Menschenerkenntnis
Über die Vernichtung der Moral durch den Intellekt
In einem Online-Artikel von Focus vom 29.1.2010 geht es unter dem Titel "Hauptsache Charakter" um das Thema moralische Erziehung. Dieser Text zeigt symptomatisch, wie völlig abstrakt und intellektuell heute mit solchen Fragen umgegangen wird. Die ganze Sprache offenbart, wie sich "Moral" zu etwas äußerst Nebelhaft-Dünnem verflüchtigt hat, dem man ganz äußerlich gegenübersteht. Es ist erschütternd zu erleben, wie der eigentlichen Sphäre der Moral durch die fortwährende Abstraktheit geradezu ausgewichen wird und wie man nicht die geringste Ahnung mehr davon hat, wo die Realität der Moral eigentlich zu suchen wäre.
Inhalt
Moral – im Gehirn und in den Genen?
Von Wertepaketen und anderen Ratschlägen
Der abstrakte Intellekt kann es nur falsch machen
Selbstverständlichkeiten "wissenschaftlich"
Der Offenbarungseid der Religion
Moral – im Gehirn und in den Genen?
Ist Moral angeboren? Einiges spricht dafür. In den vergangenen Jahren haben sich Hirnforscher verstärkt der Suche nach der Moral gewidmet. Fündig wurden sie in verschiedenen Regionen des Stirnhirns (Frontalcortex). Diese zeigen höchste Erregung, wenn Versuchspersonen knifflige moralische Fragen beantworten müssen, wie zum Beispiel die, ob man einen Unschuldigen töten darf, damit viele andere gerettet werden. Für den Harvard-Psychologen Marc Hauser steht daher fest: Der Mensch kommt mit einem "Moralorgan" zur Welt.
Bis zu einem gewissen Grad sind also möglicherweise die Gene dafür verantwortlich, ob ein Mensch freundlich oder feindselig, gütig oder missgünstig ist. Die Zwillingsforschung beschäftigt sich mit dieser Frage. Aktuell geht sie davon aus, dass das Rennen in etwa unentschieden ist: Charakterzüge wie Gutmütigkeit oder auch die Religiosität sind zu 40 bis 55 Prozent angeboren. Die Umwelt spielt eine ähnlich große Rolle. Interessant: Je älter ein Mensch wird, desto mehr schlagen die Gene durch.
Welch ein Unsinn! Da wird also bis auf Prozente berechnet, inwieweit Moral angeboren ist, ohne zu wissen, was Moral ihrem Wesen nach überhaupt ist! Die Prozente (insgesamt 100) teilen sich natürlich die Faktoren Vererbung und Umwelt, denn ein Drittes gibt es für die Wissenschaft ja nicht. Dabei missversteht sie regelmäßig ihre eigenen Untersuchungsresultate. Denn was sagt schon eine neurologische Aktivität? Dass das Gehirn beim Denken irgendwie beteiligt ist – mehr nicht! Wenn die heutigen Forscher beobachten würden, dass sich ein Pianist immer dann, wenn er besonders glücklich ist, ans Klavier setzt, würden sie offenbar das Klavier zum Glücksorgan erklären... Zumindest bei abstrakten, intellektuellen Fragen ist das Gehirn zum Denken notwendig. Und was sollten "knifflige" Fragen wohl anderes sein als abstrakt? Die Forscher sollten sich einmal überlegen, wer denkt. Wer denkt und lenkt das Gehirn? Und was spielt vielleicht alles eine Rolle bei der Frage, wie dann gedacht wird? Man kann ja alles Mögliche denken – und auch in verschiedenster Weise.
Der bloße Intellekt kann schon das Problem gar nicht verstehen, weil er in seiner Abstraktheit weder das Reich der Moral erfassen kann – noch seine eigene Abstraktheit! Er kennt ja gar nichts anderes, er kann sich nicht von außen betrachten, und er macht auch die ganze übrige Welt durch seinen Blick so abstrakt, wie er selber ist. Der Intellekt ist eigentlich die grausame Medusa, die mit ihrem Blick alles versteinern lässt. Im Extremfall geht dies soweit, dass der Intellekt fast überhaupt nichts mehr von Moral in sich trägt – und wir haben das Bild eines Forschers, dem es nur noch um die Forschungsergebnisse geht und der nicht das geringste Empfinden mehr hat, welche moralischen Fragen mit seiner Forschung verknüpft sein könnten. Dann wird das Gehirn tatsächlich nur noch als reine Denkmaschine benutzt... In allen anderen Fällen aber empfinden wir, wie im Denken nicht nur das bloße "Wahr/Falsch?" eine Rolle spielt, sondern auch die Frage "Gut/Böse".
