22.06.2011

Ein Prozess um die Wahrheit

Eine Geschichte aus alter Zeit.


Es war einmal ein junger Bursche, dem waren Vater und Mutter gestorben. Sein Vater hatte ihm über viele Jahre hinweg von den Klöstern des Landes erzählt, und das Herz des Jungen brannte bei diesen Erzählungen. Der Vater hatte ihm auch die inneren Voraussetzungen für den heiligen Gottesdienst beschrieben, und mit Sorge hatte der Junge sich gefragt, ob er überhaupt würdig genug wäre, diesen Gottesdienst zu tun. Eine heilige Scheu hatte ihn schon in jungen Jahren davon abgehalten, selbst ins Kloster einzutreten.

Stattdessen ging er nach dem Tode seiner Eltern in die Stadt, wo er einer Gruppe von Menschen beitrat, die die Klöster des ganzen Landes mit Spenden von Geld, Gold und anderen Gütern unterstützen. Diese Gilde wurde mit fester Hand von einem Mann geleitet, der unentwegt durch das Land reiste und sogar in anderen Ländern die Klöster besuchte. Der Junge, der nun zu einem jungen Mann herangewachsen war, bekam von dem Leiter der Gilde Aufgaben zugeteilt, die er sehr eifrig und selbstständig erfüllte. Allmählich lernte er in vielen Klöstern Mönche und Priore kennen, und auf Konzilen, an denen auch die helfende Gilde teilnahm, war er durch seine freundliche Art und seine fleißige Arbeit von jedermann sehr geschätzt.

Es mochten wohl zehn Jahre vergangen sein, da wurde der junge Mann am Wegesrand von einem Bettelweib angesprochen. Sie fragte ihn, ob er nicht ein Mitglied der Gilde sei. Als er bejahte, sah sie ihm lange in die Augen und sagte dann: Lerne zu unterscheiden!

Verwirrt setzte der junge Mann seinen Weg fort und sann über die Worte des Bettelweibes nach. Auf einmal entsann er sich, dass vor wenigen Tagen ein Bursche mit Schimpf und Schande des nahegelegenen Klosters verwiesen worden war. Er kannte das Haus, in dem seine Eltern wohnten, und suchte ihn auf. Mit vielerlei Fragen forschte er ihn aus und war sich schließlich sicher, ihm ganz und gar vertrauen zu können. Was der Bursche ihm aber erzählte, erfüllte sein Herz mit großer Trauer.

Von nun an hielt der Mann seine Ohren und sein Herz offen – nicht nur für die Worte der Mönche, Prioren und Bischöfe, sondern auch für das, wie sie gesprochen waren. Das, was sich ihm dadurch offenbarte, ließ sein Herz immer trauriger werden. Denn was sah er nun? Das, was sein Vater, der ein tief frommer und gottgläubiger Mann gewesen war, ihm vor vielen Jahren von den Klöstern erzählt hatte, war nicht länger wahr! Der Vater selbst hatte sein Kloster vor einem Menschenalter verlassen, um eine Familie zu gründen, und nun waren wiederum mehr als zwei Jahrzehnte vergangen.

Das Schicksal führte den Mann zu Begegnungen mit Mönchen, die aus dem Kloster ausgetreten waren, und mit Mönchen, die noch im Kloster lebten, aber ebenso tiefes Leid trugen wie er. Und auch wenn es wenige waren, so sahen und erlebten sie doch alle dasselbe. Die wirkliche Religiosität war verlorengegangen. Nicht nur im nahegelegenen Kloster, sondern auch im nächsten, im übernächsten, in allen Klöstern des Landes. Die Messen wurden nach wie vor gehalten, die Andachten, die Gebete; es wurden eifrig und regelmäßig Synoden veranstaltet, man tauschte sich aus, man diskutierte, man entwickelte Änderungen im Tagesablauf und so weiter. Aber für den, der Augen hatte zu sehen – und der Mann hatte sie nun –, war deutlich, dass dasjenige innere Leben, was all dies durchziehen und nähren sollte, sich dem Ganzen längst entzogen hatte. Und das Schlimmste war: Es wurde auch gar nicht mehr gesucht!

