2010-03-23_Schieren
Bewusstseinsethische Aufgabe
aus: Das Goetheanum Nr. 12 vom 19.03.2010, S. 7-9.
Jost Schieren wurde 2008 an der Alanus-Hochschule zum weltweit ersten Professor für Waldorfpädagogik ernannt ("Goetheanum" Nr. 24/2008). Der Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaft war selbst zehn Jahre als Deutschlehrer an der Dortmunder Rudolf-Steiner-Schule. Er sieht die Waldorfpädagogik vor der Herausforderung, sich in einem wissenschaftlichen Kontext bewähren zu müssen.
Vom Bahnhof in Alfter führt eine Straße in leichten Kurven zur Alanus-Hochschule, genauer: zu ihrem bereits zweiten Standort. Ihr traditioneller Kern liegt weiter oben auf dem Höhenzug des Vorgebirges. Der neue Standort ist ein Neubaukomplex: Betonwürfel, modern-sachlich, aber auch holzverschalt, prägen den Campus II. In einem dieser Würfel treffe ich Jost Schieren zum Gespräch über Wissenschaftlichkeit und Anthroposophie.
Freundlich und offen begrüßt er mich in seinem Büro im zweiten Stock, das karg eingerichtet aussieht. Er sei erst vor Kurzem eingezogen und es seien noch nicht alle Möbel da, entschuldigt er sich. Mit Blick auf begrünte Dächer beginnen wir das Gespräch mit einer These.
Freier Denkvollzug statt Offenbarung
Sebastian Jüngel: Stimmt es, dass die Wissenschaft gewöhnlicherweise Objekte und Sachverhalte anschaut, die Anthroposophie als Geisteswissenschaft dagegen Wesen und Beziehungen?
Jost Schieren: Eine solche Gegenüberstellung greift zu kurz. Denn auch die Erziehungswissenschaften befassen sich mit Beziehungsvorgängen. Das Besondere der Anthroposophie als einer Wissenschaft liegt aus meiner Sicht in zwei Aspekten: Erstens: Der Kern der Anthroposophie liegt darin, dass sie – kurz gesagt – eine Wissenschaft vom freien Menschen ist. Rudolf Steiner hat in seinem erkenntniswissenschaftlichen Frühwerk die Bedingungen der Freiheitsfähigkeit des Menschen auf Grundlage des autonomen Denkwillens herausgearbeitet. Der zweite Aspekt betrifft den Umgang mit Spiritualität. Der Geistbegriff Steiners zielt auf den Bereich einer autonomen Gesetzmäßigkeit, die in sich selbst begründet ist. Diese ist in früheren Kulturen als Offenbarung verstanden worden. Das Radikale des Steiner'schen Geistverständnisses liegt nun darin, dass das Geistige allein in und durch den freien Denkvollzug des modernen Menschen erscheint. Das nennt Steiner Intuition.
Was bedeutet dies für die Anthroposophie als Wissenschaft?
Steiner hat die Anthroposophie immer als Geisteswissenschaft bezeichnet. Das war ja keine bloße Vokabel, sondern gehörte zu Steiners Konzept von Anthroposophie hinzu. Er strebte selbst mit seiner Dissertation ein akademisches Wirken an, was ihm aber nicht gelungen ist. Daraufhin suchte er Anschluss an literarische Kreise, an das Umfeld der Arbeiterbildungsschule und dann an die Theosophen. Damit hat das Ganze eine andere Wendung genommen und die wissenschaftliche Verortung der Anthroposophie steht noch aus.
Akademiefern etabliert
Die Anthroposophie ist durch eine wohl wachsende Anzahl von Dissertationen und über einzelne Lehrstühle Gegenstand der Forschung. Dennoch ist sie im akademischen Bereich eher eine Randerscheinung.
Das hängt vor allein damit zusammen, wie bislang der Wissenschaftsansatz Rudolf Steiners rezipiert worden ist. Man muss Folgendes bedenken: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Anthroposophie von Steiner entwickelt wurde, hatten wir ein weitgehend unangefochtenes materialistisches und positivistisches Wissenschaftsparadigma, welches die gesamte geistige Kultur der deutschen Klassik, der Romantik und auch des Idealismus recht aggressiv bekämpft hat. Unsere gesamte technische und materialistische Zivilisation nahm ja dort ihren Anfang. Was damals gedacht wurde, wird heute gelebt.
Gegen diese einseitig materialistische Wissenschaft hat sich Steiner zu Recht gewehrt. Das ist der Grund dafür, dass Steiners Texte oft polemisch und scharf wirken. Es war ein Geisteskampf, und der wird in der Regel mit harten Bandagen geführt.
