann zu dem Begriff einer modernen ... Heiligkeit kommen. Spürt man denn nicht, wie das Streben nach Vollkommenheit heilig ist? Es gibt heilige Liebe, heiliges Streben, sogar heiligen Zorn... Spürt man nicht, wie man hier wirklich das Menschliche berührt? Darin liegt nichts, überhaupt nichts Altmodisches. Es ist ein mutvolles, voll bewusstes Streben nach einer wirklich "modernen Heiligkeit". Das Heilige liegt auch schon in dem Streben selbst in dem Mut und der Kraft und dem Willen, mit dem sich das Streben entfaltet... Der Mensch selbst ist heilig  und das Streben ist das wahrhaft Menschliche. Um so tiefer das Streben, um so heller beginnt das heilige Wesen des Menschen (er)scheinen zu können...

Was gibt es nicht alles für Ideale? Gerechtigkeit, Gütigkeit, Friedfertigkeit, Mut, Wahrheitsliebe, Mitempfinden... Man kann eigentlich beginnen, wo man will. Und tatsächlich ist der eigene Wille die einzige Möglichkeit zu beginnen. Ohne einen Willen wird man mit gar nichts beginnen. Deshalb ist vielleicht der Wille sogar immer das Erste, dem man begegnet, wenn man die Frage der Selbsterziehung kennenlernt. Und man begegnet dem eigenen Willen dann oft zuerst in Form seines Fehlens in Form des Unwillens, der Schwäche, der Willensschwäche. Wenn man etwas tief in seinem Inneren aber doch will, dann bemerkt man auf einmal, dass ja tatsächlich "zwei Seelen in meiner Brust schlagen". Und das kommt eben daher, dass man als Mensch tatsächlich in zwei Welten lebt in der Welt des Irdischen, in der die Widerstände zuhause sind, und in  oder aus der Welt des Himmlischen, wo die Ideale, das wahre Menschenwesen und der höhere Wille zuhause sind...

Auf die Wirklichkeit aufmerksam werden...

Indem man auf solche Wirklichkeiten aufmerksam wird, wird man erst immer mehr auf die Wirklichkeit dessen aufmerksam, was es heißt, Mensch zu werden. Man fängt überhaupt erst an, dafür aufmerksam zu werden. Und man soll nicht glauben, nach kurzer Zeit schon sehr weit zu sein. Bescheidenheit ist auch ein Ideal Bescheidenheit in der wahrhaftigen Selbsterkenntnis und Mut und Stärke im Willen, der zur Selbsterziehung führt... Aber in der Regel wird man ohnehin, wenn man diesen Weg betritt, seine eigenen Schwächen immer deutlicher zu sehen beginnen, und dies führt einen, wenn man nicht sehr an seinen Illusionen haftet, von vornherein auch auf den Weg der Bescheidenheit, sogar der Demut... Dann ist in der Regel gar nicht die Bescheidenheit das Problem, sondern die fehlende Kraft, der mangelnde Wille, immer weiterzustreben.

Aber auf diese Wirklichkeiten aufmerksam zu werden, davon hängt ungeheuer viel ab. Man erkennt, wie sich hier ein ganzes Reich eröffnet: das Reich des eigentlich Menschlichen. Man lebt zunächst eigentlich blind daran vorbei. Man hält sich für furchtbar gescheit und entwickelt und erwachsen und man hat nicht den Hauch einer Ahnung, an was man vorbeilebt: an der Geburt seines eigenen, höheren Menschenwesens...

Wenn wir aber nicht zumindest ansatzweise für all dies aufmerksam werden, wie wollen wir dann Kinder erziehen? Wie wollen wir dazu beitragen, dass die Menschen, die nach uns auf die Erde gekommen sind, als "unsere Kinder", dass sie das wahre Geheimnis des Menschen kennenlernen? Wie wenn wir es selbst nicht kennen?

Mensch werden das ist etwas viel Größeres als das, was wir alle uns jetzt vorstellen (können). Man muss gerade aus der Frage des Menschen ein allergrößtes Ideal machen, um allmählich ahnen zu können, was für eine ungeheure Realität diese Frage tatsächlich ist! So paradox ist die Wirklichkeit scheinbar. Ideale sind im Grunde Augen in eine göttliche Welt... Rudolf Steiner hat einmal gesagt, Liebe macht nicht blind, Liebe macht sehend! Erst indem man jemanden wirklich liebt, sei es ein Ideal, sei es ein anderer Mensch, beginnt man, sich seinem unfasslichen Geheimnis zu nähern. Wie großartig ist doch ein Ideal, wenn wir wirklich voller innerer Begeisterung nach ihm streben können! Aber der Mensch ... sein Geheimnis ist noch unendlich großartiger. Denn das höchste Geheimnis des Menschen umfasst alle Ideale... Um das zu erahnen, müssen wir selbst tiefe Ideale haben, sie innig lieben können und wir müssen das Geheimnis des Menschen lieben können, bevor wir es überhaupt erfasst haben...

So müssen und so können wir denken und nicht nur denken, sondern auch fühlen ... und schließlich auch wollen. Dann  dann und nicht vorher werden wir wahrhafte Erzieher für unsere Kinder. Denn dann werden sie sich wahrhaft selbst an uns erziehen können. Dann erkennen sie, wie in uns wahrhaft etwas von dem lebt, was das Wesen des Menschen ist und in ihnen selbst erwacht ein Wissen von dem wahren Geheimnis...

Unendlich ist der Weg, aber bevor er gegangen werden kann, muss er betreten werden, und bevor er betreten werden kann, muss er erkannt werden. Das ist unsere Aufgabe, wenn wir wirklich Erzieher werden wollen die Aufgabe der Selbsterkenntnis und der Selbsterziehung...