Warum eine anthroposophische Pädagogik?

Rudolf Steiner: Warum eine anthroposophische Pädagogik? (Zwei Vorträge aus: Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, GA 304a, 30.06. und 01.07.1923). |  Zwischenüberschriften eingefügt.


1. Vortrag: Reale ganz-menschliche Erkenntnis. Ergreifen des ätherischen und astralischen Leibes.
2. Vortrag: Zum Seelischen durchdringen. Der lebendige Christus. Mit dem Kinde innerlich zusammenleben.  


1. Vortrag, 30.6.1923

[...] „Wozu eine anthroposophische Pädagogik?“

Diese Frage muß ja aus den verschiedensten Gründen auftauchen. Schon darum muß sie auftauchen, weil ja Anthroposophie sehr häufig heute noch als irgend etwas Sektiererisches genommen wird, als irgendeine aus der menschlichen Willkür hervorgegangene Weltanschauung. Da frägt man sich dann: Darf denn Pädagogik durch eine bestimmte Weltanschauung beeinflußt werden? Kann man sich etwas Fruchtbares davon versprechen, daß ein Weltanschauungs-Standpunkt irgendwie pädagogische Konsequenzen aus sich heraus zieht? Wenn diese Frage berechtigt wäre, so gäbe es wahrscheinlich das nicht, was man anthroposophische Pädagogik nennen kann.

Es ist ja allerdings so, daß die verschiedenen Weltanschauungen, die vorhanden sind, auch über das Erziehungswesen diese oder jene Ansichten entwickeln, diese oder jene Forderungen aufstellen. Und man merkt überall diesen oder jenen Weltanschauungs-Standpunkt hindurch.

Das gerade soll bei der anthroposophischen Pädagogik eben ganz unmöglich sein, und ich darf gleich einleitend vielleicht vorausschicken, daß wir ja seit nun schon einer Reihe von Jahren in Stuttgart versucht haben, eine Volks- und auch höhere Schule im Sinne dieser anthroposophischen Pädagogik einzurichten, und daß es gewissermaßen dort unser Ideal ist, daß die Dinge so natürlich und selbstverständlich im Einklang mit der ganzen Menschenwesenheit und ihrer Entwickelung vor sich gehen, daß gar niemand auf den Gedanken kommen kann, da sei irgendeine anthroposophische Idee verwirklicht [...]

Eine Offenbarung des Geistig-Seelischen

Überall würden wir sehen, daß wir heute, indem wir eine gewisse Bildung uns aneignen auf diesem oder jenem Lebensgebiet, im Grunde genommen die Kluft, den Abgrund zur Praxis hin erst extra noch zu überwinden haben. Das hat nicht nur der Mediziner, das hat nicht nur der Techniker, das hat nicht nur derjenige, der eine Handelshochschule absolviert, das hat vor allen Dingen heute auch der Lehrer zu überwinden, der, weil wir nun einmal im wissenschaftlichen Zeitalter leben, in einer Art Wissenschaftlichkeit in die Pädagogik hineingeführt wird, aber dann, nachdem er eben einen gewissen theoretischen Bildungsstoff aufgenommen hat, nun sich erst in die Praxis hineinfinden muß. [...]

Wir haben im Laufe der letzten Jahrhunderte, insbesondere des 19. Jahrhunderts, einmal einen bestimmten wissenschaftlichen Geist entwickelt. Jeder einzelne Mensch, heute sogar schon der sogenannte völlig Ungebildete, steht eigentlich in diesem wissenschaftlichen Geist drinnen. Alles denkt im Sinne dieses wissenschaftlichen Geistes. [...]

Der Mensch, indem er heranwächst, indem er vor uns hintritt, man möchte sagen, in seiner wunderbarsten Gestalt, als Kind, der Mensch ist nicht irgendwie zu erfassen mit einer geistigen Art, die eine solche Kluft hat zwischen Praxis und Theorie. Denn man müßte schon ein starrer Materialist sein, wenn man glauben wollte, daß dasjenige, was in dem Kinde heranwächst, nur eine Folge, ein Ergebnis seiner leiblich-physischen Entwickelung sei.

