19.05.2010

"Im Grunde will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen..."

Gedanken im Anschluss an Rudolf Steiners "Pädagogischen Jugendkurs" (GA 217)


Im Pädagogischen Jugendkurs sagt Rudolf Steiner:

Was über Waldorfschul-Pädagogik gesprochen wird, muß man mit anderen Ohren anhören, als was man sonst über Erziehung hört, auch über Reform-Erziehung. [...] Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken. Denn heute handelt es sich um das Aufwecken. Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken. Es handelt sich tatsächlich um ein Aufwecken, nachdem die Menschheit abgekoppelt, abgeschnürt worden ist von dem fortlaufenden Strome der Weltentwickelung. Wie eine Hand einschläft, wenn sie abgeschnürt wird, so schlief die Menschheit seelisch-geistig ein. [...] Man steht durch den Intellekt in keiner objektiven Verbindung mehr mit der Welt. Der Intellekt ist das automatische Fortdenken, nachdem man von der Welt längst abgeschnürt ist.
4.10.1922, GA 217, S. 30f.

Von der Größe der Aufgabe

Die Waldorfpädagogik ist eine zutiefst spirituelle Pädagogik, deren höchstes Ziel es ist, das Wesen des Menschen jedes einzelnen, individuellen Menschen zur Erscheinung kommen zu lassen.

Man kann sagen: An dieser Aufgabe kann man nur scheitern. Positiv ausgedrückt kann man sagen: Man kann zu diesem wunderbaren Ziel immer nur beitragen, so viel man vermag... Aber um überhaupt sein Vermögen dazu immer mehr ausbilden zu können, muss etwas geschehen. Man muss nämlich auch sagen: So groß wie die Aufgabe ist, so groß muss das Bemühen, das Streben sein, ihr gerecht zu werden.

Wenn man Vollkommenheit erreichen will, kann man nur scheitern aber darum geht es: Man muss das Größte erreichen wollen ... nur dann erreicht man das Kleine, auf das alles ankommt... Und wonach der Erzieher vor allem streben muss, wenn er diese Aufgabe ernst nimmt, das ist seine eigene Selbsterziehung. Wenn man diese Aufgabe nicht ernst genug nimmt und ihre Unendlichkeit nicht sieht oder auch die Aufgabe selbst nicht einmal , dann weiß man auch noch überhaupt nicht, was die eigentliche Aufgabe der Erziehung ist. Dann denkt man immer noch, man müsste die Kinder erziehen und man selbst sei schon weitgehend "fertig".

Wahrhaft erziehen kann man aber nur immer mehr , wenn man immer mehr erkennt, wie unfertig man selbst noch ist. Wie furchtbar, beschämend unfertig... Man muss die Scham über die eigenen Schwächen schon zulassen, sonst wird man sie zeitlebens nicht entdecken können!

Wenn man sich aber entschließt, das Geheimnis des Menschen des absolut Unfertigen ernst zu nehmen, dann eröffnet sich zugleich eine großartige Aufgabe. Das Beschämende wird immer in der Waage gehalten durch das Glück, nach einer Überwindung der eigenen Unvollkommenheiten streben zu können. Deprimierend ist ja nur der Gedanke, man könnte seine Schwächen nicht verwandeln! Das Schlimme ist nur, dass man sie meist nicht einmal anzuschauen wagt...

Wovon spricht Rudolf Steiner? Davon dass die Menschen seelisch-geistig schlafen. Was heißt es also, dass die Waldorfpädagogik "aufwecken" will? Was soll und will aufgeweckt werden? Das Wesen des Menschen, seine Seele, sein Geist. Aber was ist überhaupt allein schon die Seele?

Im ersten Vortrag des Jugendkurses spricht Rudolf Steiner vom Wesen der Phrase, der Konvention und der Routine. Damit sind genau die Erstarrungen bezeichnet, die alles Leben der Seele ersterben lassen... Erstaunt kann man bemerken, wie viel man allein schon aus der erlebenden Betrachtung dieser drei Begriffe lernen kann, sich bewusst machen kann. "Lernen" ist hier in keinem Augenblick etwas Abstraktes, sondern etwas, was einen für bestimmte Realitäten bewusst werden lässt was einen aufweckt für seelische Wirklichkeiten.

