Rudolf Steiner über die Bedeutung der Liebe in der Waldorfpädagogik

„Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“
1. Kor. 13, Hohelied der Liebe

„Es gibt drei wirksame Erziehungsmittel: Furcht, Ehrgeiz und Liebe. Wir verzichten auf die beiden ersten.“
Rudolf Steiner

Richtig in der Erziehung werden wir erst wirken, wenn wir uns ein gewisses Schamgefühl aneignen werden, wenn wir uns schämen werden, über Erziehung zu reden. [...] Heute redet jeder über Erziehung und über das, was er da für das Richtige hält. Aber Erziehung ist nicht etwas, was sich so in Begriffe fassen lässt, ist nicht etwas, dem man mit Theoretisieren beikommt.
14.10.1922, GA 217, S. 179f.

 

Das Zweite, was entwickelt werden muß in einer Zeit, in der man nach einer sozialen Gestaltung der menschlichen Gesellschaft strebt, das ist vor allen Dingen ein soziales Verhalten des Lehrers zu den Kindern schon in der Schule; das ist eine neue Menschenliebe. Das ist ein Achten auf gewisse Kräfte, die zwischen dem Lehrer und dem Schüler spielen und die nicht spielen können, wenn der Lehrer nicht wirklich lebensvoll in die Erziehungskunst eingeführt ist. [...]
Diejenige Menschenkunde, die wir hier anstreben, von der wir wollen, daß sie Unterrichtskunst werde durch die Waldorfschule, diese Menscheneinsicht, diese Menschenkunde, die führt so in das Wesen des Menschen hinein, daß sie selber den Enthusiasmus, die Begeisterung, die Liebe erzeugt, daß dasjenige, was da als Kunde vom Menschen in unsere Köpfe hineingeht, unser Tun und unser Fühlen durchtränkt. [...]
Deshalb soll es so sein, daß bei dem Seminarkursus [...] eine solche Menschenkunde an die Lehrer herankommt, die sie selber so durchdringt, daß zu der Menschenkunde, zu dem Verstehen des werdenden Kindes, Menschenliebe im Unterricht hinzukommt. [...] Denn aus der [...] echten Liebe, die dasjenige durchdringt, was wir im Schulzimmer oder sonst beim Lehren und Unterrichten und Erziehen machen, aus dieser echten Liebe kommt es, ob der Unterricht dem Kinde leicht oder schwer wird, ob das Erziehen für das Kind gut oder schlecht ist. [...]
Daß alles gründlich von oben bis unten dem Wandel unterworfen werden müsse, daß wir eine andere Lehrerbildung brauchen, einen anderen Geist in der Schule, sogar eine andere Liebe, als sie jetzt durch die verbildete Lehrerschaft in die Schule hineingetragen wird, daran denken leider allzuwenig Menschen. [...]
Denn so, wie wir uns einleben sollen in wahre Menschenkunde, schwebt es uns vor, daß wir allmählich die Schule dahin bringen, daß die Kinder gerne in diese Schule hineingehen, daß sie sich freuen, in diese Schule hineinzugehen. Wir werden nichts Unnatürliches erziehen. Es wäre selbstverständlich unnatürlich, zu glauben, daß Kinder, die wieder einmal Ferien haben sollten, nicht lieber im Freien herumtollen, statt zur Schule zu gehen. Wir werden auch nicht so unverständig sein, zu glauben, daß Kinder, nachdem sie wochenlang herumgetollt haben, in der ersten Stunde hübsch brav sitzen sollen. Wir werden unsere Kinder verstehen. Aber wir werden es doch dahin bringen, daß nach einiger Zeit durch die Art, wie wir uns zu den Schülern verhalten, diese Schüler das, was in der Schulzeit geschieht, gerade so gerne tun wie das Herumtollen während der Ferien. Und das wird ein Ideal sein für die Waldorfschule, daß die Kinder wirklich aus innerem Antrieb dasjenige tun, was sie tun sollen. Nicht werden wir unser Ziel darin sehen, den Kindern bloß zu befehlen, sondern wir werden unser Ziel darin sehen, uns zu den Kindern so zu verhalten, daß die Kinder an unserem Verhalten empfinden: Das tue ich gerne [...].
31.8.1919, GA 297, S. 74ff.