Wir sehen mit ungeheurer Hingebung, Bewunderung, mit Ehrerbietung auf jene Offenbarung der Schöpfung hin, die uns das Kind in seinen ersten Lebenswochen darstellt, wo in ihm noch alles unbestimmt ist, wo in ihm aber schon dasjenige liegt, was dieser Mensch im späteren Leben leisten wird.

Und wir schauen hin auf das werdende Kind, wie es von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr aus seinem Inneren heraus die Kräfte an die Oberfläche treibt, die seine Physiognomie immer ausdrucksvoller machen, die seine Bewegungen immer geordneter, orientierter machen. Wir sehen in diesem werdenden Menschen das ganze Rätsel der Schöpfung in wunderbarer Weise vor unseren Augen sich abspielen. Und wenn wir sehen, wie der eigentümlich unbestimmte Blick des kindlichen Auges im Laufe der ersten Lebenszeit Aktivität gewinnt, innere Wärme, inneres Feuer gewinnt, wenn wir sehen, wie aus den unbestimmten Bewegungen der Arme und Finger Bewegungen werden, die in schönerer Weise etwas bedeuten als die Buchstaben des Alphabetes – wenn wir das alles mit voller menschlicher Hingabe betrachten, müssen wir uns sagen: Da arbeitet gewiß nicht bloß Physisches, da arbeitet im Physischen das Geistig-Seelische; da ist jedes Stückchen Mensch im Physischen zu gleicher Zeit eine Offenbarung des Geistig-Seelischen. Da gibt es keine Färbung der Wange, die nicht Ausdruck eines Geistig-Seelischen wäre; da gibt es keine Möglichkeit, die Färbung der Wange aus bloßen materiellen Grundlagen zu verstehen, wenn wir nicht wissen, wie die Seele sich hineinergießt in das Wangenrot. Da ist Geist und Natur in einem vorhanden.

Und wenn wir dann mit unserer altgewordenen Geistesanschauung kommen, die eine Kluft läßt zwischen dem, was sich theoretisch auf den Geist richtet, und dem, was sich äußerlich praktisch an das Leben richtet, dann gehen wir an dem Kinde vorbei. Dann wissen wir weder mit unserer Theorie, noch mit unserem Instinkt, der keinen Geist erfassen kann in unserer heutigen Zivilisation, etwas mit dem Kinde anzufangen. Wir haben im Leben das geistige Treiben von dem materiellen getrennt. Damit ist uns das geistige Treiben zu einer abstrakten Theorie geworden.

Und dann sind solche abstrakte theoretische Anschauungen auch über die Erziehung erwachsen, wie sie zum Beispiel in der Herbartschen Pädagogik enthalten waren, die geistvoll in ihrer Art, theoretisch großartig sind, die aber ohnmächtig sind, in das eigentliche Leben einzugreifen. [...]

Anthroposophie als ganz-menschliche Erkenntnis

Aber eine wirkliche Menschenerkenntnis wird man nicht gewinnen, wenn nicht der Abgrund zwischen Theorie und Praxis, der sich heute so furchtbar aufgetan hat, wirklich überbrückt wird. Solche Theorie, wie wir sie heute haben, kommt nämlich nur an den menschlichen Körper heran. Und wenn solche Theorie auch an die Seele und an den Geist herankommen will, so macht sie krampfhafte Versuche, kommt aber doch in Wirklichkeit nicht an sie heran, denn Seele und Geist müssen auf eine andere Weise erforscht werden, als diejenige ist, die im Sinne der heute anerkannten sogenannten wissenschaftlichen Methode liegt.

Um den Menschen zu erkennen, muß in ganz anderer Weise an den Menschen herangegangen werden, als es heute vielfach für exakt und richtig gilt. Dieses Herangehen aber an die wahre, wirkliche Menschennatur, dieses Aufsuchen einer wirklichen Menschenkenntnis, einer Menschenkenntnis, die Geist, Seele und Leib im Menschen in einem schaut, das ist die Aufgabe der Anthroposophie. Anthroposophie will wiederum nicht bloß den physischen Menschen, sondern den ganzen Menschen erkennen. [...]