Und genau das ist der Weg, den wahre Pädagogik gehen muss: Der Erzieher muss selbst aufwachen für die Realitäten, in denen das Menschenwesen lebt. Dann wird er als ganzer Mensch immer mehr so leben, dass die Kinder an seinem ganzen Sein und Tun auf ihrem langen Weg nach und nach ebenfalls erwachen. Und zugleich wird der Erzieher nach und nach immer mehr für das wahre Wesen der Kinder erwachen, auch für das wahrhaft kindliche Wesen...

Der Tod der Seele: Die Phrase...

Was ist eine Phrase? Sie ist ein totes Ungetüm, das jedem wirklichen Denken das Leben nehmen will. Wo die Phrase herrscht, da soll nicht gedacht werden. Und umgekehrt gilt: Dort, wo nicht gedacht wird, kann man, wenn man überhaupt etwas sagen will, nur zur Phrase Zuflucht nehmen... Im Grunde beginnt die Phrase immer schon dort zu leben (besser muss man sagen: ihr totes Wesen, nein Unwesen) zu entfalten, wo wir nicht wirklich nachdenken, was wir sagen. Ja, wo wir uns nicht bis in jedes Wort hinein bewusst sind, was wir sagen. Fast den ganzen Tag sprechen wir doch weitgehend automatisch auch wenn wir selbstverständlich denken, dass wir natürlich in jedem Augenblick denken.

Man muss überhaupt erst einmal lernen, darauf aufmerksam zu werden, wie die Gedanken eigentlich von selbst kommen wie man eigentlich gar nicht weiß, wie das geht, und wie man gar nicht viel dafür tut. So entstehen dann auch alle möglichen Assoziationen. So entsteht auch viel von dem Phänomen, dass man dem Anderen eigentlich gar nicht zuhört, sondern immer gleich sagt, was einem selbst einfällt und was man selbst sagen "will". Dabei sind die Gedanken vielleicht immer dieselben und man ist gar nicht mehr in der Lage, etwas anderes zu denken... Nun, hier kommen wir aber schon in einen anderen Bereich hinein den des Gewohnheitslebens im Denken, das man zunächst nicht zu verlassen vermag. Die Phrase aber ist dasjenige, was selbst in diesem Gewohnheitsleben ganz und gar tot ist, phrasenhaft, ohne jede Durchdringung mit eigener Seele. Die Seele ist aus der Phrase eigentlich vollkommen herausgepresst. Es ist sozusagen ein seelisches Vakuum.

Es ist eigentlich furchtbar tragisch, wenn man erlebt, wie so ungeheuer viele Menschen so ungeheuer stark in diesem Vakuum leben! Am meisten kann es einem vielleicht an Politikern auffallen. Und gerade im Kontrast ist es dann ungeheuer erschütternd zu erleben, wenn dann ein Mensch wie Sarah Wagenknecht (siehe in diesem Heft) nicht in der Phrase lebt. Es ist, als müsste sich ein einzelner Mensch dann in einem riesigen, saugenden, abtötenden Vakuum behaupten als müsste er gegen das Nichts ansprechen, das ihm sowieso nicht zuhören wird. Die Herrschaft der Phrase...

Aber man muss lernen, die Phrase auch in sich selbst zu entdecken! Man muss lernen, zu bemerken, wo man phrasenhaft spricht, wo man eigentlich nicht wirklich oder auch überhaupt nicht dabei ist. Und man muss lernen, immer wirklicher anwesend dabei zu sein.

...die Konvention

Was ist Konvention? Es ist auch gut, wenn man zunächst bemerkt, dass man vielleicht erst einmal Schwierigkeiten hat, die Konvention von der Phrase zu unterscheiden. Was man zunächst nicht kann und nicht weiß, das erweckt die Aufmerksamkeit! Man ist innerlich ganz präsent und sucht und tastet nach dem, was man in seinem Wesen noch nicht erfassen kann... Und das ist doch wiederum genau dieselbe Aktivität, die man auch entfaltet, wenn man die Phrase überwindet und in das gesprochene Wort "hineinsteigt"! Wenn man begreifen will, was der Unterschied zwischen Phrase und Konvention ist, dann muss man in das Denken hineinsteigen.

