Harmonie in der Schule
Bruderschaft und Daseinskampf
Rudolf Steiner: Bruderschaft und Daseinskampf. Vortrag vom 23.11.1905 in Berlin, GA 54, S. 179ff. | Hervorhebungen und Zwischenüberschriften ergänzt.
Inhalt
Irrtümer über den Daseinskampf
Das germanische Gemeinwesen...
...und die mittelalterliche Städtekultur
Egoismus und Bruderliebe
Der Geist einer Gemeinschaft
Den Krieg ersetzen durch das Ideal
...dann wird Bruderschaft eine Tatsache
Irrtümer über den Daseinskampf
[...] Der geisteswissenschaftlich Strebende ist überzeugt, und nicht nur überzeugt, sondern sich ganz klar darüber, daß die tiefe Erkenntnis, die Erkenntnis der geistigen Welt, wenn sie wahrhaft und wirklich den Menschen ergreift, zur Bruderschaft führen muß, daß die edelste Frucht tiefer, innerster Erkenntnis eben diese Bruderschaft ist. [...]
Mit gewissen wirtschaftlichen Anschauungen, die seit langem herrschen, hängt es zusammen, daß man in dem Kampfe aller gegen alle in der allgemeinen Konkurrenz einen mächtigen Hebel des Fortschritts sieht. Wie oft wurde gesagt, daß dadurch die Menschheit am besten vorwärtsschreiten könne, daß der einzelne sich selbst, so gut es geht, nützt und sich zur Geltung bringt. Das Wort Individualismus ist geradezu zu einem Schlagwort geworden, freilich mehr auf dem Gebiete des äußeren materiellen Lebens, aber auch nicht ohne Gültigkeit auf dem Gebiete inneren geistigen Lebens.
Daß der Mensch seinen Mitmenschen am meisten nütze, wenn er so viel wie möglich wirtschaftlich aus dem Leben herausschlägt, denn dadurch, daß er wirtschaftlich stark wird, kann er auch der Allgemeinheit mehr nützen: das ist das Glaubensbekenntnis vieler Nationalökonomen und Soziologen. [...]
Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung verkennt nicht die Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein, gerade in unserer Zeit, aber gleichzeitig ist sich diese Weltanschauung auch klar darüber, daß heute, wo dieser Kampf ums Dasein die mächtigsten Wogen schlägt, das Prinzip der Bruderschaft in seiner tiefen Bedeutung dem Verständnis wieder nähergebracht werden muß.
Die wichtigste Frage wird diese sein: Ist es denn richtig, was von so vielen geglaubt wird, daß des Menschen Kräfte vorzüglich am Widerstand wachsen, daß es vor allen Dingen der Kampf ist, den der Mensch zu führen hat, welcher ihn groß und stark gemacht hat? [...]
Der Naturforscher Huxley sagt: Wenn wir das Leben draußen ansehen, erscheint es uns wie ein Gladiatorenkampf, der Stärkste bleibt Sieger, die andern gehen zugrunde. – Wenn man den Naturforschern glauben würde, müßte man annehmen, daß alle die Wesen, welche heute die Welt bevölkern, in der Lage gewesen sind, die andern, die noch früher da waren, aus dem Felde zu schlagen. Es gibt auch eine Soziologenschule, welche aus diesem Prinzip des Kampfes ums Dasein heraus geradezu eine Entwickelungslehre für die Menschheit hat machen wollen. [...] Wir fragen uns nun, was zeigt sich uns, wenn wir das menschliche Leben betrachten? Hat in der Entwickelung der Menschheit das Prinzip der Bruderschaft oder das Prinzip des Daseinskampfes Großes geleistet, oder haben sie beide etwas zu der Entwickelung der Menschheit beigetragen? [...]
Das germanische Gemeinwesen...