Diesen Gang vom Sinnlichen, dem die ganze gegenwärtige Wissenschaft huldigt, zum Übersinnlichen hin, diesen Gang geht Anthroposophie. Sie geht ihn nicht aus Mystik und Phantastik heraus, sie geht ihn in derselben strengen Wissenschaftlichkeit wie heute die Wissenschaft in bezug auf die Sinnenwelt und die gewöhnliche nüchterne Verstandestätigkeit, die aber an den physischen Leib gebunden ist, verfährt. So entwickelt Anthroposophie eine Erkenntnis, eine Anschauung, und damit eine Empfindung für das Übersinnliche.

Damit aber wird nicht etwa bloß das geliefert, daß man über die gewöhnliche Wissenschaft hinaus noch eine andere Wissenschaft hat. Es ist ja nicht so in der Anthroposophie, daß man zu dem, was wir heute als Naturwissenschaft, als Geschichtswissenschaft haben, noch eine andere besondere Geisteswissenschaft hinzufügt, die nun auch wiederum nur eine Theorie ist. Nein, wenn man so zum Übersinnlichen hinaufsteigt, so bleibt die Wissenschaft nicht Theorie, sondern die Wissenschaft wird da von selbst Praxis. Die Wissenschaft wird dasjenige, was da aus dem ganzen Menschen hervorströmt.

Von der Theorie wird nur der Kopf ergriffen. Von dem, was Anthroposophie als eine Erkenntnis, die aber mehr ist als Erkenntnis, über den ganzen Menschen gibt, wird auch der ganze Mensch ergriffen. Und wie ist es dann?

Ergreifen des ätherischen und astralischen Leibes

Ja, lernt man in der Anthroposophie kennen, was im ätherischen oder Bildekräfteleib enthalten ist, dann kann man nicht stehenbleiben bei den scharf konturierten Begriffen, die wir heute haben für die physische Welt, dann werden alle Begriffe beweglich, dann wird der Mensch, indem er zum Beispiel die Pflanzenwelt ansieht, nicht bloß Formen, bestimmte aufzuzeichnende Formen des Pflanzlichen haben, sondern bewegliche Formen. Sein ganzes Vorstellungsleben kommt in eine innere Beweglichkeit. Der Mensch ist genötigt, seelisch sich eine Frische zuzulegen, weil er jetzt nicht mehr die Pflanze zum Beispiel äußerlich bloß anschaut, sondern weil er, indem er über die Pflanze denkt, das Wachsen, das Sprießen, das Sprossen der Pflanze selber mitmacht. Der Mensch wird im Frühling selber Frühling mit seinen Vorstellungen, im Herbste selber Herbst mit seinen Vorstellungen. Der Mensch sieht nicht nur die Pflanze aus dem Boden sprießen, Blüten bekommen, oder wiederum die Blätter sich verfärben ins Bräunliche, abfallen, nein, der Mensch macht diesen ganzen Prozeß mit. Indem er über die sprießende, sprossende Pflanze im Frühling, auf die er hinschaut, denkt, vorstellt, wird seine Seele mitgerissen. Seine Seele macht innerlich den Wachstums-, den Blüteprozeß mit. Seine Seele wird innerlich ein Erlebnis haben, wie wenn alle seine Vorstellungen zum Sonnenhaften hingingen. Er hat gewissermaßen die Vorstellung, indem er immer mehr und mehr sich vertieft in das Pflanzliche, es ist das Sonnenlicht, zu dem er innerlich in der Seele emporstrebt. Alles wird innerlich lebendig. [...]

Und kommt man gar herauf zu Begriffen des sogenannten astralischen Leibes, ja, sehen Sie, da kommen die Leute und sagen: Ach, dieser astralische Leib, den haben so ein paar phantastische Kerle ausgesonnen.