Nun kommt jedoch hinzu, dass man mündlich direkter und undifferenzierter formuliert als schriftlich. Durch die Herausgabe der Vorträge wurde Steiners Wissenschaftskritik überliefert. Dies wurde als Steiners Gesinnung rezipiert, hat sich bei den Anthroposophen habitualisiert und hat dazu geführt, dass sich die Anthroposophie außerhalb der Universitäten akademiefern etabliert hat. Die wissenschaftlichen und auch die gesellschaftlichen Paradigmen haben sich aber inzwischen geändert. Es geht heute vielmehr um Methodentransparenz, Diskursoffenheit, Hierarchiefreiheit und Pluralität. Es macht daher keinen Sinn, die Wissenschaft wie noch zu Steiners Zeiten zu diffamieren.
Und es kommt noch eine weitere rezeptionsideologische Problematik hinzu: Steiner wurde von den frühen Anthroposophen oft als <Menschheitsführer>, und <Lichtbringer> glorifiziert. Dabei wurde die eigene Rezeption der Anthroposophie zugleich mit der Anthroposophie identifiziert. jede andere, im Diskurs grundsätzlich mögliche Sicht wurde als Gegnerschaft diskreditiert. Dass Steiner auch Thesen aufgestellt, Meinungen geäußert, Sichtweisen dargestellt hat, wurde übersehen. Jede seiner Äußerungen wurde als verkündete Wahrheit aufgefasst. Das widerspricht aber einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die immer dialogoffen und mehrperspektivisch argumentiert, und führt in der Folge zu der nur allzu bekannten unkritisch dogmatischen Vertretung der Anthroposophie.
Dem Pluralismus verpflichtet
Was heißt das für Ihre Arbeit an der Alanus-Hochschule?
Wir begreifen die Alanus-Hochschule als einen Ort, wo sich die Studierenden mit den unterschiedlichsten künstlerischen und wissenschaftlichen Ansichten und Positionen auseinandersetzen können und auch müssen. Wir sind keine anthroposophische Hochschule, sondern eine Hochschule, in der man sich mit Anthroposophie auseinandersetzen kann. Wir wollen uns als Institution plural aufstellen, was nicht heißt, dass die einzelnen Lehrenden keine klare Position beziehen. Hier treten dann natürlicherweise Divergenzen und Diskurse auf, mit denen die Studierenden umzugehen lernen.
Dies gilt auch für die Waldorfpädagogik. Sie wird im Kontext anderer pädagogischer Ansätze behandelt. Dies ist auch nötig, denn die Anthroposophie und mit ihr die Waldorfpädagogik sind keine solitären Erscheinungen, sondern sie stehen in einem breit vernetzten geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext. Es ist ja geradezu ein Merkmal der Arbeit Rudolf Steiners, dass er immer wieder die unterschiedlichsten Anknüpfungen gesucht hat. Ich betrachte die abgegrenzte und zum Teil isolierte Verortung der Anthroposophie in der Gegenwart als rezeptionsgeschichtliches Phänomen, und zwar mehr noch auf Seiten der Anthroposophen als auf Seiten der Gegenwartskultur.
Bedeutet das nicht eine Relativierung der Anthroposophie als zentralem Kulturimpuls?
Ich betrachte die Auseinandersetzung mit einem Menschen- und Weltbild, das Ringen um eine Weltanschauung, als Teil unseres Menschseins. Es geht nicht in erster Linie darum, eine Weltanschauung zu haben und zu vertreten. Der philosophische Zweifel ist Ausdruck der Freiheit und Eigenständigkeit des Menschen. Es gibt keinen Ausbildungsweg zur Anthroposophie. Und ob etwas ein <zentraler Kulturimpuls> ist oder nicht, das zu entscheiden möge man der Geschichte überlassen.
Gnade spiegelt sich in Bescheidenheit
Was ist aber das Spezifische des anthroposophischen Ansatzes?
Anthroposophie als Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Mein Doktorvater Klaus Michael Meyer-Abich zitiert in einem seiner Bücher den Philosophen und Pädagogen Georg Picht, der sinngemäß, bezogen auf die Naturwissenschaft, sagt: Eine Wissenschaft, die das Objekt ihrer Forschung zerstört, muss sich selbst infrage stellen lassen. Gegenüber diesem Wissenschaftverständnis, welches dazu geführt hat, dass wir zivilisatorisch den Bezug zur Natur und auch zu einem angemessenen Verstehen des Menschen verloren haben, bilden die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik ein Korrektiv, weil sie vom Menschen ausgehen.
Sie haben die Kompatibilität der Anthroposophie mit der heutigen Wissenschaft betont. Wie sieht es beispielsweise mit dem Aspekt der <Gnade> bei höheren Erkenntnisstufen aus, den Rudolf Steiner vielfach anführt? Diesen Begriff kann man in der Wissenschaft auch heute nicht heranziehen.
Das sehe ich anders: Zum wissenschaftlichen Ethos gehört eine strenge Disziplin in der Urteilsbildung und die Bereitschaft, die eigenen Thesen und Ergebnisse immer wieder neu infrage zu stellen. Für eine gute wissenschaftliche Leistung braucht es Selbstlosigkeit, Hingabe, Ausdauer und – das weiß jeder Wissenschaftler – den rechten Moment. Das erinnert schon etwas an den Begriff der Gnade. Jede wirkliche Einsicht macht uns bescheiden. Das mag daran liegen, dass echte Einsichten eben nicht <von unten nach oben> erzwungen werden können, sondern dass sie sich <einstellen>.