[M]an erzielt nichts im Unterricht und in der Erziehung in der Schule, wenn nicht zwischen dem Lehrer und dem Kinde ein ganz bestimmtes Verhältnis ist, das Verhältnis wirklicher Liebe des Lehrers zum Kinde und des Kindes zum Lehrer. [...] Wir möchten, daß eine Atmosphäre von Liebe lebt in jeder Klasse, und daß aus dieser Atmosphäre von Liebe heraus der Unterricht gegeben werde.
Aber diese Liebe, sie läßt sich nicht diktieren. [...] Aber man braucht als Lehrer tatsächlich mehr Liebe, als man für das andere Leben braucht. Sehen Sie, die Menge von Liebe, die sonst die Menschen aufbringen für ihre Kinder, und wenn es eine noch so große Schar ist, ist gering gegen die für den Lehrer nötige; so viele Kinder hat man doch nicht, als der Lehrer gewöhnlich in der Klasse unterrichten muß. [...]
Aber [...] dieselbe Liebe, ebenso intensiv muß sie der Lehrer oder die Lehrerin für die Kinder unbedingt haben; mehr ins Seelische, mehr ins Geistige übersetzt, aber sie muß da sein. Diese Liebe hat man nicht angeboren, sondern die muß man aus etwas ganz anderem heraus haben. [...] Diese Liebe kann man nur aus einer Wissenschaft heraus haben, die wirklich vom Geiste handelt, die den Geist offenbart. Denn wo eine Wissenschaft den Geist gibt, da gibt sie auch Liebe. [...] Es ist der Geist des Weltverstehens und dieser Geist der Liebe, die vor allen Dingen drinnen sein wollen in dem Unterricht, den wir in der Waldorfschule pflegen, in der Erziehung, die wir in der Waldorfschule geben wollen. Und das läßt sich nicht machen mit allgemeinen Phrasen, das läßt sich nur machen, wenn man dasjenige, was man von der Entwickelung des Kindes kennt, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr im einzelnen immer wiederum anzuwenden weiß.
13.1.1921, GA 298, 71f.

Auf die Entwickelung solcher Gefühle kommt es an! Das ist ja nicht das Wesentliche an der Anthroposophie, daß sie theoretisch lehrt: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich, es gibt ein Karma, es gibt wiederholte Erdenleben und so weiter. Man kann sehr gescheit sein, kann das alles wissen; doch Anthroposoph im wahren Sinne des Wortes ist man dadurch nicht, wenn man diese Dinge auf die gewöhnliche Art, wie den Inhalt eines Kochbuches, weiß. Darauf kommt es an, daß das menschliche Seelenleben ergriffen und vertieft werde durch die anthroposophische Weltanschauung, und daß man dann wirken lernt aus einem solchen ergriffenen und vertieften Seelenleben.
Daher kann die erste Aufgabe, die für die Pädagogik auf der Grundlage der Anthroposophie erfüllt werden kann, diese sein, daß man zunächst darauf hinarbeitet, daß die Lehrer, die Erzieher im tiefsten Sinne Menschenerkenner seien, und daß sie, wenn sie diese Gesinnung nach rechter Menschenbeobachtung in sich aufgenommen haben, mit der Liebe, die aus dieser Gesinnung folgt, an das Kind herantreten. Daher ist das erste, was in einem Seminarkurs für im anthroposophischen Sinne wirken sollende Erzieher vorkommt, nicht, daß man sagt, du sollst es so oder so machen, sollst diesen oder jenen pädagogischen Handgriff anwenden, sondern das erste ist das Erwecken der pädagogischen Gesinnung aus Menschenerkenntnis heraus. Hat man diese pädagogische Gesinnung aus Menschenerkenntnis bis zur rechten Pädagogenliebe, bis zum Erwecken der Pädagogenliebe gebracht, dann kann man sagen, der Lehrer ist reif zum Erziehen, zum Unterrichten. Das erste, um was es sich bei einer auf Menschenerkenntnis begründeten Pädagogik handelt, wie es die Waldorfschul-Pädagogik zum Beispiel ist, das ist nicht, Regeln anzugeben, so oder so solle man erziehen, sondern das erste ist, die Seminarkurse so zu halten, daß man die Herzen der Lehrer findet, daß man diese Herzen so weit vertieft, daß aus ihnen heraus die Liebe zum Kinde erwächst. Die glaubt ja ein jeder natürlich sich andiktieren zu können. Aber diese andiktierte Menschenliebe kann ja nichts leisten; sie könnte vielen guten Willen haben, aber kann nichts leisten. Etwas leisten kann erst diejenige Menschenliebe, die aus einem vertieften Beobachten im Einzelfalle hervorgehen kann.
18.7.1924, GA 310, S. 37f.