Nein, er ist beobachtet, beobachtet wie etwas anderes. Aber derjenige, der ihn wirklich versteht, beginnt etwas anderes zu verstehen. Er beginnt zu verstehen dasjenige zum Beispiel, was erlebte Liebe ist. Er beginnt zu verstehen, wie die Liebe webt und wellt im Dasein. So wie er durch seinen Körper eine innere Erfahrung bekommt, ob es warm oder kalt ist, so bekommt er durch die Erkenntnis des astralischen Leibes eine innerliche Wahrnehmung, ob Liebe webt und wellt, oder ob Antipathie webt und wellt. Es ist eine volle Bereicherung des Lebens. [...] Wir werden andere Menschen, wenn wir Anthroposophie aufnehmen.

Und es ist so: wenn Sie ein Stück eines Menschenleibes nehmen, vom Finger hier, so kann dieses Stück höchstens tasten. Es muß ganz anders sich durchorganisieren, wenn es das Auge werden soll. Das Auge besteht auch aus solchen Geweben wie der Finger, aber das Auge ist innerlich selbstlos, ist innerlich durchsichtig geworden. Daher vermittelt einem das Auge dasjenige, was außerhalb des Auges ist.

Hat der Mensch innerlich ergriffen den astralischen Leib, so vermittelt der ihm dasjenige, was außerhalb ist. Der astralische Leib wird ein seelisches Auge. Der Mensch schaut in die Seele des anderen Menschen hinein, nicht in einer abergläubischen, zauberischen Weise, sondern in einer ganz natürlichen Weise. Aber es tritt so ein, was sonst nur unbewußt im Leben die Liebe macht. Sie schauen dasjenige, was in der Seele des anderen Menschen ist. Unsere heutige Wissenschaft sondert Theorie von Praxis ab. Anthroposophie bringt dasjenige, was Erkenntnis ist, in das unmittelbare Leben hinein, macht den Menschen zu einem anderen Menschen.

Es ist unmöglich, wenn man Anthroposophie studiert, daß man hinterher erst eine Praxis in der Anthroposophie durchmachen muß. Es wäre ein Widerspruch in sich. So wie das Blut, wenn der Mensch als Embryo organisiert wird, in seinen Körper dringt, so dringt in Seele und Geist als eine Realität dasjenige, was Anthroposophie ist. [...]

Ohne das aber ist jede Erziehung und jeder Unterricht ein finsteres Herumtappen am Menschen. Anthroposophie hat ganz gewiß im Anfang nicht darnach gestrebt, eine Pädagogik zu begründen. Sie wollte Menschenerkenntnis, ganze, volle Menschenerkenntnis liefern. Aber indem sie ganze, volle Menschenerkenntnis lieferte, entstand ganz von selbst das Pädagogische. [...]

Und weil Pädagogik nur auf Menschenerkenntnis fußen kann, weil Pädagogik nur dann gedeihen kann, wenn nicht Theorie auf der einen Seite, Praxis auf der anderen Seite da ist, sondern wenn, wie beim wirklichen Künstler, alles, was man weiß, auch in das Tun, in die Tätigkeit hineingehen kann; weil Pädagogik nur gedeihen kann, wenn alles Wissen Kunst ist, wenn die Erziehungswissenschaft nicht Wissenschaft, sondern Erziehungskunst ist, muß eine solche in sich tätige Menschenerkenntnis die Grundlage des pädagogischen Wirkens und Arbeitens sein. [...]

2. Vortrag, 1.7.1923

Gestern abend versuchte ich zu zeigen, wie die tiefe Kluft, welche zwischen unserem ganz theoretisch gewordenen Geistesleben und der Lebenspraxis ist, den Zugang zu einer wirklichen pädagogischen Kunst für den Menschen der Gegenwart verhindert. Man nimmt die Dinge, die mit dieser Zeiterscheinung zusammenhängen, gewöhnlich nicht ernst genug, weil sie sich eigentlich gar nicht dem Verstande mitteilen, sondern weil sie sich mitteilen im Verlaufe des Lebens dem Gemüte. Unsere Zeit ist aber so sehr geneigt, immer die Kundgebungen des menschlichen Gemütes, der menschlichen Empfindungen verstummen zu machen vor den Ansprüchen des Verstandes.

