Buchbesprechung
Von der Auferstehung der Waldorfpädagogik
Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst. Occident, 2009.
veröffentlicht in: GEGENWART Nr. 4/2009, S. 61f. [Zwischenüberschriften eingefügt] | PDF | Das Heft ging mit einem Begleitschreiben der Redaktion an alle Waldorfschulen in Deutschland und in der Schweiz!
90 Jahre nach Begründung der Waldorfpädagogik erscheint ein Buch, das in der Lage wäre, die Waldorfpädagogik zu ihrer wahren Blüte zu führen – weil es aus ihrer Quelle heraus geschrieben ist. Die niederländische Ärztin und Anthroposophin Mieke Mosmuller schildert den Zustand der Waldorfpädagogik heute – und die noch ausstehende Verwirklichung eines Ideals.
"Der Mensch in der Welt wirkt nicht durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist." Diese Worte Rudolf Steiners stellt Mieke Mosmuller ihrem Buch als Motto voran. Und diese Idee, diese Tatsache durchzieht das gesamte Buch, macht sein Wesen aus. Die Idee selbst ist in dem Buch verwirklicht, es ist durchdrungen von Verwandlungskraft, von Liebe zum Kindeswesen, zu den künftigen Lehrern, zum Wesen der Waldorfpädagogik.
Gleichsam aus innerer Notwendigkeit heraus beginnt das Buch mit dem ausführlichen Entwurf einer völligen Neugestaltung der Lehrerausbildung. In der hier beschriebenen Ausbildung lernen die Studenten in vier Jahren das Menschenwesen – den physischen Leib, das Ätherische, die Seele und den Geist – durch und durch, von innen heraus kennen. Nicht als Theorie, sondern als unmittelbar Erlebtes.
Auf dem von der Autorin skizzierten Weg erlangen die Studenten schließlich ein so intimes, erlebendes Erkennen des Menschenwesens und der kindlichen Entwicklung, dass sie aus diesem lebendigen Erkennen heraus in reicher Fülle die pädagogischen Intuitionen schöpfen können werden. Das aber ist der Beginn der Anthroposophie: die Verwirklichung eines solchen lebendigen, erlebenden Erkennens.
Dieses Buch lässt den Leser staunend erleben, was wirkliche Anthroposophie ist und was Waldorfpädagogik ist. Es lässt erleben, wie die heutige Waldorfpädagogik und die Ausbildung intellektuell und abstrakt gehandhabt wird – und es erweckt die Sehnsucht nach einer Auferstehung der Waldorfpädagogik.
Die Waldorfschule jetzt
Im zweiten Teil ihres Buches schildert Mieke Mosmuller ihre 15-jährigen Erfahrungen mit der Waldorfschule in Den Haag. Diese wurde noch zu Rudolf Steiners Lebzeiten gegründet und hat bis heute eine besondere Stellung unter den holländischen Schulen.
Selbst in dieser Schule jedoch gab es ungute Spaltungen im Kollegium, große Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, eine Unfähigkeit, Fragen von Eltern Raum zu geben usw. Wenn es Schwierigkeiten mit den Kindern gab, wurde oft den Eltern die Schuld gegeben, obwohl pädagogische Unzulänglichkeiten und Fehler vieler Lehrer nicht zu übersehen waren.
Sehr klar und offen schildert Mieke Mosmuller krankhafte Entwicklungen, die niemand wirklich zu sehen scheint, weil sich jeder auf seine "besten" Absichten und Bemühungen beruft – auf die Konferenzen, Tagungen, Fortbildungen... Doch was nützt das alles, wenn bei Problemen die Schuld immer dem Kind (und den Eltern, dem Zeitmangel...) gegeben wird?
Den Haag ist (nur) ein Beispiel. Man mag glauben, dass an anderen Schulen weniger Schlimmes geschieht, als die Autorin es für diese Schule schildern musste – aber es geht nicht um "mehr" oder "weniger", es geht um Symptome für etwas Allgemeingültiges. Für andere Schulen hätten andere Vorfälle geschildert werden müssen, die dennoch auf dasselbe hinweisen würden: auf den immer wieder vorhandenen Mangel an echter Liebe zum Kind, an tiefem Verständnis, an innerlicher Vertiefung...
Die Verwirklichung eines Ideals
Dann folgt der dritte Teil... Schilderte die Autorin zu Beginn das grandiose Ideal einer völlig verwandelten Lehrerausbildung, so entwirft sie nun das wahre Ideal der Waldorfpädagogik – ein Ideal, dessen Verwirklichung man an jedem Punkte beginnen kann.