Der Mann versuchte manchmal, mit dem Leiter der Gilde darüber zu sprechen, was er für Sorgen im Herzen trug. Beim ersten Mal sagte der Leiter ihm: Ja, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Beim nächsten Mal sah der Leiter ihn lange durchdringend und forschend an und sagte nichts. Beim dritten Male fuhr er ihm streng ins Wort und sagte: Wir  unterstützen die Klöster! Es wäre dir besser, nicht so viel herumzuforschen, es verwirrt nur deine Seele und macht sie krank!

Traurig trug der Mann seine Sorgen von nun an allein im Herzen. Es verging ein Jahr. Eines Tages, es war Frühling, bekam er durch Zufall ein Buch in die Hände. Es war geschrieben von einem Mönch, der sich schon vor langer Zeit aus dem Kloster zurückgezogen hatte und nun in einer unscheinbaren Behausung mitten in der Stadt lebte. Gebannt las der Mann das Buch an einem Abend und in einer Nacht durch. Am nächsten Morgen wusste er: Hier liegt der Schlüssel!

Es war offensichtlich, dass dieser Mönch nach wie vor Kontakte in die Klöster hatte und um das Geschehen innerhalb ihrer Mauern wusste. Und in klaren Worten sprach er aus, was der Mann selbst mehr gefühlsmäßig erlebt hatte: Das religiöse Leben war verschwunden, schon lange, sehr lange. Stattdessen gab es schlimme Fehlentwicklungen. Man glaubte, religiös zu sein und zu handeln, indem man gewisse Dinge tat, die zwar selbstlos schienen, in die aber doch gänzlich die unverwandelte Seele einfloss. Oft ging es sogar um Macht, sei es subtil, sei es offensichtlich.

Hatte der Mann all dies schon geahnt und teilweise auch gewusst, so erschütterte ihn doch der Hauptteil des Buches bis ins Innerste. Dieser einsame Mönch zeigte einen Weg zu einem wirklichen Gottesbewusstsein! Schritt für Schritt beschrieb er diesen Weg, auf dem der Mensch wirklich zu Gott und zu einer Demut des Herzens finden könnte. Leuchtend stand der Weg vor den lesenden Augen, leuchtend erhob er sich aus den Lettern, die auf das grobe Papier gedruckt waren.

Von einer tiefen Begeisterung erfüllt, ließ der Mann ein Rundschreiben an die Klöster des Landes schicken, um sie auf dieses Buch aufmerksam zu machen. Unmittelbar erzählte er auch dem Leiter der Gilde von seiner Entdeckung. Wie erschrocken war er aber, als dieser unmittelbar jeden freundlichen Zug aus seinem Gesicht verlor, mit harter Hand auf den Tisch schlug und rief: Was hast du getan? Schroff wies er ihm einen Stuhl zu, setzte sich ihm gegenüber, sah ihn durchdringend an und sagte scharf und betont langsam: Dieser Mönch ist krank! Als der Mann stotternd zu einer Erwiderung anhob, fuhr der Gildemeister ihm ins Wort: Du kannst nicht das Geringste beurteilen! Was er schreibt, hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun! Es ist abstrakt und weltfremd!

Dann nahm sein Gesicht weichere Züge an, und in ruhigerem Ton fuhr der Gildemeister fort: Ich wünsche mir von dir wirklich mehr Unterscheidungsvermögen. Ich wünsche mir von dir, dass du siehst, dass wir uns in einem Zusammenhang bewegen, in dem jeder auf jeden angewiesen ist. Dieser Mönch schimpft und kritisiert und hat keine Ahnung, denn er hat die Klöster schon seit langer Zeit verlassen. Wir wollen sie fördern. Das hast du zu berücksichtigen, wenn du hier auch künftig arbeiten willst!

Der Mann war von dem „Gespräch“ so eingeschüchtert, dass er sich lange keinen Rat wusste. Ging es hier um Wahrheit – oder um Einschüchterung? Der Mann liebte Wahrhaftigkeit über alles, und nachdem er lange über die Frage meditiert hatte, wusste er, dass er an dem Buch des Mönches kein Wort bezweifelte und zu bezweifeln brauchte – dass jedes Wort wahr war.

Er begann, auf zweierlei Weise zu handeln. In der Gilde arbeitete er weiter tatkräftig für die Förderung der Klöster. Außerhalb seiner Arbeit und Verantwortung für die Gilde arbeitete er dafür, dass das Buch des Mönches bekannt wurde und machte durch Gespräche und kleine Handschriften auf die wirkliche Lage in den Klöstern aufmerksam – zunächst nur im Umkreis der Klöster selbst, später in aller Öffentlichkeit.