Für Rudolf Steiner war die Liebe nicht etwas, was „vom Himmel fällt“. Ihre Voraussetzung und Quelle ist letztlich immer die innere Selbsterziehung, die einen innerlich immer mehr mit allem Menschlichen verbindet.

Eins muß sein Kindesseele und Lehrerseele durch ein unterbewußtes geheimnisvolles Band, das vom Lehrergeist übergeht in den Kindergeist. [...]
Wir müssen sprechen, wir müssen wirken können aus dem Geiste der Wahrheit heraus. [...] Das können wir nur, wenn wir verbunden sind, innerlichst verbunden sind mit allem Menschlichen; wenn wir aufgehen können, noch wenn wir die allerweißesten Haare schon erlangt haben, in dem, was der werdende Mensch seinem Wesen nach ist. Innerlich müssen wir verstehen können den werdenden Menschen. [...]
Wir brauchen [...] als Erzieher eine Erweckung der lebendigen Menschennatur, die in sich das ganze Kind wieder erlebt, indem sie mit ihm in geistige Beziehung tritt.
7.9.1919, GA 298, S. 30-32, Eröffnung der Waldorfschule.

Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.
1.7.1923, GA 304a, S. 89.

Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden, wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. [...] der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.
21.8.1919, GA 293, S. 26f.

Zum Lehrer gehört nicht Wissen und Beherrschen der Methoden der Pädagogik, sondern ein bestimmter Charakter, eine Gesinnung, die schon wirkt, ehe der Lehrer gesprochen hat. Er muss, bis zu einem gewissen Grade, eine innere Entwicklung durchgemacht haben, er muss nicht nur gelernt, er muss sich innerlich verwandelt haben. Man wird einst beim Examen nicht das Wissen, ja nicht einmal die pädagogischen Grundsätze, sondern das Sein prüfen.
24.1.1907, GA 55, S. 136f.

Das Kind, das ich erziehe, darf ich nicht von mir aus bestimmen, sondern aus seinem rätselhaften Inneren habe ich herauszuholen, was mir selbst ganz unbekannt ist. [...] Wir werden nicht mehr fragen, ist der der beste Lehrer, der am besten den Unterrichtsstoff beherrscht, sondern wir werden fragen, was ist das für ein Mensch? [...] Man kann seine Lehrgegenstände vollständig innehaben, man kann eine lebendig wandelnde Wissenschaft sein, und doch ungeeignet sein zu lehren, weil man dasjenige, was vom Menschen ausströmt, was die Individualität aus dem anderen Menschen herauslockt, nicht kennt.
30.3.1905, GA 53, S. 312f.

Man mag es heute schon glauben oder nicht: Ein Lehrer, der diese Ehrfurcht vor dem werdenden Menschen hat, hat eine geheime Kraft in sich, durch die er ganz anders unterrichtet und erzieht, als ein Lehrer, der diese Ehrfurcht nicht hat, der glaubt, der Mensch wäre entstanden, indem er sich als physischer Leib losgelöst hat von dem Leib der Mutter. Denn man unterrichtet und erzieht nicht allein mit Begriffen und Ideen, man erzieht vor allen Dingen mit jenen geheimnisvollen Kräften und Mächten, welche als Imponderabilien übergehen von dem Lehrer auf das Kind.
18.9.1920, GA 199, S. 284.

Aber lassen Sie sich das zum Schlusse sagen: Wenn man in eine Schule hineingeht, die im Sinne dieser Erziehungskunst geführt wird, wenn man betrachtet die ganze Gesinnung des Lehrerkollegiums, von der doch ausstrahlt alles dasjenige, was in jeder Klasse, mit jedem einzelnen Kinde geschieht, dann muß es so sein, als ob über der Türe, wo sich die Lehrer für ihre intimsten Beratungen versammeln, ständen die immerdar mahnenden Worte: „Alle Erziehungskunst soll sein für Euch die Erstehung der Forderung Eurer eigenen Selbsterziehung. Eure Selbsterziehung, Ihr Lehrer, ist der Keim alles desjenigen, was Ihr als Erzieher der Kinder wirken könnt. Ja, Ihr werdet nichts anderes wirken für die Kinder, als was aus Eurer Selbsterziehung hervorgeht.“ – Das muß aber nicht nur stehen wie ein Mahnwort von außen, sondern das muß tief eingeschrieben sein in das Herz, in die Seele, in das Gemüt jedes einzelnen Lehrenden und Erziehenden.
19.11.1923, GA 304a, S. 145.

