Selbsterkenntnis und Selbsterziehung
Über die Widersachermächte und das Ernstnehmen Michaels
veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Michaeli 2009. [Mehr zu Michael > hier]. | PDF
Michael ist der wahrhaftige, mutvolle Engel schlechthin. Nicht umsonst hat Rudolf Steiner ihn auch "das Antlitz Christi" genannt.
Michael tritt ein für das Gute – und kämpft gegen das Böse, gegen den Drachen, unerschütterlich, ohne Angst, wie machtvoll der Widersacher auch sein mag.
Unerschütterlicher Mut, absolute Wahrhaftigkeit – welch ein leuchtendes Ideal! Was in der Menschenwelt aber Ideale sind, das sind in der göttlichen Welt reale Wesenheiten...
Das Bild des Engels mit der Lanze, der den Drachen überwunden hat, ist eine großartige Imagination – man soll es nicht ins Reich der Mythen verweisen. Wir wissen, dass Gott keinen weißen Bart trägt, wir wissen, dass Michael keinen schmiedeeisernen Speer in der Hand hält – aber wir können auch wissen, dass dies Realbilder für viel höhere wirkliche Realitäten sind.
Eine Besinnung auf den Kampf Michaels gegen den Drachen kann uns die realen "Drachenkämpfe" immer tiefer bewusst machen. Und wenn wir dazu die Frage nehmen, die Michaels Name ist: "Wer ist wie Gott?", dann sind wir auch davor gefeit, zu glauben, "dass wir selbst immer schon auf der guten Seite stehen", denn wer wollte von sich sagen, er sei vollkommen...
Die Beschäftigung mit dem, was Rudolf Steiner auf verschiedenste Weise immer wieder als "Widersachermächte" geschildert hat, kann einen immer mehr erleben lassen, wo diese Kräfte überall wirksam sind. Es gibt eigentlich keinen einzigen Lebensbereich, in dem dies nicht der Fall wäre. Es geht eigentlich überall um den Kampf Michaels mit dem Drachen.
Warum eigentlich? Warum ist das Böse in der Welt? Weil der Mensch nur so Mensch werden kann. Mensch ist er, wo er sich frei für das Gute entscheidet – und auch dort, wo er irrt, wo er strebt, wo er seinen Irrtum erkennt, den Willen fasst, es künftig besser zu machen...
Das Geheimnis des Menschen liegt im Wesen von Freiheit und Liebe. Der Weg der Menschwerdung ist ohne Widerstände, Irrtümer und Versuchungen nicht möglich. Er kann aber nur gegangen werden, wenn man die Widersachermächte immer mehr kennen lernt. Dann begibt man sich bewusst in den Bereich des Kampfes Michaels mit dem Drachen.
Die Einseitigkeiten und das Gute
Wenn wir zunächst überhaupt nicht wissen, was mit "Widersacherkräften" überhaupt gemeint sein soll, wo diese denn zu finden sein sollten, so brauchen wir uns nur einen durch und durch guten Menschen vorstellen. Und sofort werden wir in vielen Dingen sehr genau wissen, wo und wann wir uns von einem solchen Menschen unterscheiden...
Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Vielleicht werden wir schnell ungeduldig, vielleicht nicht einmal in jeder Situation, aber z.B. wenn jemand etwas sagt und sich dies ganz und gar von unserer Meinung unterscheidet. Wir unterbrechen dann oder hören innerlich gar nicht zu – oder vielleicht hören wir doch zu, regen uns innerlich aber furchtbar auf. Jeder mag sich andere Situationen überlegen und kann jederzeit unzählige Beispiele finden, wo menschliche Schwächen walten, wo seine eigenen Schwächen liegen...
Man wird dann auch bald finden, dass Versuchungen, die uns vom wahrhaft Guten, wahrhaft Menschlichen abbringen wollen, immer in zwei Richtungen wirksam werden können. Man kann z.B. nie richtig zuhören – oder man hört immer nur zu, ohne je irgendeinen eigenen Standpunkt zu bilden. Oder man will alles in Regeln festhalten – bzw. schlägt jede Regel in den Wind. Es ist klar, dass die Extreme selten oder überhaupt nicht anzutreffen sein werden. Doch der Mensch hat ein sehr feines Empfinden für jede noch so kleine Abweichung von ... ja von was eigentlich?
Das Gute ist nichts, was man definieren könnte. In jeder Situation muss man es neu finden. Es ist die sehr empfindliche Mitte zwischen den Extremen. Diese "goldene Mitte" steht nicht ein für allemal fest, sie ist nicht einmal in zwei "gleichen" Situationen die gleiche. Ein geiziger Mensch muss die Freigiebigkeit lernen, ein Verschwender die Sparsamkeit. Ein schweigsamer Mensch kann lernen, mehr von sich zu offenbaren – ein redseliger kann mehr das Zuhören lernen...