Selbstgebung der Person im Zentrum
Und wie sehen Sie das beim für die Anthroposophie zentralen Begriff des <Wesens>, sagen wir beispielsweise von Elementarwesen?
Ich habe das Gefühl, Sie lassen nicht locker. Auch hier ist es zunächst einmal wichtig zu klären, was gemeint ist. Manche Begriffe geisteswissenschaftlicher Art haben uns eine falsche Fährte einschlagen lassen. Was sind denn Elementarwesen? Oft kursieren Bilder von kleinen zwergenartigen Gestalten. Das sind Kinderbilder.
Der Ansatz Steiners ist der, dass er sagt, in der Natur liegen Gestaltungen vor. Also ist es nicht grundsätzlich falsch, davon auszugehen, dass es auch Gestaltungskräfte gibt. Es wäre ja auch sehr einseitig, würde man bei einem Gemälde von Picasso davon ausgehen, als hätten sich – vielleicht aufgrund einer Erschütterung – die Farben von selbst auf dem Blatt ausgegossen. Nein, auch hier geht man davon aus, dass es eine gestaltende, Instanz gibt. Ähnlich geht die Anthroposophie von in der Erscheinungswelt wirksamen formativen Kräften aus, die als solche naturwissenschaftlich-phänomenologisch untersucht werden können. Aber das ist nicht mein Gebiet.
Nehmen wir ein weiteres Beispiel aus Ihrem Fachgebiet, die Reinkarnation.
Nun, entscheidend für jede Pädagogik sind die Menschen, die Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten. Allein deshalb ist es für einen Pädagogen wichtig, sich zu vergewissern, welches Menschenverständnis er hat. Hat er ein eher deterministisches Menschenbild, wie es beispielsweise durch den Behaviorismus oder auch durch weite Teile der Gehirnforschung etabliert worden ist? Oder haben wir ein Menschenbild, welches einen freien Persönlichkeitskern zugesteht? Dann hat man es mit unterschiedlichen Persönlichkeitstheorien zu tun.
Um es kurz zu sagen: Der Begriff der Reinkarnation, wie ihn Steiner entwickelt hat, bietet aus meiner Sicht einen persönlichkeitstheoretischen Ansatz, der es möglich macht, die Autonomie des Menschseins konsequent zu Ende zu denken. Dieser Aspekt macht die Reinkarnationsidee interessant. Damit sage ich nicht, dass es Reinkarnation gibt. Ich sage nur, dass Reinkarnation ein Erklärungsmodell ist, das einen Vorteil hat gegenüber vielen anderen Erklärungsmodellen, weil die Selbstgebung der Person im Zentrum bleibt. Dass es andere Meinungen und auch Opposition gibt, gehört zur Wissenschaft.
Reinkarnation wäre nur ein Modell, keine Wirklichkeit?
Vorsicht. Ich habe nicht gesagt, dass Reinkarnation nur ein Modell ist. Ich habe gesagt, dass ich mit dem Begriff der Reinkarnation wissenschaftsmethodisch nur in Form eines Modells oder einer Theorie umgehen kann. Sollten Sie oder andere dies als eine Realität erfahren, so bleibt Ihnen das unbenommen.
Aber wie wird das Wissenschaft?
Ihre Frage impliziert, in der Wissenschaft ginge es allein darum, letztgültige Beweise für etwas zu liefern. Das ist nicht immer der Fall, daher spricht ja auch Karl Popper von der Falsifikation als einer wissenschaftlichen Kategorie. Neben der Aufgabe, Erkenntnissicherheit zu gewährleisten, definiert die Wissenschaft auch eine moderne Bewusstseinsform, die sich darum bemüht, Forschung nachvollziehbar, methodisch reflektiert und selbstkritisch zu betreiben. Diese bewusstseinsethische Funktion von Wissenschaft ist unter anderem von Johann Wolfgang Goethe beschrieben worden.
Achtung vor dem Geheimnis
Wie kann ein Pädagoge ohne eigene Reinkarnationsforschung Kinder verstehen?
Vieles, was mir bisher als sogenannte Reinkarnationsforschung begegnet ist, betrachte ich als Vermessenheit, die der Persönlichkeit des anderen Menschen nicht gerecht wird. Nochmals: Als Pädagoge habe ich es vor allem mit der Persönlichkeit des Kindes und Jugendlichen zu tun, die noch gar nicht vollständig ausgebildet ist.
Wir stehen ja, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, vor einem großen Geheimnis, das Geheimnis des menschlichen Ich. Und es gibt eine Achtung vor dem Geheimnis. Auch wenn Rudolf Steiner manches Geheimnis gelüftet hat, bedeutet dies nicht, dass wir damit einfach umgehen können. Auch dies ist eine wissenschaftliche Haltung.