Natürlich kann man auch hier reflexartig behaupten, dass diese Frage und ihre Antwort ebenfalls in den Gehirnwindungen festgelegt ist. Mit "Wissenschaftlern", die per definitionem alles im Gehirn ansiedeln, ist natürlich nicht zu reden. Was jemand anders mit den Begriffen Herz, Seele, Gewissen usw. andeutet, ist ihnen nicht begreiflich zu machen. Nur sehen diese bemitleidenswerten Menschen nicht, dass sie ihren eigenen Alltag völlig getrennt von ihren scheinbaren "Überzeugungen" leben. Denn wenn sie wirklich ganz und gar glauben würden, dass ihre Liebe zu ihrer Frau, ihren Freunden, ihren Kindern, der Natur oder was auch immer nur ein Ergebnis ihrer neuronalen Aktivität wäre, wären sie überhaupt nicht mehr lebensfähig. Insofern sie also wirklich noch Liebe empfinden, insoweit widerlegen sie ihre eigenen "wissenschaftlichen" Behauptungen täglich von neuem.
Von Wertepaketen und anderen Ratschlägen
"Sie müssen wissen, wie sie sich verhalten sollen und wie sie mit täglichen Anforderungen fertigwerden können", schreibt Rabbi WayneDosick in seinem Erziehungsratgeber "Kinder brauchen Werte. 10 Lebensregeln, die Kindern Halt und Orientierung geben" (Scherz Verlag). Schon früh sollten Eltern Kinder auf den Unterschied zwischen richtig und falsch aufmerksam machen. Auf die Frage vieler Mütter und Väter, welches Wertepaket man dem Nachwuchs für eine wirklich glückliche und erfüllte Zukunft mit auf den Weg geben sollte, nennt der Autor: Respekt, Wahrhaftigkeit, Fairness, Verantwortungsbewusstsein, Mitgefühl, Dankbarkeit, Freundschaft, Friedfertigkeit, Streben nach persönlicher Reife und die Fähigkeit, an etwas zu glauben.
Welch eine Sprache! Wie wird hier das Menschliche völlig verachtet und mit Füßen getreten! Da spricht der reine, an Kosten-Nutzen-Aspekten orientierte Intellekt: Welches Wertepaket sollte man dem Nachwuchs mitgeben? Und er schafft es, gleich darauf von einer "wirklich glücklichen und erfüllten Zukunft" und von Worten zu sprechen, die auf wirkliche Ideale deuten – aber wie hohl und blechern tönt all dies aus dem Munde des Intellekts!
Und wie, bitteschön, soll dieses Wertepaket mit auf den Weg gegeben werden? Wie kann ein Erwachsener einem Kind irgendeinen Wert mitgeben, wenn er nicht einmal weiß, "welches Wertepaket es sein soll"? Das zeigt doch nur, dass er selbst überhaupt keine Werte mehr hat! Wie kann er dann welche mitgeben?! Wie armselig all dies ist, zeigt der Rat, die Kinder "schon früh auf den Unterschied zwischen richtig und falsch aufmerksam zu machen". Es ist wohl nicht möglich, noch abstrakter und sinnentleerter zu werden... Hier wird versucht, Moral mit dem Intellekt zu erfassen – und den Kindern zu vermitteln. Die Kinder jener Eltern, die solche Ratschläge brauchen und anwenden, können einem leid tun. Echte Moral werden sie nur gegen die graue Blässe ihrer Eltern entwickeln können.
Wäre lebendiges moralisches Empfinden in den Erwachsenen vorhanden, dann wäre jede ihrer Taten von Moral durchdrungen, durchtränkt – dann aber bräuchte man überhaupt keine Worte mehr zu verlieren. Die Kinder würden das Moralische im lebendigen Zusammenleben mit ihren Eltern und Erziehern aufsaugen wie die Muttermilch. Die Erwachsenen würden aus sich heraus das Richtige tun – in Wort und Tat. Wenn man einen abstrakten Erziehungsberater braucht, dann hat man die moralische Sphäre schon verloren. Dann aber muss man nicht den Kindern ein "Wertepaket mitgeben", sondern zunächst sich selbst wieder mit lebendiger Moral durchdringen, nach ihrer eigentlichen Quelle suchen!