Was er entsetzt feststellte, war, dass fast keiner der Mönche in den Klöstern Verständnis für sein Erleben und seine Sorgen aufbrachte. Stattdessen wurde er wütend bekämpft. Die einfachen Mönche nahmen im Grunde keine Notiz von seinen Gedanken, aber die Priore und Bischöfe sandten ihm empörte Nachrichten: Er würde den Ruf der gesamten Klosterbewegung schädigen. Der Gildemeister ließ ihn zu sich rufen und drohte ihm wutentbrannt mit der sofortigen Entlassung aus der Gilde, wenn er seine Agitation fortsetze. Der Mann versuchte, mit ihm zu sprechen, aber es war unmöglich. Über zehn Jahre treuer Arbeit waren wie fortgewischt.

Hasserfüllt blickte der Gildemeister ihn an und zischte mitten in seine Worte: Der Ruf der Klöster und unserer Gilde steht auf dem Spiel! Wir wollen die Klöster unterstützen! Wir wollen von den Bürgern Geld bekommen! Wir können es uns nicht leisten, über die Klöster Schlechtes zu verbreiten. Und wir haben nicht das geringste Recht dazu, uns über die Mönche zu erheben! Der Mann erwiderte ruhig, er könne die gegenwärtige Wirklichkeit in den Klöstern nicht anders erleben, als er es tue, auch wenn er mit der Hoffnung auf die Zukunft – aber in diesem Moment unterbrach ihn der Gildemeister abermals und sagte: Dann hast du die längste Zeit mit uns gearbeitet! In einer Stunde überreiche ich dir dein Entlassungsschreiben.

Nun gab es damals schon eine Gildegerichtsbarkeit. Der Mann rief das Gildegericht an, und es kam zu langwierigen Verhandlungen. Mit Mühe fand der Mann einen Rechtsbeistand, der seinen Fall vertreten wollte, dieser aber übernahm die Aufgabe dann mit Eifer, Fleiß und Leidenschaft. Nach langen Ausführungen beider Seiten verkündete das Gericht, es könne vorläufig zu keinem Urteil kommen. Der weitere Prozess wurde um zwei Wochen vertagt. In dieser Zeit starb der Richter. Schnell war im Volk, das an dem Prozess einen gewissen Anteil nahm, das Gerücht im Umlauf, der Richter sei vergiftet worden, doch natürlich gab es dafür keinerlei Hinweise.

Letztlich dauerte es zwei Monate, bis der Fall wieder aufgenommen wurde. Hatte der Mann bisher geglaubt, er könne weiter innerhalb der Gilde für die Wahrhaftigkeit wirken, so hatte er nach dieser langen Zeit keinen Glauben mehr an diese Möglichkeit. Zwar ging es ihm auch um die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, doch war er nun auch zu einer Einigung bereit. Die übliche Ablöse in solchen Fällen, so wusste es sein Rechtsbeistand, waren sechs Goldgulden. Vor Gericht sah der Gildemeister von oben auf ihn herab und bot zwei Goldgulden. Mit Mühe ließ er sich dann zu drei Goldgulden herbei. Dann aber stellte er als Bedingung einer Einigung, der Mann müsse sich verpflichten, für immer über den Prozess zu schweigen. Spreche er darüber auch nur ein Wort, müsse er für jedes Vergehen ein Goldgulden zahlen. Schweren Herzens erklärte sich der Mann dazu bereit. Die Gilde war für ihn ohnehin gestorben.

Dann aber kam die Frage an das Zeugnis, was ihm zustand. Der Gildemeister hatte ihm ein simples, ja schlechtes Zeugnis ausgestellt, das in keinster Weise den wirklichen Wert seiner zwölfjährigen Arbeit wiedergab. Sein Beistand erbat vom Gericht nun eine neue, wahre und ausführliche Fassung. Als der Gildemeister Einspruch erhob und nun Satz für Satz dieser Fassung korrigieren und streichen wollte, ergriff der Beistand des Mannes mit ruhiger, aber kräftiger Stimme das Wort und sagte: Geehrter Meister der Gilde, Ihnen ist offenbar nicht klar, wie sehr wir Ihnen bereits entgegengekommen sind! Wenn Sie nun nicht wenigstens dieses Zeugnis zugestehen, dann werden wir das Gericht bitten, stattdessen zu einem Urteil zu kommen.