Wir brauchen uns nur die eigenen Vorfahren auf demselben Boden, auf dem wir heute leben, einmal anzuschauen. Man kann leicht die Vorstellung bekommen, als ob Jagd und Krieg das eigentlich Fördernde gewesen wäre und hauptsächlich den Charakter jener Menschen bedingt habe. Wer aber tiefer auf die Geschichte eingeht, wird finden, daß dies nicht richtig ist, daß gerade diejenigen, auch unter den germanischen Stämmen, am besten gediehen sind, welche das Prinzip der Bruderschaft in außerordentlicher Weise ausgebildet hatten. Wir finden dieses Prinzip der Bruderschaft vor allen Dingen in der Art und Weise ausgebildet, wie in den Zeiten vor und nach der Völkerwanderung der Besitz geregelt war. In ausgedehntestem Maße gab es da einen Gemeinbesitz an Grund und Boden. [...] Von Zeit zu Zeit wurde der Grund und Boden von neuem wieder unter den Menschen aufgeteilt, und es zeigte sich, daß diese Stämme dadurch stark geworden waren, daß sie die Bruderschaft in bezug auf materielle Guter bis zu einer außerordentlichen Höhe getrieben hatten. [...]
...und die mittelalterliche Städtekultur
Als mit diesem Prinzip gebrochen worden war infolge verschiedener Verhältnisse, namentlich weil einzelne sich Großgrundbesitz angeeignet hatten und die Menschen in der umliegenden Gegend dadurch zur Leibeigenschaft und zu Frondiensten gezwungen waren, da machte sich das Prinzip der Bruderschaft in einer andern, leuchtenden Weise geltend. Die, welche bedrückt waren von den Herren, den Besitzenden, wollten sich von ihrem Druck freimachen. So sehen wir in der Mitte des Mittelalters eine große, gewaltige Freiheitsbewegung durch ganz Europa gehen. Diese Freiheitsbewegung stand im Zeichen der allgemeinen Bruderschaft, aus der eine allgemeine Kultur hervorblühte.
Wir sind in der sogenannten Städtekultur in der Mitte des Mittelalters. Diejenigen Menschen, welche es nicht aushalten konnten unter der Fronarbeit auf den Gütern, entflohen ihren Herren und suchten ihre Freiheit in den erweiterten Städten. Da kamen die Menschen von oben herunter, von Schottland, Frankreich und Rußland, von allen Seiten her kamen sie und brachten die freien Städte zusammen. Dadurch entwickelte sich das Prinzip der Bruderschaft, und in der Art, die es sich betätigte, wurde es im höchsten Maße kulturfördernd. Diejenigen, welche gemeinschaftliche, gleichartige Beschäftigungen hatten, schlossen sich zu Vereinigungen zusammen, die man Schwurbruderschaften nannte und die später zu den Gilden auswuchsen.
Diese Schwurbruderschaften waren weit mehr als bloße Vereinigungen der gewerblichen oder handeltreibenden Menschen. Sie entwickelten sich aus dem praktischen Leben heraus zu einer moralischen Höhe. Das gegenseitige Sich-Beistehen, die gegenseitige Hilfeleistung war in hohem Maße bei diesen Bruderschaften ausgebildet, und viele Dinge, um die sich heute fast niemand mehr kümmert, waren Gegenstand solchen Beistandes. So leisteten sich zum Beispiel die Angehörigen einer solchen Bruderschaft in der Weise Hilfe, daß sie sich in Krankheitsfällen unterstützten. Es wurden von Tag zu Tag zwei Brüder bestimmt, die am Bette eines kranken Bruders Wache halten mußten. Es wurden die Kranken mit Nahrungsmitteln unterstützt, ja es wurde selbst über den Tod hinaus brüderlich gedacht, indem es als ganz besonders ehrenvoll galt, den zur Bruderschaft Gehörigen in entsprechender Weise zu begraben. Endlich gehörte es auch zur Ehre der Schwurbruderschaft, die Witwen und Waisen zu versorgen. Daraus sehen Sie, wie ein Verständnis für die Moral im Gemeinschaftsleben erwuchs, wie sich diese Moral auf dem Grunde eines Bewußtseins bildete, von dem sich der heutige Mensch schwer eine Vorstellung machen kann.