Wir wollen  [...] aus dem, was uns Anthroposophie ist, eine pädagogische Kunst entwickeln. Das „Wie“ im Unterricht, das ist es, was wir gewinnen wollen aus unserer geistigen Erkenntnis. [...] Das „Was“ ergibt sich aus den sozialen Notwendigkeiten; das muß man mit vollem Interesse ablesen an dem, was der Mensch wissen und können soll, wenn er sich als tüchtiger Mensch in die Zeit hineinstellen soll. Aber das „Wie“, wie den Kindern etwas beizubringen ist, das ergibt sich nur aus einer gründlichen, tiefen und liebevollen Menschenerkenntnis. Die soll walten und wirken in unserer Waldorfschule.
13.1.1921, GA 298, S. 81f.


Im Konkreten gab er verschiedene Hinweise auf die Richtung der Selbsterziehung:

Heute möchte ich nun diese Betrachtungen schließen, indem ich Sie noch einmal auf das hinweise, was ich Ihnen gewissermaßen ans Herz legen möchte; das ist, daß Sie an vier Dinge sich halten: | Erstens daran, daß der Lehrer im großen und auch im einzelnen in der ganzen Durchgeistigung seines Berufes und in der Art, wie er das einzelne Wort spricht, den einzelnen Begriff, jede einzelne Empfindung entwickelt, auf seine Schüler wirkt. Denken Sie daran, daß der Lehrer ein Mann der Initiative sei, daß er niemals lässig werde, das heißt, nicht voll bei dem dabei sei, was er in der Schule tut, wie er sich den Kindern gegenüber benimmt. Das ist das erste: Der Lehrer sei ein Mensch der Initiative im großen und kleinen Ganzen.
Das zweite, meine lieben Freunde, ist, daß wir als Lehrer Interesse haben müssen für alles dasjenige, was in der Welt ist und was den Menschen angeht. [...] Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten der Menschheit interessieren. Wir sollen uns für die großen und für die kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes interessieren können. [...]
Und das dritte ist: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der in seinem Inneren nie ein Kompromiß schließt mit dem Unwahren. Der Lehrer muß ein tief innerlich wahrhaftiger Mensch sein, er darf nie Kompromisse schließen mit dem Unwahren, sonst würden wir sehen, wie durch viele Kanäle Unwahrhaftiges, besonders in der Methode, in unseren Unterricht hereinkommt. Unser Unterricht wird nur dann eine Ausprägung des Wahrhaftigen sein, wenn wir sorgfältig darauf bedacht sind, in uns selbst das Wahrhaftige anzustreben. | Und dann etwas, was leichter gesagt als bewirkt wird, was aber auch eine goldene Regel für den Lehrerberuf ist: Der Lehrer darf nicht verdorren und nicht versauern. Unverdorrte, frische Seelenstimmung! Nicht verdorren und nicht versauern! Das ist dasjenige, was der Lehrer anstreben muß.
6.9.1919, GA 294, S. 193f.