Es geht nicht darum, dass alle Menschen sich gleich verhalten. Es gibt liebenswerte Einseitigkeiten, es gibt Stärken, die einen Charakter ausmachen und dennoch in gewisser Weise einseitig sind. Das kann man jederzeit bejahen – worauf es aber ankommt, ist, dass uns unsere Einseitigkeiten (vor allem die eigenen!) wirklich bewusst werden. Nur dann können wir mit ihnen frei umgehen und auch erkennen, wann sie zu einem Hindernis für das Gute werden.
Was sind weitere Einseitigkeiten? Der Mangel an Verantwortungsgefühl – oder auf der anderen Seite der Drang, überall hineinreden zu wollen. Eine Beliebigkeit, die sich schnell nicht mehr an einmal beschlossene Regeln hält – oder auf der anderen Seite ein Sich-Verstecken hinter Regeln, so dass man den individuellen Einzelfall nicht mehr berücksichtigen braucht.
Und dann gibt es Einseitigkeiten, die uns in unserer Zeit wohl fast allen eigen sind. Etwa ein Mangel an Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist eine "goldene Mitte", die nur sehr schwer zu erreichen ist, weil ihr derart große Hindernisse in den Weg gelegt werden; weil die heutige Zeit sozusagen geschlossen Widerstand leistet und die Unwahrhaftigkeit in all ihren Nuancen vorlebt. Das zweite Extrem ist daher wesentlich seltener zu finden, ja man muss erst einmal nachdenken, um es überhaupt zu erkennen: Es wäre die schonungslose Indiskretion, die Bloßstellung. Der Unwahrhaftigkeit geht es um den eigenen Vorteil, der Bloßstellung geht es um den Schaden des Anderen, der Wahrhaftigkeit geht es um die Wahrheit...
Das ist auch eine Art Kompass für das Gute: Die Frage, ob es bei einer bestimmten Handlung um mich geht, um meinen Nutzen – oder um das Wohl des Anderen (oder z.B. um die Wahrheit). Natürlich dürfen wir auch unser Wohl nicht vernachlässigen, aber die Frage nach dem Wohl überhaupt kann immer umfassender und selbstloser angeschaut werden. Wenn man das wahrhaft Gute liebt, ist das Wohl und Wehe des Anderen irgendwann von dem eigenen gar nicht mehr zu trennen...
Die größte Versuchung unserer Zeit
Aber auf dem Wege dahin steht uns noch die allergrößte Einseitigkeit entgegen – eine Einseitigkeit, die heute menschheitlich ist, der also fast die ganze Menschheit verfallen ist. Es ist die Faulheit und Bequemlichkeit, und zwar vor allem in Bezug auf die innere Entwicklung...
Mit dieser Einseitigkeit steht und fällt eigentlich alles – das ganze Schicksal der Menschheit. Darum ist dies der Dreh- und Angelpunkt, an dem die Widersachermächte vor allem ansetzen. Verhindere die innere Entwicklung des Menschen – und du hast ihn in der Hand, hast ihm seine Zukunft genommen! Nicht umsonst feiert die Freizeit- und Spaßkultur heute grandiose Triumphe.
Es ist grandios, dass die Menschheit (zumindest der privilegierte Teil) heute so viele Möglichkeiten hat – aber fast alle diese "Möglichkeiten" dienen der Veräußerlichung, der Ablenkung, der Zerstreuung, der "Konzentration" auf das, was nach dem Tod als völlig Unwesentliches verworfen werden wird. Man braucht sich Gedanken dieser Art nicht zu machen, wenn man nicht will, jeder ist frei... Wenn man sich aber die Frage nach dem Wesen des Menschen stellt, wird man unweigerlich auch zu solchen Fragen kommen.
Unsere heutige "Kultur", die der Freizeit huldigt und eine unglaublich geist-lose Unkultur geworden ist, die uns mit zahllosen Versuchungen konfrontiert (Computerspiele, Erlebnisparks, Fitnesscenter, iPhones und, und, und – nimm mich, kauf mich, fühl dich wohl, genieß dein Leben, auch dies brauchst du noch...), macht den Menschen zu einer Karikatur seiner selbst. Und was eine gewisse spirituelle Vertiefung bilden soll, bleibt – sofern sie überhaupt gesucht wird – oft genug ebenfalls eine angenehme Unverbindlichkeit: Hier mal ein Yogakurs, da mal ein Buch über die "sieben Tibeter" oder "Gespräche mit Gott" usw.
Rudolf Steiner verwies des öfteren darauf, wie schwer es für den Menschen ist, auch nur eine einzige Gewohnheit zu ändern – dass aber gerade hier der Ansatzpunkt für reale Spiritualität liegt. Spiritualität besteht nicht in erster Linie in irgendwelchen übersinnlichen Erlebnissen – die kann man haben, auch wenn man der größte Egoist bleibt –, sondern vor allem in der Verwandlung der eigenen Seele.
Eine solche Verwandlung ist das Einzige, was Ewigkeitswert hat – was wir auf diesem Wege erreichen, bleibt uns für immer erhalten, nicht nur in diesem Leben.