Im ersten Abschnitt singt Mieke Mosmuller im Grunde ein Hohelied der Liebe – einer Liebe zum Kind, zu der sich der Lehrer emporarbeiten muss, um sie dann auch durch alle Hindernisse hindurch unerschütterlich aufrechterhalten zu können. Dann wird eine solche Liebe die Beziehung zwischen Lehrer und Kindern auch durch alle Erschütterungen hindurchtragen – auch durch die Schwierigkeiten der Pubertät.
Nach diesem begeisternden Aufruf behandelt die Autorin die spirituellen Grundlagen des Lernens – was hier absolut nicht in Kürze wiedergegeben werden kann, sondern unbedingt im Ganzen gelesen werden muss.
Mieke Mosmuller gibt Hinweise zur Überwindung eines Anachronismus des Lehrplans, entkleidet aber zugleich auch die neue "Portfolio"-Methode ihres falschen Nimbus'. Sie schildert die Realität in den Niederlanden, wo diese bereits seit Jahren eingeführt ist und die Resultate im Grunde klar zutage liegen. Sie zeigt, wie die Kinder durch die Betonung des "Selbst-Lernens" nur der Geistlosigkeit und auch der Selbstgefälligkeit ausgeliefert werden. Nicht die Kinder brauchen Portfolio, der Lehrer selbst muss das "lebendige Portfolio" sein, an ihm müssen sie die Fülle der menschlichen Erkenntnis erleben können...
Der Hauptabschnitt dieses dritten Teiles ist wiederum dem Lehrer selbst gewidmet. Er beginnt mit Hinweisen auf das, was Rudolf Steiner als die Grundlage für den Waldorflehrer ansah: Die vor allem anderen notwendige Begeisterung – und eine reale Beziehung zum Christuswesen. Hier liegt die Quelle der Intuitionen des Erziehers.
In einem weiteren erschütternden Kapitel führt Mieke Mosmuller den Leser zu der Erkenntnis, dass das "Instrument" der "Kinderbesprechung", die oft als das Zentrum der Kollegiumsarbeit gilt, einen ungeheuren Widerspruch zur Idee der Waldorfpädagogik darstellt. Es gibt keine Kinderbesprechung, in der die Lehrer nicht offen oder subtil urteilen – selbst dort, wo sie "rein helfend wirken wollen". Mieke Mosmuller beschreibt, wie eine solche "Besprechung" dem Wesen des Kindes in jedem Fall zu nahe tritt und wie sich die reale Wirkung eines solchen Prozesses durch ein ganzes Kollegium noch potenziert – ganz abgesehen von den Schwächen und seelischen Unvollkommenheiten der Beteiligten! Niemals brauche ein Kind ein ganzes Kollegium zur Erziehung, sondern einzelne Menschen, die in der Lage sind, durch Jahre hindurch mit einem Kinde zusammen zu empfinden und an ihren eigenen Unvollkommenheiten zu arbeiten: "Der Herzschlag der Schule sollte die Selbst-Erkenntnis des Lehrers sein."
Kann die Auferstehung real werden?
Im abschließenden Kapitel gibt die Autorin eine Zusammenfassung dessen, was notwendig wäre, um die Waldorfpädagogik zu retten – das heißt, das Ideal lebendig zu machen. Dieser letzte Abschnitt ist ein weiteres leidenschaftliches Plädoyer für eine Pädagogik, die vom Kinde ausgeht und sich auch niemals vom Kinde entfernt...
An einer Stelle des Buches schreibt Mieke Mosmuller: "Das Kind liebt den Erzieher immer; es kommt nur auf eines an: Liebt der Lehrer auch das Kind?" In Abwandlung dieses Satzes könnte man sagen: "Dieses Buch liebt die reale Idee der Waldorfpädagogik. Die Frage ist: Liebt auch der Leser, der Erzieher diese Idee?" – Kann seine Liebe so real werden, dass sich das wahre Wesen der Waldorfpädagogik in ihm, durch ihn, mit ihm zu entfalten beginnt...?
Die Waldorfpädagogik ist ihrem Wesen nach eine tief spirituelle Pädagogik. Wo sind die Lehrer, die dieses Wesen wahr-machen wollen? Die wissen, dass das Wesen dieser Pädagogik noch nicht im Wissen um Lehrplaninhalte und Methodiken liegt – und seien sie noch so lebendig aufgegriffen –, sondern dass das eigentliche Geheimnis dieser Pädagogik erst beginnt, sich zu offenbaren, wenn man täglich an der eigenen Verinnerlichung und Selbsterziehung arbeitet und wahrhaft um das spirituelle Menschenwesen ringt – und auf diesem Wege die Liebe und das Verständnis immer weiter vertieft...?
Wo sind die Lehrer, die das Wesen der Waldorfpädagogik, das Wesen des Kindes und ihre eigene Aufgabe so ernst nehmen?