Alles was den Menschen der Gegenwart so stark zwingt, die Wissenschaft der Gegenwart, die eigentlich nur eine Naturwissenschaft ist, keine Seelen- und keine Geisteswissenschaft, als eine unbeschränkte, unfehlbare Autorität anzuerkennen, besteht eigentlich darin, daß der Mensch heute immerzu seinen Verstand zum Richter einsetzt gegenüber allem, was sonst aus der vollen Menschheit herauskommt. [...]

Man sage nicht: Ach was, Theorie! Man wirkt aus seinem vollen menschlichen Herzen heraus, wenn man in der Schule steht: – Meine sehr verehrten Anwesenden, das ist abstrakt ganz richtig. Das kann man auch abstrakt in Worten aussprechen. Aber geradeso wie niemand sagen kann: Ich will mich ins Wasser hineinbegeben und trocken bleiben –, weil das ein innerer Widerspruch ist, ebensowenig kann heute dasjenige, was man auch in den Lehrerbildungsanstalten über die Seele, über den Geist durchmacht, so für die Seele wirken, daß diese Seele einen frischen, einen vollen Zugang zu den Kinderseelen hat. Denn wie man naß werden muß, wenn man ins Wasser hineinspringt, so muß man seelenfremd, geistfremd werden, wenn man sich die heutige Schulbildung aneignet.

Das ist eine Tatsache. Und gerade denjenigen, die die pädagogische Kunst üben wollen, müßte es heute eigentlich die erste Angelegenheit sein, diese Tatsache in ihrer vollen menschlichen Bedeutung zu durchschauen.

Wenn der Lehrer mit dem, was er heute angeregt hat an Menschheitsgefühl, an Wille, mit den Menschen zu wirken und zu tun, aus seinen eigenen Bildungsstätten herauskommt und das nun anwenden will auf den werdenden Menschen, auf das Kind, dann fühlt er, als wenn das alles, was er in einer so theoretischen Weise sich angeeignet hat, was sein Herz nicht warm, seinen Willen nicht tatkräftig im Geiste gemacht hat, als wenn das alles ein Herumflattern um das Kind herum wäre, nicht etwas, was den Zugang zum Kind findet.

Und so geht eigentlich der Lehrer in die Klasse hinein, indem er, man möchte sagen, eine Scheidewand um sich aufrichtet, durch diese Scheidewand nicht hindurchdringt bis zu den Seelen der Kinder, und nun gewissermaßen sich in der Luft betätigt, die außerhalb der Kinder ist, nicht mitfolgen kann in seiner Seele dem eingezogenen Atem, durch den die Luft in das Innere der Kinder kommt. Er fühlt sich außerhalb des Kindes stehend, gewissermaßen herumplätschernd in einem unbestimmten theoretischen Elemente außerhalb des Kindes. [...]

Zum Seelischen durchdringen

Es gibt sich der Mensch einer schier unbegrenzten Illusion hin, wenn er glaubt, daß heute eine wirkliche Seelenkunde vorhanden sei. Immer wieder muß erinnert werden an das Wort, welches schon im 19. Jahrhundert geprägt worden ist: Seelenkunde ohne Seele, weil die Menschen einfach nicht mehr zum Seelischen durchdringen. [...]

Was zeigt uns Anthroposophie gegenüber dem Denken? Nun, das Denken stattet uns als Menschen eben mit Gedanken aus. Aber die Gedanken, die wir im gewöhnlichen Leben heute innerhalb unserer gegenwärtigen Zivilisation haben, diese Gedanken zeigen sich uns so, wie wenn wir einem Menschen, den wir antreffen, nicht von vorne ins Antlitz sähen, sondern wie wenn wir ihn nur von hinten anschauten. Es ist ja nur die Rückseite desjenigen, was im Denken lebt, wenn wir so von Gedanken sprechen, wie wir heute innerhalb unserer Kulturzivilisation von Gedanken sprechen. Warum?