Die Konvention hat zu tun mit dem Umgang miteinander. Die Konvention legt fest, wie ich mich zu verhalten habe  sie ertötet also das freie Sich-Verhalten von Mensch zu Mensch. Was dabei aber stirbt, ist nun nicht das Denken, sondern das Fühlen. Wenn die Konvention bereits alles festlegt, dann brauche und kann ich nicht die wirklich menschliche Begegnung fühlen. Konventionen "entlasten" einen von diesem unangenehmen, persönlichen, verletzlichen Fühlen, das man braucht, wenn man dem anderen Menschen wirklich begegnen will... Aber ohne dieses Fühlen ist man nicht wirklich Mensch!

Die Phrase verhindert das eigene Denken, die Konvention unterbindet das eigene Fühlen man fühlt sich höchstens fremdbestimmt.

Es gibt natürlich auch Konventionen, auf die man sich einvernehmlich einigen kann zum Beispiel auf Pünktlichkeit. Aber auch hier macht es einen vollkommenen Unterschied, ob man sich bewusst auf etwas einigt oder nicht. Denn im einen Fall ist es eine tote Konvention im anderen Fall eine lebendige Vereinbarung, die eben aus einem lebendigen Fühlen entspringt! Gemeinsame Pünktlichkeit entspringt gerade gegenseitiger Achtung und damit echtem Fühlen!

Wenn man nicht pünktlich ist, kann dies drei Gründe haben: Entweder man wollte pünktlich sein, hat es aber nicht geschafft... Oder man nimmt die lebendige Begegnung mit dem anderen Menschen nicht wirklich ernst. Oder man empfindet die tote Konvention und will diese bewusst überschreiten. Niemand will sich von Konventionen bestimmen lassen. Aber man soll sich klarmachen, dass sie im Handumdrehen zu etwas anderem werden, wenn man sie wieder von innen belebt und ihre wahre Quelle erkennt das menschliche Fühlen, die Achtung vor und die Liebe zum anderen Menschen...

Dann gibt es noch etwas, was so ähnlich anmuten kann wie Vereinbarungen oder Konventionen, was aber wiederum etwas anderes ist. Es kann heutzutage eine Konvention sein, dass man heiraten muss oder man kann sich über diese Konvention bewusst hinwegsetzen. Aber in Wirklichkeit, im eigentlichen Sinne liegt hier gar keine Konvention vor man hat nur eine Konvention daraus gemacht. Ursprünglich, bevor auch die Kirche veräußerlichte, zu einer äußerlichen Institution und Macht wurde, war die Ehe wahrhaft ein Sakrament und das heißt, etwas, was über das bloß Irdische weit hinausgeht, was seinen ganz realen Segen aus der geistigen Welt empfing. Hier kommt also bei weitem nicht nur das menschliche Fühlen und Handeln in Betracht...

...und die Routine

Mit dem Handeln sind wir schon bei dem Übergang zur dritten Fähigkeit der menschlichen Seele. Sie kann nicht nur denken, nicht nur fühlen sie kann auch wollen, d.h. handeln. Rudolf Steiner benutzt die Bezeichnung "Wollen" oder "Wille" immer im Sinne von realer, wirksam werdender Tätigkeit im Unterschied zum bloßen Wünschen. Das Wünschen hat mehr mit dem Vorstellen und das heißt mit bildhaften Gedanken zu tun. Erst wenn ein Gedanke zur Tat wird, haben wir den realen Willen vor uns...

Und die Routine? Sie ist nun nichts anderes als eine Handlung, in der die Seele nicht gegenwärtig drinnen lebt. Es ist im wörtlichen Sinne eine seelenlose Handlung. Darum macht es die Routine möglich, ja sogar einfach, völlig unmenschliche Handlungen zu vollbringen. Wir alle kennen dafür genügend Beispiele, sowohl aus der Geschichte, als auch aus der Gegenwart. Routine sieht den Mitmenschen nicht wirklich als Menschen und manchmal überhaupt nicht. Die Konvention tötet nur das lebendige Fühlen es bleibt aber immerhin ein "Miteinander". Die Routine betrifft das Handeln ... und sie kann im Extremfall sogar über Leichen gehen. Natürlich kann dort, wo die Routine herrscht, auch das Fühlen nicht leben, auch das eigene Denken nicht. Und so kann man ahnen, wie im Willen eigentlich das tiefste Geheimnis des Menschen liegt.