Glauben Sie nicht, daß hier in irgendeiner Weise die gegenwärtigen Verhältnisse getadelt werden sollen. Sie sind notwendig geworden, so wie es auch nötig gewesen ist, daß die mittelalterlichen Verhältnisse in ihrer Art zum Ausdrucke gekommen sind. Verstehen müssen wir nur, daß es auch andere Phasen der Entwickelung gab als die heutige. [...]
Wenn von den umliegenden Ländereien Produkte in eine Stadt gebracht wurden, so war es streng verboten, daß sie in den ersten Tagen anders als im Kleinverkauf abgesetzt wurden. Niemand durfte im großen kaufen und Zwischenhändler werden. Niemals war damals daran gedacht worden, daß der Preis durch Angebot und Nachfrage geregelt werden sollte. Man verstand damals beides zu regulieren. Die Gruppen in den Städten oder die Gilden mußten den Mitgliedern, welche nach Darlegung dessen, was erforderlich war, um Waren herzustellen, um Produzent zu werden, aufgenommen worden waren, den Preis für diese Produkte feststellen. Niemand durfte den Preis überschreiten. Wenn wir selbst über die Arbeitsverhältnisse ein wenig Umschau halten, dann sehen wir, wie ein gründliches Verständnis vorhanden war für das, was ein Mensch nötig hatte. Wenn wir die Arbeitslöhne der damaligen Zeit unter Berücksichtigung der ganz andern Verhältnisse betrachten, so müssen wir uns sagen, wie damals ein Arbeiter entlohnt war, das hält keinen Vergleich aus mit der Entlohnung von heute. [...]
Sehen Sie sich ferner an, was in den Städten unter den Einflüssen dieses Prinzips entstanden ist, zum Beispiel wie Buchdruckerkunst, Kupferdruck, Papierbereitung, Uhrmacherkunst und die später erscheinenden Erfindungen sich unter dem freien Prinzip der Bruderschaft vorbereiteten. Was wir das Bürgertum zu nennen gewohnt sind, geht aus der Pflege des Bruderschaftsprinzips in den mittelalterlichen Städten hervor. Vieles, was durch die wissenschaftliche und künstlerische Vertiefung hervorgebracht worden ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Pflege dieses Bruderschaftsprinzips. Wenn ein Dom gebaut werden sollte, nehmen wir den Kölner Dom oder irgendeinen andern, dann sehen wir, daß sich zunächst eine Vereinigung bildete, eine sogenannte Baugilde, wodurch ein entschiedenes Zusammenwirken der Mitglieder einer solchen Gilde entstand. Man kann, wenn man einen intuitiven Blick dafür hat, sogar in dem Baustil dieses Bruderschaftsprinzip zum Ausdruck gebracht sehen, man kann es zum Ausdruck gebracht sehen fast in jeder mittelalterlichen Stadt, und Sie finden es überall, ob Sie nach dem Norden von Schottland oder nach Venedig gehen, ob Sie sich russische oder polnische Städte ansehen. [...]
Dazumal, in der Mitte des Mittelalters, bestand eine Harmonie zwischen dem, was man als sein Ideal fühlte und dem, was man wirklich tat, und wenn je einmal gezeigt worden ist, daß man Idealist und Praktiker zugleich sein kann, so ist das im Mittelalter der Fall gewesen. [...]
Derjenige, der aus seiner Gilde heraus, mit den andern zwölf Schöffen zusammen zu Gericht saß über irgendein Vergehen, das ein Mitglied der Gilde begangen hatte, er war der Bruder dessen, der gerichtet werden sollte. Leben verband sich mit Leben. Jeder wußte, was der andere arbeitete, und jeder versuchte zu begreifen, warum er einmal abweichen konnte von dem richtigen Wege. Man sah gleichsam in den Bruder hinein und wollte in ihn hineinsehen.