Eine Weltanschauung, eine Philosophie, die auf abstrakte Anschauungen sich beschränkt, und nicht ausströmt in Dankbarkeit des Empfindungslebens gegenüber dem Kosmos, ist keine vollständige Philosophie. [...] Diese Dankbarkeit aber muß vor allen Dingen der Lehrer, der Erzieher haben. [...] Es ist auch das erste Bedeutungsvolle, das durch eine spirituelle Erkenntnis erreicht wird, daß man die Dankbarkeit schöpft für die Tatsache, daß man ein Kind zur Erziehung erhalten hat. [...] | Erziehungstechnik setzt überall voraus, daß der Erzieher alles, was er tut, aus religiös-moralischen Impulsen heraus tut. [...]
Ein neues Element tritt auf in der zweiten Lebensepoche. Diejenige Entwicklung des Kindes, die vor allen Dingen auf das rhythmische System gebaut ist, erfordert, daß alle Tätigkeit des Erziehers einen künstlerischen Charakter hat. Man wird niemals das zustande bringen, was in der Umgebung des Kindes wirken soll, wenn man nicht durchtränken kann die religiöse Stimmung gegenüber dem Kinde, die fortdauern muß, mit einer intensiven Liebe zu unseren Erziehungstaten, unserer Erziehungsaktivität. Denn in dieser Liebe waltet diejenige Kraft, welche den Erzieher zu einer Betätigung führt, welche von dem Kinde ästhetisch-liebend empfunden wird. | Vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist nichts in das Kind hinein wirksam, das nicht beim Erziehenden getragen ist von der Liebe zur Erziehungstat selber. Was man in Liebe als Erzieher ausführt, das wird von dem Kinde in diesem Lebensalter als etwas empfunden, das es sich aneignen muß, um ein Mensch zu sein. [...]
Hat man das Kind in religiöser Ehrfurcht empfangen, hat man es in Liebe zu den Erziehungstaten bis zur Geschlechtsreife erzogen, dann kann man auch das rechte Erlebnis dem werdenden Menschen gegenüber haben: ihn in Freiheit als unseresgleichen neben sich zu haben. [Nun] wird man dem frei gewordenen Wesen gegenüber von Intellekt zu Intellekt wirken können. [...]
Man soll sich nicht sagen: du sollst dies oder jenes in die Kinderseele hineingießen, sondern du sollst Ehrfurcht vor seinem Geiste haben. Diesen Geist kannst du nicht entwickeln, er entwickelt sich selber. Dir obliegt es, ihm die Hindernisse seiner Entwicklung hinwegzuräumen, und das an ihn heranzubringen, das ihn veranlasst, sich zu entwickeln. Du kannst dem Geist die Hindernisse wegräumen im Physischen und auch noch ein wenig im Seelischen. [...] Der Geist entwickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. Aber sein Leben ist dasjenige, das man als Erzieher in seiner Umgebung entfaltet. Die allergrößte Selbstverleugnung ist Aufgabe des Erziehers. Er muß in der Umgebung des Kindes so leben, daß der Kindesgeist in Sympathie das eigene Leben an dem Leben des Erziehers entfalten kann.
19.8.1922, GA 305, S. 71-75.

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst, die in jedem Lehrer, jedem Erzieher, ganz Gesinnung, ganz Impuls der Arbeit sein müssen [...], die müssen sein:
Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewußtsein, daß das Kind ein göttliches Rätsel darstellt, das man mit seiner Erziehungskunst lösen soll. In Liebe geübte Erziehungsmethode, durch die das Kind sich instinktiv an uns selbst erzieht, so daß man dem Kinde die Freiheit nicht gefährdet, die auch da geachtet werden soll, wo sie das unbewusste Element der organischen Wachstumskraft ist.
19.8.1922, GA 305, S. 75.

Gedeihen kann die Waldorfschule nur dann, wenn das Kollegium harmoniert in sich. Es ist nicht möglich, daß jeder jedem ganz gleich sympathisch ist. Aber das ist seine Privatsache. Das ist etwas, was nicht ins Kollegium hineingehört. Aber insofern das Kollegium repräsentiert den Gesamtstatus der Waldorfschule, hängt das Gedeihen der Waldorfschule von der inneren Harmonie im Kollegium ab. Es ist ein großer Unterschied, ob irgendjemand jemandem draußen sagt, „das geht mir auf die Nerven“, oder wenn das Wort hier in der Konferenz fällt.
23.1.1923, GA 300b, S. 238. | Mehr über Harmonie in der Schule.


Die Liebe geht letztlich hervor aus einem tiefen Verbundensein mit dem Weltgeschehen überhaupt:

Die Waldorfschule ist nicht eine ,,Reformschule" wie so manche andere, die gegründet werden, weil man zu wissen glaubt, worin die Fehler dieser oder jener Art des Erziehens und Unterrichtens liegen; sondern sie ist dem Gedanken entsprungen, daß die besten Grundsätze und der beste Wille in diesem Gebiete erst zur Wirksamkeit kommen können, wenn der Erziehende und Unterrichtende ein Kenner der menschlichen Wesenheit ist. Man kann dies nicht sein, ohne auch eine lebendige Anteilnahme zu entwickeln an dem ganzen sozialen Leben der Menschheit. Der Sinn, der geöffnet ist für das Wesen des Menschen, nimmt auch alles Leid und alle Freude der Menschheit als eigenes Erlebnis hin. Durch einen Lehrer, der Seelenkenner, Menschenkenner ist, wirkt das ganze soziale Leben auf die in das Leben hineinstrebende Generation. Aus seiner Schule werden Menschen hervorgehen, die sich kraftvoll in das Leben hineinstellen können.
Februar 1920, GA 24, S. 276.