Wenn Sie einen Menschen vor sich haben und Sie schauen ihn von hinten an, dann haben Sie eine gewisse Gestaltung. Aber Sie lernen ihn nicht erkennen von derjenigen Seite, in der er seinen eigentlichen physiognomischen Ausdruck hat. Sie lernen ihn nicht erkennen von der Seite, in der er nach außen offenbarend sein Seelenleben lebt. Wenn Sie die Gedanken so kennenlernen, wie es dem heutigen naturwissenschaftlichen Zeitalter möglich ist, so lernen Sie das innere Menschenwesen von hinten kennen. Schauen Sie die Gedanken von der anderen Seite an, dann behalten die Gedanken Leben, dann sind die Gedanken Kräfte.

Und was sind denn diese Gedanken? Sie sind diejenigen Kräfte, die die Wachstumskräfte des Menschen sind. Nach außen sind die Gedanken abstrakt, nach innen, nach dem Menschen hin, sind sie dasjenige, wodurch das ganz kleine Kind größer wird, wodurch es aus seinen unbestimmten Gliedmaßen heraus bestimmte macht, die Gedankenkräfte. Nach außen sehen wir nur tote Gedanken, wie dasjenige, was der Mensch nach rückwärts zeigt, nicht sein lebendiges Wesen offenbart. Wir müssen uns sozusagen auf die andere Seite des Gedankenlebens begeben, dann offenbart sich uns im Gedankenleben dasjenige, was von Tag zu Tag, indem das Kind seinen unbestimmten Gesichtsausdruck immer mehr und mehr zum Ausdruck seiner Seele macht, von innen nach außen wirkt, was in den Blick übergeht, den Blick warm und feurig macht, was in die gerade ja noch im Leben vor sich gehende Formung der Nase übergeht, was aber auch die ganzen ungeordneten Bewegungen des Kindes zu geordneten macht, was innerlich lebt und sich regt, was wirkt und lebt in der ganzen Zeit, solange der Mensch überhaupt wächst. [...]

Kennt man das Denken nur von seiner hinteren, von seiner toten Seite, dann kann man das Kind nur verstehen; lernt man das Denken von seiner vorderen, von seiner lebendigen Seite kennen, dann kann man dem Kinde so gegenüberstehen, daß man es nicht nur versteht, sondern daß man alle seine Regungen miterlebt, daß man Liebe hineingießt in alles, was das Kind darlebt. [...]

Noch mehr aber als für das Gedankliche hat in unserer Zeit die Sprache den Inhalt verloren für das Gefühlsmäßige oder gar für das Willensmäßige. Die Gefühle dringen aus dem Unterbewußten des Menschen herauf. Der Mensch lebt in ihnen. Aber er schaut nicht in diese unterbewußten Tiefen hinunter; oder wenn er es tut, sieht er hinunter psychoanalytisch, dilettantisch. Er wird nicht gewahr, was da als Seelisches in den Untergründen lebt, wenn er Gefühle hat. Auch für die Gefühle sind nur die Worte geblieben, und erst recht für das Wollen.

Wir müßten heute, wenn wir das bezeichnen wollten, was wir wissen von diesen Dingen, eigentlich gar nicht vom Willen reden, denn Wille ist für die heutige Zivilisation nur ein Wort; wir müßten sagen, wenn wir den Menschen sehen, er fängt an, seine Hand zu bewegen, seine Hand nimmt die Schreibfeder, die Schreibfeder wird über das Papier geschleift: wir müßten die äußeren Tatsachen der Bewegung beschreiben. Das ist heute noch so. Was da drinnen als Wille steckt, wird ja nicht mehr erlebt, das ist nur ein Wort.