Jetzt hat sich eine Jurisprudenz herausgebildet der Art, daß den Richter und den Anwalt nur das Gesetzbuch interessiert, daß beide nur einen „Fall“ sehen, auf den sie das Gesetz anzuwenden haben. Betrachten Sie nur, wie alles, was moralisch gedacht ist, von der Rechtswissenschaft losgelöst ist. Diesen Zustand haben wir immer mehr im letzten Jahrhundert sich entwickeln sehen, während im Mittelalter unter dem Prinzip der Bruderschaft sich etwas herausgebildet hatte, was notwendig und wichtig ist für jeden gedeihlichen Fortschritt: Sachverständigkeit und Vertrauen, die heute als Prinzip immer mehr in Fortfall kommen. Das Urteil des Sachverständigen ist heute fast ganz zurückgetreten gegenüber der abstrakten Jurisprudenz, gegenüber dem abstrakten Parlamentarismus. [...]
Egoismus und Bruderliebe
Der Daseinskampf hat seine Berechtigung im Leben. Dadurch, daß der Mensch ein Sonderwesen ist, daß er als einzelner seinen Weg durch das Leben gehen muß, ist er auf diesen Daseinskampf angewiesen. In gewisser Beziehung gilt auch hier das Wort Rückerts: Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten. – Machen wir uns nicht fähig, unseren Mitmenschen zu helfen, so werden wir ihnen auch schlecht helfen können. Sehen wir nicht zu, daß alle unsere Anlagen ausgebildet werden, so werden wir auch nur geringen Erfolg haben, unseren Brüdern zu helfen. Um diese Anlagen zur Entwickelung zu bringen, muß ein gewisser Egoismus vorhanden sein, denn Initiative hängt mit Egoismus zusammen. [...] Nur dann wird aber dieses Prinzip die richtigen Früchte tragen, wenn es gepaart ist mit dem Prinzip der Bruderliebe.
Ich habe gerade aus diesem Grunde die freien Städtegilden des Mittelalters als praktisches Beispiel angeführt, um zu zeigen, wie das Praktische gerade unter dem Prinzip der gegenseitigen persönlichen, individuellen Hilfeleistung so stark geworden ist. Woraus haben sie die Stärke gesogen? Daraus, daß sie mit ihren Mitmenschen in Bruderschaft gelebt haben. Recht ist es, sich so stark wie möglich zu machen. Aber die Frage ist, ob wir überhaupt stark werden können ohne die Bruderliebe. Diese Frage muß derjenige, der sich zu einer wirklichen Seelenkenntnis aufschwingt, mit einem entschiedenen Nein beantworten.
Der Geist einer Gemeinschaft
Wir sehen in der ganzen Natur Vorbilder des Zusammenwirkens von Einzelwesen in einem Ganzen. Nehmen Sie bloß den menschlichen Körper. [...] Die Seele sieht mit den Zellen des Auges, denkt mit den Zellen des Gehirns, lebt mit den Zellen des Blutes. Da sehen wir, was Vereinigung bedeutet. Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, daß ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. Das ist ein allgemeines Prinzip in allem Leben. Fünf Menschen, die zusammen sind, harmonisch miteinander denken und fühlen, sind mehr als 1 + 1 + 1 + 1 + 1 sie sind nicht bloß die Summe aus den fünf, ebensowenig wie unser Körper die Summe aus den fünf Sinnen ist, sondern das Zusammenleben, das Ineinanderleben der Menschen bedeutet etwas ganz Ähnliches, wie das Ineinanderleben der Zellen des menschlichen Körpers. Eine neue, höhere Wesenheit ist mitten unter den fünfen, ja schon unter zweien oder dreien. „Wo zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Es ist nicht der eine und der andere und der dritte, sondern etwas ganz Neues, was durch die Vereinigung entsteht. Aber es entsteht nur, wenn der einzelne in dem andern lebt, wenn der einzelne seine Kraft nicht bloß aus sich selbst, sondern auch aus den andern schöpft. Das kann aber nur geschehen, wenn er selbstlos in dem andern lebt. So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt. [...]