Der abstrakte Intellekt kann es nur falsch machen
Das Gespür für Menschen, lässt es sich trainieren? Pädagogen sind sich sicher: ja, selbstverständlich. [...] Robert Coles, Kinderpsychiater und Pulitzerpreisträger, beklagt in seinem viel beachteten Ratgeber "Kinder brauchen Werte. Wie Eltern die moralische Intelligenz fördern können" (Rowohlt Taschenbuch Verlag) dennoch einen Werteverfall. Aufhalten könne den die Familie. [...] "Am besten nähern wir uns (...) der Frage, welche Werte wir unseren Kindern vermitteln wollen, indem wir sowohl überlegen, wie wir unsere Kinder eigentlich nicht gern hätten, als auch, welche Tugenden sie denn besitzen sollten." Coles schlägt vor, bei einem gemütlichen Abendessen in Ruhe über Themen wie Mut, Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu sprechen. Eltern könnten Fragen in den Raum stellen wie: Darf man Brot stehlen, wenn man hungrig ist? Organspende, ja oder nein? Was passiert, wenn ich sterbe?
Muss man sich über den "Werteverfall" angesichts solcher Erziehungsratgeber noch wundern? "Moralische Intelligenz" ist ein Unwort – es will zwar den Intelligenzbegriff erweitern, bleibt aber doch im Netz des Intellekts und außerdem der ganzen Sphäre von Wettbewerb, Verwertbarkeit usw. gefangen. Und wie furchtbar ist dann der folgende Ratschlag, die Überlegungen zum "richtigen Wertepaket" mit der Frage zu beginnen, wie wir unsere Kinder nicht gern hätten und welche Tugenden sie besitzen sollten! Wenn man nicht weiß, welche Werte man seinen Kindern vermitteln will, soll man es lassen! Sobald der Intellekt diese Frage aufwirft, wird die Antwort schon abgrundtief falsch! Sie kann sich von der Abstraktion, vom Zweckdenken, von subtilem Egoismus gar nicht lösen – und die Moral bleibt hohl und äußerlich... Moral kann man nur weitergeben, wenn man sie in sich trägt – dann aber braucht man sich solche "Fragen" nicht stellen.
Und das Gespräch über Mut usw.? Auch das ist in diesem Szenario furchtbar abstrakt. Die Kinder sind moralische Wesen – und solche Fragen werden von ihnen kommen. Und zwar dann, wenn sie dran sind! Der Erwachsene mit seinem Intellekt kann da nur alles verderben. Auch wenn die Fragen dann kommen... Antwortet der Erwachsene aus seiner Abstraktion heraus, dann wird die Seele des Kindes tief, tief enttäuscht werden – und die Moral wird auch in der Seele des Kindes langsam zu einem kümmerlichen, grauen, unkenntlichen Etwas zusammenschrumpfen... Die Eltern meinen dann vielleicht sogar noch, ihren Kindern "Moral zu vermitteln", stattdessen töten sie den lebendigen Keim, der zu einem Baum auswachsen wollte...
Selbstverständlichkeiten "wissenschaftlich"
"Eltern müssen nicht perfekt sein, um geliebt zu werden, Geborgenheit zu geben und die Kinder gut zu erziehen", sagt Psychologin Nicola Baumann. "Wichtig ist, dass sie ein Vorbild abgeben, das für Kinder nachahmenswert ist." Das heißt: authentisch sein, Entscheidungen begründen und eigenen Prinzipien treu bleiben.
Kinder sind glücklicher, wenn sie aus Elternhäusern kommen, in denen es Ideale gibt, die über Ansehen, Erfolg und Konsum hinausgehen, schreibt der Religionswissenschaftler Wayne Dosick. Sie sind bei Problemen und Misserfolgen belastbarer und insgesamt optimistischer.