Außerdem kann man bemerken, wie man an seinen Willen eigentlich am schwersten herankommt. In seinem Denken fühlt man sich wach und kann es immer mehr werden. Das Gefühl ist einem zumindest halb bewusst, sozusagen träumend. Der Wille, der wirklich real wirkende Wille, ist einem überhaupt nicht bewusst. Man weiß nicht, wie man zu laufen oder den Arm zu heben vermag es "geht" einfach. Und dann die eigenen Willensimpulse woher kommen sie?

Das Denken lebt eigentlich in der Welt der Wahrheit sollte es zumindest. Die Wahrheit gilt aber für alle Menschen (auch wenn es relative Wahrheiten oder persönliche "Wahrheiten" gibt). Im Fühlen wird der Mensch fortwährend wirklich individuell. Und im Wollen? Wenn der Mensch an seine ureigensten Willensimpulse herankommt, dann offenbart sich gerade da das ganz und gar individuelle, ja ewige Wesen des einzelnen, immer einzigartigen Menschen...

Darum ist es so furchtbar, wenn die Routine ihre Herrschaft entfaltet. Denn die Routine unterdrückt das eigene Wollen des Menschen. Der Mensch verlernt, mit seiner ganzen Seele in sein Wollen, sein Tun "hineinzusteigen". Und auch damit verlernt er wieder, menschlich zu sein...

Vom Wesen der Waldorfschule

In der Waldorfschule dürfte eigentlich nichts zur Routine werden, allein schon um der Übung willen nicht und wenn es den Mitmenschen, den Kollegen, das Kind betrifft, schon gar nicht! Schon in der Begrüßung nicht! Aber natürlich dürfte es auch keine bloße Konvention geben, keine Phrase... Überall dort ist das Menschliche nicht anwesend. Die Waldorfschule soll aber in buchstäblichem Sinne eine Schule der Menschlichkeit sein, eine Schule des Geheimnisses des Menschen...

Von hier aus fällt ein helles Licht zum Beispiel auf die Eurythmie. Das Wesen der Eurythmie ist es, zu spüren, was bei bestimmten Worten, Klängen, Gedanken geschieht in der eigenen Seele, im eigenen Leib... Dies will die Eurythmie sichtbar machen. Das bedeutet aber, jede einzelne Bewegung muss ganz von innen geführt sein, ganz bewusst, ganz im Erleben... Wenn das gelingt, dann ist man wiederum dem Geheimnis des Menschen nahe.

Aber nicht nur die Eurythmie alle Unterrichtsinhalte sind Wege, die den Menschen (auch den Erzieher!) immer mehr zu einer tiefen Selbsterkenntnis und zu einer tiefen Verbindung mit der Welt führen können. Nehmen wir als Beispiel einmal die Entdeckerfahrten, die in der 7. Klasse Thema sind. Der Lehrer lässt die Schüler erleben, wie damals im 15., 16. Jahrhundert die Menschheit erwachte, in die Welt hinausdrängte, alles entdecken wollte, jeden Winkel, jedes Geheimnis... Und das ist Unterrichtsinhalt genau in dieser Zeit wo die Schüler selbst diesen Schritt tun: die Pubertät, hinaus in die Welt, ein ganz neues Erleben bricht an, ein neues Zeitalter...!

Es gibt keine Inhalte um ihrer selbst willen. Immer geht es um das Band zwischen dem Menschen und der Welt oder um etwas, was tief innerlich in der Seele etwas anklingen lässt, was gerade in dieser Zeit ihrem Wesen entspricht und ihr hilft, sich selbst zu erkennen und die nächsten Schritte zu tun... Die ganze Waldorfpädagogik dient dem allmählichen Erscheinen, Sich-Offenbaren des wahren Menschenwesens. Wer aber wahrhaft Mensch wird, fühlt sich zugleich immer tiefer mit der Welt verbunden, immer tiefer... Der Mensch, der aus der geistigen Welt stammt, möchte den Himmel auf die Erde tragen, er möchte die Erde ebenfalls zu einer wahren Heimat des Menschen machen.

In tiefstem Sinne verstanden ist dies die "Neue Erde", von der die Johannes-Offenbarung spricht, die heute längst selbst ein unverstandenes Buch mit sieben Siegeln ist, weil sie die tiefsten Geheimnisse des Christentums birgt...