Daher spricht der Geisteswissenschafter nicht bloß von abstrakten Dingen, wenn er von dem Volksgeist oder von der Volksseele oder von dem Familiengeist oder von dem Geiste einer andern Gemeinschaft spricht. Sehen kann man diesen Geist nicht, der in einer Vereinigung wirkt, aber da ist er, und er ist da durch die Bruderliebe der in dieser Vereinigung wirkenden Persönlichkeiten. Wie der Körper eine Seele hat, so hat eine Gilde, eine Bruderschaft auch eine Seele, und ich wiederhole noch einmal, es ist das nicht bloß bildlich gesprochen, sondern als volle Wirklichkeit zu nehmen. [...]
Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken. [...] Der Zukunft obliegt es, wieder Bruderschaften zu begründen, und zwar aus dem Geistigen, aus den höchsten Idealen der Seele heraus. [...]
Den Krieg ersetzen durch das Ideal
Wir müssen lernen, den Kampf durch positive Arbeit zu ersetzen, den Kampf, den Krieg zu ersetzen durch das Ideal. Man versteht heute nur noch zu wenig, was das heißt. Man weiß nicht, von welchem Kampf man spricht, denn man spricht im Leben überhaupt nur noch von Kämpfen. Da haben wir den sozialen Kampf, den Kampf um den Frieden, den Kampf um die Emanzipation der Frau, den Kampf um Grund und Boden und so weiter, überall, wohin wir blicken, sehen wir Kampf.
Die geisteswissenschaftliche Weltanschauung strebt nun dahin, an die Stelle dieses Kampfes die positive Arbeit zu setzen. Derjenige, der sich eingelebt hatte in diese Weltanschauung, der weiß, daß das Kämpfen auf keinem Gebiete des Lebens zu einem wirklichen Resultate führt. Suchen Sie das, was sich in Ihrer Erfahrung und vor Ihrer Erkenntnis als das Richtige erweist, in das Leben einzuführen, es geltend zu machen, ohne den Gegner zu bekämpfen. Es kann natürlich nur ein Ideal sein, aber es muß ein solches Ideal vorhanden sein, das heute als geisteswissenschaftlicher Grundsatz in das Leben einzuführen ist. Menschen, die sich an Menschen schließen und die ihre Kraft für alle einsetzen, das sind diejenigen, welche die Grundlage abgeben für eine gedeihliche Entwickelung in die Zukunft hinein. [...]
Derjenige wirkt am besten, der nicht seine Meinung durchsetzen will, sondern das, was er seinen Mitbrüdern an den Augen ansieht; der in den Gedanken und Gefühlen der Mitmenschen forscht und sich zu deren Diener macht. Der wirkt am besten innerhalb dieses Kreises, der im praktischen Leben durchführen kann, die eigene Meinung nicht zu schonen. Wenn wir in dieser Weise zu verstehen suchen, daß unsere besten Kräfte aus der Vereinigung entspringen und daß die Vereinigung nicht bloß als abstrakter Grundsatz festzuhalten, sondern vor allen Dingen in theosophischer Weise bei jedem Handgriffe, in jedem Augenblicke des Lebens zu betätigen ist, dann werden wir vorwärtskommen. [...]
Man nennt heute noch die Theosophen unpraktische Idealisten. Es wird nicht lange dauern, so werden sie sich als die Praktischsten erweisen, weil sie mit den Kräften des Lebens rechnen. Niemand wird daran zweifeln, daß man einen Menschen verletzt, wenn man ihm einen Stein an den Kopf wirft. Daß es aber viel schlimmer ist, dem Menschen ein Haßgefühl zuzusenden, das die Seele des Menschen viel mehr verletzt als der Stein den Körper, das wird nicht bedacht. Es kommt ganz darauf an, in welcher Gesinnung wir den Mitmenschen gegenüberstehen. Es hängt aber auch gerade davon unsere Kraft für ein gedeihliches Wirken in der Zukunft ab. Wenn wir uns bemühen, so in Bruderschaft zu leben, dann führen wir das Prinzip der Bruderschaft praktisch aus.