Um aber dafür, ich möchte sagen, das rechte Herz zu haben, daß sich jetzt in diesem Lebensalter die jungen Damen und Herren so neben den Lehrer hinstellen werden, der ihnen früher Autorität war, um dazu das rechte Verhältnis zu haben, muß man eben [...] ein offenes Urteil für die Welt überhaupt haben, als Weltmensch in der Welt drinnen stehen; [...] nicht bloß eintrainiert haben Unterrichtsmethoden, sondern selber sich Fragen zu beantworten nach den Zielen der Menschheit, nach dem Inhalt der einzelnen Menschheitsepochen, nach dem Sinn des Lebens in der Gegenwart und so weiter. Und man muß diese Fragen nicht im Kopfe wälzen, sondern im Gemüte tragen, dann wird man sie auch im Gemüte mit der Jugend wirklich erleben.
25.8.1922, GA 305, S. 171.


Und darum ist die wesentliche Quelle für die Liebe immer der innere Enthusiasmus:

Verkennen Sie nur nicht, daß die Frage vorzugsweise eine Sache des Interesses an den Kindern und den jugendlichen Leuten ist, und eine Sache des Enthusiasmus. Es ist nicht umsonst, daß ich bei jeder Gelegenheit betone, daß wir auf allen Gebieten nicht vorwärtskommen ohne Enthusiasmus, ohne innere Beweglichkeit. Wirklich, wenn ich – ich meine, es ist ja schlimm, aber diesen Enthusiasmus, den sehe ich nicht; ich kann nicht finden, daß Mühe gegeben wird, ihn wirklich hervorzuzaubern. Sehen Sie, wenn ich so alles ausführen könnte, was sich mir aufdrängt, so würde ich zum Beispiel nach einer Lehrerkonferenz probieren, auf wieviel Stühlen Pech klebt, wenn die Lehrerkonferenz zu Ende ist. Es kommt mir vor, Sie kleben auf ihren Sitzen, Sie sind müde. Ein Mensch kann doch nicht müde sein, wenn er im Geiste leben soll, Müde sein ist doch eine Sache der Interesselosigkeit.
15.7.1924, GA 300c, S. 189f.

Ich glaube, die Zukunft der Pädagogik wird darin bestehen, daß nicht mehr gesprochen wird zu Lehrern, wie das heute geschieht, sondern daß gesprochen wird in lauter Ideen und Vorstellungen, die sich in Gefühle umwandeln können. Denn auf nichts kommt es mehr an, als daß wir imstande sind, in uns selbst als Lehrer die nötige Ehrfurcht und den nötigen Enthusiasmus auszubilden, um den Unterricht mit Ehrfurcht und Enthusiasmus auszuüben. Ehrfurcht und Enthusiasmus, das sind die geheimen Grundkräfte, welche als die zwei Kräfte in Betracht kommen, die die Lehrerseele eben durchgeistigen müssen.
16.9.1920, GA 302a, S. 31f. | Mehr über Ehrfurcht und Enthusiasmus.


Und darum war auch eine solche Ansprache Steiners zutiefst menschlich ganz und gar ernst gemeint:

[...] Es ist im Grunde genommen der Geist des Christentums, der durch unsere Räume weht, der, von jedem Lehrer ausgehend, zu jedem Kinde hingeht, auch wenn etwas scheinbar von der Religion Fernstehendes gelehrt wird, wie zum Beispiel Rechnen. Hier ist es immer der Geist des Christus, der, von dem Lehrer ausgehend, in die Herzen der Kinder einziehen soll, dieser Geist, der von Liebe, von wahrer Menschenliebe durchweht ist. Darum möchte ich, daß ihr Kinder empfindet, wie ihr nicht nur etwas gelernt habt, sondern auch nach und nach hier empfinden gelernt habt, was die Liebe des einen zum anderen ist. Und so möchte ich, daß, wenn ihr jetzt in die Ferien geht, ihr daran denkt: allen Mitschülern gegenüber empfinde ich im Herzen das eine Wort: Auf herzliches Wiedersehen! Denkt aneinander mit diesem schönen Wort: Auf herzliches Wiedersehen dann, wenn wir gestärkt wiederum hier hereinkommen in diese Räume, wenn wir wiederum mit unseren Lehrern zusammenarbeiten können an dem, daß wir tüchtige Menschen werden.
24.7.1920, GA 298, S. 62, Abschlussfeier des ersten Schuljahres.