Zu diesen Worten, aus denen das heute besteht, was man Seelenkunde nennt, wiederum die Sache zu finden, wiederum die Vorgänge zu finden, das ist die Aufgabe der Anthroposophie. [...]

Mut, die Ohnmacht einzugestehen

Es ist trostlos, wie herumgeplätschert wird in diesen bloß in Worten lebenden Seelenerkenntnissen – wenn man da von Erkenntnissen sprechen will –, wie da nicht berührt wird das Seelische, und wie daher die Leute sich den Kopf zerbrechen: Wirkt das Seelische auf den Körper? Wirkt der Körper auf das Seelische? Oder verlaufen beide Erscheinungen nur parallel miteinander? In solchen Dingen ist heute keine Einsicht vorhanden, daher wird in einer ganz äußerlichen Weise herumdiskutiert.

Wenn man sich aber angewöhnt, in einer solch äußerlichen Weise über die Dinge herumzudiskutieren, dann verliert man den herzhaften Sinn, das enthusiastische Gemüt, das man als pädagogischer Künstler in die Schule hineintragen soll, ja, das man aus der Lebendigkeit der Zivilisation heraus schon haben soll, wenn man als Eltern dem heranwachsenden Kinde gegenübersteht.

Und so sagen wir: Pädagogische Kunst soll sich gründen auf die eine Säule, auf die Psychologie, auf die Seelenkunde. Aber wir haben keine Seelenkunde in der gegenwärtigen Zivilisation. Und was das Schlimmste ist, wir sind, weil wir keuchen unter der Autorität der bloßen Naturwissenschaft, nicht ehrlich genug, uns das einzugestehen. Wir reden immerfort vom Seelischen und haben es nicht mehr. Wir tragen diese Lebenslüge in die intimsten menschlichen Beschäftigungen hinein. Wir haben auf der anderen Seite den guten Willen, das soll voll anerkannt werden, bei allen denen, die heute von Erziehungs- und Unterrichtsidealen sprechen, die so reichlich die Welt mit Reformgedanken auf diesem Gebiete versehen. Aber wir haben nicht den großen Mut, uns zuzugestehen, daß wir erst zu einer wirklichen menschlichen Seelenkunde vordringen müssen, bevor wir heute den Mund aufmachen dürfen, um über Erziehungsreformen, über Erziehungskunst zu sprechen. Denn wir entbehren – zunächst müssen wir es einsehen – der einen Grundsäule einer wirklichen Einsicht in das Seelenleben. Wir haben vom Seelenleben die Worte, die in grauen Vorzeiten geprägt worden sind, wir haben aber nicht mehr ein Erlebnis von der lebendigen Seele. [...]

Das sittliche Leben – tot wie die Seele?

Hat man aber auf der einen Seite eine Psychologie in Worten, eine Psychologie ohne Seele, so hat man auf der anderen Seite eine Sittenlehre ohne göttliche Geistigkeit. Gewiß, den Leuten sind vielfach die alten Religionslehren traditionell erhalten. Aber dasjenige, was die alten Religionslehren haben, das lebt ja gerade so in den Menschen der Gegenwart, wie die in Worten totgewordene Seelenkunde lebt. [...] Und so haben wir eine Psychologie ohne Seele, so haben wir eine Ethik ohne göttlich-geistige Verbindlichkeit. [...]

Oh, meine lieben Freunde, wenn der Mensch heute ehrlich ist, versteht er denn noch dasjenige, was zum Beispiel in den Briefen des Paulus enthalten ist, wo ja geredet werden kann, daß der Mensch die Erweckung des lebendigen Christus in sich braucht, damit er nicht stirbt? Kann ein Mensch heute im vollen Umfange des Wortes fühlen, daß Unsittlichsein, keinen inneren Seelenzusammenhang haben mit den sittlichen Pflichten, ebenso etwas zu tun hat mit Tod und Leben der Seele, wie Gesundheit und Krankheit etwas zu tun haben mit Tod und Leben des Körpers? Versteht man heute noch geistig, daß die Seele sich nicht das Leben im Geiste, sondern den Tod im Geiste erwirbt, wenn sie nicht sich eingliedert in die Kräfte des sittlichen Lebens? Ist das noch ein lebendiges Wort, wenn Paulus davon spricht: Wenn ihr nicht habet das Wissen, die Erkenntnis von der Auferstehung Christi, so ist euer Glaube, eure Seele tot. Und indem ihr durch den Tod des Physischen geht, wird eure Seele angesteckt von dem Sterben des Physischen und fängt selber an, im Geistigen zu sterben? – Ist davon ein Verständnis vorhanden, ein inneres lebendiges Verständnis?