Tolerant sein, heißt in geisteswissenschaftlichem Sinne noch etwas anderes, als was man gewöhnlich darunter versteht. Es heißt, auch die Freiheit des Gedankens der andern zu achten. Einen andern von seinem Platze wegzuschieben, ist eine Rüpelhaftigkeit, wenn man aber in Gedanken dasselbe tut, so fällt niemandem ein, daß dies ein Unrecht ist. Wir sprechen zwar viel von der Schätzung der fremden Meinung, sind aber nicht geneigt, dies für uns selbst gelten zu lassen.
...dann wird Bruderschaft eine Tatsache
[...] Wir müssen aber lernen, mit der Seele zuzuhören, wir müssen verstehen, die intimsten Dinge mit der Seele zu erfassen. [...] Unterdrücken müssen wir also unsere Meinung, um den andern ganz zu hören, nicht bloß das Wort, sondern sogar das Gefühl, auch dann, wenn sich in uns das Gefühl regen sollte, daß es falsch ist, was der andere sagt. [...] Sie fühlen dann, wie wenn die Seele des andern Sie durchwärmte, durchleuchtete, wenn Sie ihr in dieser Weise mit absoluter Toleranz entgegentreten. Nicht bloß Freiheit der Person sollen wir gewähren, sondern völlige Freiheit, ja sogar die Freiheit der fremden Meinung sollen wir schätzen. Das ist nur ein Beispiel für vieles. Derjenige, der dem andern ins Wort fällt, der tut von einer geistigen Weltanschauung aus betrachtet etwas Ähnliches wie der, welcher dem andern physisch einen Fußtritt gibt. Bringt man es dazu, zu begreifen, daß es eine viel stärkere Beeinflussung ist, einem andern ins Wort zu fallen, als ihm einen Fußtritt zu geben, dann erst kommt man dazu, die Bruderschaft bis in die Seele hinein zu verstehen, dann wird sie eine Tatsache. [...]
Wir wissen ganz genau, daß mancher, der an diesen oder jenen Platz im Leben gestellt ist, einfach unterginge, wenn er nicht mit den Wölfen heulen würde, wenn er diesen Daseinskampf nicht ebenso grausam führen würde wie viele andere. [...] Wir tun aber das Richtige, wenn wir uns klar sind, daß wir viel mehr leisten würden, wenn wir darauf verzichteten, in der unmittelbaren Gegenwart die Erfolge zu sehen, die wir erreichen wollen. Bringen Sie es übers Herz, wenn Sie vielleicht mit blutender Seele im Daseinskampfe stehen, demjenigen, dem Sie wehe getan haben im Daseinskampfe, in liebevoller Gesinnung von Seele zu Seele Ihre Gedanken zuströmen zu lassen, dann werden Sie als Materialist vielleicht denken, Sie haben nichts getan. Nach diesen Auseinandersetzungen aber werden Sie einsehen, daß dies später seine Wirkung haben muß, denn nichts, das wissen wir, ist verloren, was im Geistigen vorgeht. [...]
Wenn wir an der eigenen Seele im Sinne der Bruderliebe arbeiten, dann nützen wir dadurch, daß wir uns nützen, am meisten der Menschheit, denn wahr ist es, daß unsere Fähigkeiten entwurzelt sind wie eine aus dem Boden gerissene Pflanze, wenn wir im selbstischen Sondersein verharren. Sowenig ein Auge noch ein Auge ist, wenn es aus dem Kopfe gerissen wird, sowenig ist eine menschliche Seele noch eine Menschenseele, wenn sie sich von der menschlichen Gemeinschaft trennt. Und Sie werden sehen, daß wir unsere Talente dann am besten ausbilden, wenn wir in brüderlicher Gemeinschaft leben, daß wir am intensivsten leben, wenn wir im Ganzen wurzeln. Freilich müssen wir abwarten, bis das, was Wurzel schlägt im Ganzen, durch stille Einkehr in sich selbst zur Frucht reift. [...]