Hochmütig blickte der Gildemeister hinüber und sagte, sich seiner Sache sicher: Ich muss das Zeugnis doch wohl unterschreiben können, oder? So kann ich es nicht. Daraufhin wandte sich der Beistand des Mannes an das Gericht und sprach: Hohes Gericht, es tut mir leid, aber eine Einigung scheint nicht möglich, wir bitten also um Euer Urteil!

Der Richter blickte lange von einer Seite zur anderen, dann erhob er die Stimme. Sicher – so sagte er – hat dieser Mann zwar nicht das Recht auf ein von ihm oder seinem Beistand formulierten Zeugnis. Aber in der Tat waren diese beiden sehr um eine Einigung bemüht und sind Ihnen – damit wandte er sich an den Gildemeister – weit entgegengekommen. Was nun die Frage der Entlassung angeht, so bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dem Manne kein gildewidriges Verhalten vorzuwerfen ist. Während seiner Arbeit für die Gilde ist er seinen Verpflichtungen stets nachgekommen. – Aber hohes Gericht!, wandte der Gildemeister bestürzt ein, er schädigt den Ruf der Gilde und der Klöster! Ein solcher Mann kann nicht länger für die Gilde tätig sein!

Der Richter blickte den Gildemeister streng an, gebot ihm, zu schweigen, und antwortete: Die Frage, die diesen Mann beschäftigt, ist nicht eine Frage der Gilde! Welcher Art das religiöse Leben in den Klöstern ist und wie es zu beurteilen ist, ist nicht eine Sache dieses Gerichtes. Darüber mag es sehr verschiedene Auffassungen geben. Auch ist die Gilde selbst nicht Teil der Klöster, und darum muss dieser Mann dir, Gildemeister, in Glaubens- und Auffassungsfragen nicht wortwörtlich folgen. Ich wiederhole: In seiner Tätigkeit für die Gilde hat er sich nichts zuschulden kommen lassen.

Mühsam seinen Zorn unterdrückend, sprach der Gildemeister: Das oberste Gericht wird diese Frage ganz bestimmt anders sehen! Ruhig erwiderte der Richter: Das mag sein. Ich sehe sie so, wie ich eben gesagt habe, und gebe diesem Manne recht. Seine Entlassung erkläre ich hiermit für unwirksam!

Die Gerichtsgehilfen wiesen alle Anwesenden an aufzustehen. Man verneigte sich vor dem Richter, und dieser verließ den Raum. Ohne ein Wort verließ auch der Gildemeister mit eiserner Miene das Gericht. Der Mann dankte seinem Beistand von Herzen, verabschiedete sich von ihm und ging tief in Gedanken versunken nach Hause.

Wie erwartet, rief der Gildemeister das oberste Gericht des Landes für den Fall an. Wider dessen Erwarten entschied aber auch dieses im Sinne des Mannes, womit die Freiheit des Gedankens zumindest außerhalb der Klöster und außerhalb der konkreten Tätigkeit für die Gilde bekräftigt war. Der Gildemeister aber, der den Mann nicht eine Minute lang wieder in die Gilde aufnehmen wollte, musste ihm nunmehr auf der Grundlage eines vom Gericht angeordneten Trennungsvertrages acht Goldgulden zahlen.

Der Mann fuhr fort, über die wirkliche Situation in den Klöstern zu sprechen. Nach und nach sandten ihm einzelne Mönche Nachricht, die von ihm und dem alten Mönch und seinem Buch gehört hatten, und nach dreieinhalb Jahren gab es ein kleines Konzil all jener Mönche, die die Keime einer wahrhaftig religiösen, neuen Klosterbewegung legen wollten. Es wurde ein neues Kloster erbaut, dessen Ruf bald über die Landesgrenzen hinaus erklang und das den Grundstein zu einer neuen, tiefen Religiosität legte, welche nach und nach auch von großen Teilen des einfachen Volkes aufgenommen wurde, als hätten die Seelen der Menschen sehnsüchtig auf diesen Augenblick gewartet.