Und eine solche Arbeit an der eigenen Seele ist zugleich das, was in der Erziehung von Kindern das Allerwesentlichste ist. Die Kinder stellen uns die Frage: Was ist der Mensch? Was wir ihnen vorleben, wird für sie zur Antwort – und sie nehmen sie unbewusst auf. Entweder unsere real vorgelebte Antwort wird für sie zu einer Kraft oder zu einem Hindernis. Was leben wir ihnen vor? Dass das Leben einerseits hart, anstrengend und ungerecht ist und dass man aber zumindest den Rest nach Feierabend uneingeschränkt genießen kann? Oder dass das Leben als Ganzes eine grandiose Herausforderung ist, dass man mit jeder Situation zurechtkommen kann, dass aber die allergrößten Abenteuer jene sind, die man mit sich selbst abzumachen hat? Mit anderen Worten: Wo erleben die Kinder uns als wahrhafte Menschen, die nicht glauben, "fertig" zu sein, sondern sich noch immer Tag für Tag durch ganz bewusstes Tun innerlich entwickeln?
Wo wir dies tun, da erleben die Kinder unmittelbar, dass der Kampf Michaels mit dem Drachen eine Realität ist – und da erleben sie unmittelbar etwas von dem Wesen des Menschen. Und an dem, was sie da erleben, können sie sich orientieren – und derselbe Wille, den wir in uns aufrufen, wird auch in ihnen erwachen: Der Wille, wahrhaft Mensch zu werden, nie in dem Gewordenen zu ruhen, mit den eigenen Einseitigkeiten nie zufrieden zu sein, sondern Freude und Lust daran zu empfinden, immer mehr nach Verwandlung zu streben.
Michaels Name bedeutet: "Wer ist wie Gott?" – Vollkommen ist niemand, aber wie stark ist unser Wille und unser Streben nach dem wahrhaft Guten? Das ist die Frage Michaels.
Besinnung auf den Erzengel
Allzuleicht mögen wir uns einreden: Wir tun schon "sehr viel", wir sind schon "gut genug". Diese Antwort steht natürlich jedem frei. Bevor man sich aber mit ihr zufrieden gibt, möge man sich noch einmal in das Wesen Michaels versenken: Der mutige Erzengel, der mit unerschütterlicher Wahrhaftigkeit für das Gute und gegen das Böse kämpft, wie stark und machtvoll es auch sein mag... Und der Engel, dem gewissermaßen wie keinem anderen Engel das Schicksal der Menschen am Herzen liegt, der gleichsam sorgenvoll auf den Menschen schaut, auf die Zukunft der Menschheit; der dem Menschen von seiner unbesiegbaren Kraft, von seinem starken Willen etwas schenken will – aber auf den freien Entschluss des Menschen warten muss, der ihm mit seinem Willen entgegenkommt...
Wenn wir uns auf diese Realität besinnen, ist es dann wirklich unser letztes Wort, dass wir für uns, für unsere innere Entwicklung, für unsere Kinder, für die Welt schon "genug" tun?
Christus sprach von einem Glauben, der Berge versetzen kann. Michael besitzt einen Mut, der durch alle Widerstände und Hindernisse nicht erschüttert werden kann. Haben wir denn auch nur eine Ahnung von dieser Sphäre, haben wir sie denn jemals auch nur an ihrem äußersten Saum berührt? Wie müsste unser Leben aussehen, wenn wir jeden Tag mit einer solchen Entschiedenheit an unseren Schwächen und Einseitigkeiten arbeiten würden? Sind wir uns klar, was dies an Unermesslichem bedeuten würde – für uns selbst, für die Welt, für unsere Kinder, für unsere Mitmenschen?
Die größte Einseitigkeit ist die menschliche Bequemlichkeit – denn sie macht blind wie nichts anderes. Blind für die grandiosen Möglichkeiten, blind für die drängenden Notwendigkeiten, blind für die wirkliche Realität, blind für die Hoffnung, die auf uns ruht.
Man besinne sich nur einmal einen einzigen Tag lang – aber einen ganzen Tag lang! – auf Michael. Man stelle sich so ernst und tief wie möglich vor: Es gibt diesen Erzengel, ich habe ihn bis heute nicht bewusst erlebt, aber es gibt ihn. Und sein Wesen ist wirklich dieses: Unerschütterlicher Mut und Kampf für das Gute. Und sein Blick ist wirklich dieser: Sein Blick ruht auf uns, fragend. "O Mensch, wirst Du Dich selbst erkennen? Wirst Du erkennen, welcher Kampf um Dein Wesen geführt wird?" – Wenn man dies alles als Realität ernst nimmt; wenn einem klar wird, was dies bedeutet, wenn es eine Realität ist, und wenn man es als Realität ernst nimmt ... dann wird man wahrhaftig ein anderer Mensch...
Michaeli ist die Festeszeit des Mutes – und es gehört Mut dazu, das Wesen des Menschen derart groß zu denken und sich dazu zu bekennen. Denn es bedeutet, die Notwendigkeit der inneren Vertiefung zu erkennen – und ihr dann auch wirklich nachzustreben. Und erst wenn man diesen Entschluss gefasst hat, wird man wahrhaft feststellen, wo die eigenen Einseitigkeiten, Schwächen und Hindernisse leben. Dann aber kann Michael auch helfen...