Auch hier hat man wieder absolute Selbstverständlichkeiten als scheinbar wissenschaftliche Forschungsresultate in abstrakter, gefühlloser Sprache beschrieben – in einer Sprache, in der jede Moral fehlt. Kinder sind glücklicher, wenn sie aus Elternhäusern kommen, in denen es Ideale gibt... Ja, aber wo leben denn Ideale noch so kräftig, dass es wirkliche Ideale sind? Wer heute von "Werten" spricht, hat doch überhaupt keine Ahnung mehr, was wirkliche Ideale sind! Auch der blasse Ratschlag, der von "Authentischsein" und "Prinzipientreue" redet, lässt sich auf alles Mögliche und Beliebige anwenden. Was wäre das für eine furchtbare Welt, in der die Erwachsenen nicht einmal mehr ihren Prinzipien treu bleiben (und natürlich leben wir auch in einer solchen Welt)... Aber dennoch ist die Frage: Was sind das für Prinzipien? Wie weit reichen sie denn überhaupt in das Moralische hinein? Und ist irgendwo ein echtes, tief erlebtes und erstrebtes Ideal darunter?
Der Offenbarungseid der Religion
Braucht man Religion, damit aus Kindern gute Menschen werden? Diese Frage beantwortet Susanne Breit-Keßler, Regionalbischöfin in München:
"Nicht unbedingt. Doch christliche Werte sind natürlich hilfreich, um Kinder zu liebenswerten Persönlichkeiten zu erziehen. Die Kirche lehrt uralte Tugenden, die Kindern Halt geben – wie zum Beispiel den Respekt vor Mitmenschen oder Demut, statt maßlos zu sein. Das Maß des Menschlichen ist ein wichtiger Wert, der heute verloren gegangen zu sein scheint. [...]
Das christliche Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" ist heute wichtiger denn je – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Achte dein Mitgeschöpf, aber gehe auch barmherzig mit dir selber, deinem Körper und deinem Geist um. Das bedeutet auch, sich selber Gutes zu tun, sich zu entspannen oder Sport zu treiben.
In der Kirche lernen Kinder wichtige Rituale. Selbst wenn ihre Eltern Zweifler sind, sollten sie ihren Kindern Feste wie Erntedank, Weihnachten oder Ostern nicht vorenthalten. Diese strukturieren das Leben der Kinder und zeigen ihnen, dass es sich beispielsweise lohnt, auch mal auf etwas zu warten, oder wie gut sich Dankbarkeit anfühlt."
Und hier wird nun also selbst die Religion in das Reich des Abstrakten heruntergerissen... Sogar die Bischöfin traut sich nicht mehr, das eigentliche Wesen des Religiösen zu berühren – oder sie kennt es selbst nicht einmal mehr! "Christliche Werte"? Eben haben wir gesehen, dass "Werte" bereits der Leichnam des Moralischen sind. "Die Kirche lehrt"? Immer wieder soll die Moral von außen an das Kind herankommen – dann aber ist es hoffnungslos, zumindest hoffnungslos falsch. Und dann wird sogar das "Liebesgebot" in die Sphäre des Egoismus hereingezogen. Natürlich ist es richtig, dass man auch sich selbst lieben muss. Aber wie furchtbar ist es, wenn dies sogar zur absoluten Hauptsache wird! Natürlich zeigt dies auch den Zustand unserer Welt. Es zeigt das wahre Ausmaß der Fremd- und Selbstausbeutung, die heute mit absoluter Macht herrscht – und es offenbar damit den völligen Verlust des Moralischen!
Und die Kirche? Sie kennt diese Sphäre auch nicht mehr, ist herabgesunken zur Dienstmagd weichgespülter, angenehmer Lebensberatung. Sie erweckt den Schein, dem heutigen Menschen entgegenzukommen, verrät aber gerade dadurch ihren wahren Auftrag – und die wahre Bestimmung des Menschen. Diese Bestimmung liegt nämlich gerade nicht darin, "ein wenig barmherzig mit sich selber (und dem Nächsten) zu sein" und seinen Kindern ein paar "Werte" mitzugeben – sondern sein volles Wesen zu offenbaren. Der Mensch ist durch und durch moralisch! Und wo er noch nicht moralisch ist, ist er noch nicht Mensch... Die Bestimmung des Menschen ist es, vor Moral zu leuchten, auszustrahlen, die ganze Welt um sich herum zu verwandeln – letztlich bis in die Materie hinein, bis zur Schaffung einer ganz neuen Erde, aber auch einer ganz neuen Leiblichkeit.
Das ist das Geheimnis des zweiten Adam, des Neuen Jerusalem, der Auferstehung...
Solange man nicht erfasst, was Moral ist, wird man von diesem Geheimnis auch nicht den äußersten Zipfel erahnen.