Und was das noch Schlimmere ist – wiederum hat unsere Zivilisation nicht den Mut, sich diesen Mangel an innerem lebendigem Verständnis zu gestehen. Sie gibt sich zufrieden mit einer Naturwissenschaft, die nur vom Tod reden kann, die nicht von dem Leben der Seele reden kann, und hält aus bloßer Gewohnheit dasjenige aufrecht, was sich auf die Unsterblichkeit der Seele, auf die Auferstehung des Christus auf Erden bezieht. Und ist nicht selbst in die Theologie dieser materialistische Geist eingezogen?

Sehen wir uns die modernste Form der Theologie an. Dasjenige, was die Menschen begreifen sollen: daß das Christus-Ereignis so in der irdischen Weltgeschichte drinnensteht, daß da ein Geistiges geistig beurteilt werden muß, daß man nicht die Auferstehung nach dem Sinne der Naturwissenschaft verstehen kann, sondern nur nach dem Sinne einer Geisteswissenschaft, diese Einsicht haben die Menschen verloren, haben auch die Theologen verloren; sie sprechen nur von dem Menschen Jesus und können nicht mehr zu einem lebendigen Begreifen von dem lebendig auferstandenen Christus gelangen, und verfallen im Grunde genommen dem Verdikt des Paulus: So ihr nicht wisset, daß der Christus auferstanden ist, so ist euer Glaube tot. – Selbst der Glaube der modernsten Theologie ist tot nach den eigenen Worten des Paulus.

Den lebendigen Christus im Herzen erwecken

Wenn es uns aber nicht gelingt, ungefähr zwischen dem siebenten und vierzehnten Jahre in dem Menschen durch jene Pädagogik, von der in der Anthroposophie gesprochen wird, den lebendigen Christus innerlich zu beleben, dann tritt der Mensch in das spätere Leben hinaus, ohne mehr sich ein Verständnis für diesen lebendigen Christus erwerben zu können. Dann muß er entweder ein Leugner des Christus werden oder ein solcher, der innerlich nicht ganz wahr ist, indem er den Christus traditionell festhält, aber eigentlich gar nicht die inneren Seelenmittel hat, um zu begreifen, wie durch das, daß der Christus auferstanden ist, indem der Mensch es miterlebt, indem es der Erzieher mit dem Kinde miterlebt, wie da der lebendige Christus im Herzen, in der Seele erweckt wird.

Da kann er erweckt werden, und dadurch kann der Seele die Unsterblichkeit durch ihre Verbindung mit dem Christus gegeben werden. Da muß man aber erst ein geistiges Verständnis für die Unsterblichkeit haben. Da muß man erst dazu kommen, sich sagen zu können: Ja, wenn wir bloß die Natur anschauen, dann kommen wir zu Naturgesetzen, die uns lehren, wie einstmals unsere Erde dem Wärmetod verfallen wird, wie einstmals alles auf Erden ersterben wird. Aber haben wir nicht den Einblick in die lebendige göttliche Geistigkeit, dann müssen wir glauben, daß unsere sittlichen Ideale mitsterben mit dem Wärmetod der Erde, daß sich alles in einen großen Friedhof verwandelt. Haben wir die Einsicht in die lebendige Geistigkeit, dann wissen wir, daß dasjenige, was als sittliche Impulse aus unserer Seele quillt, aufgenommen wird von der göttlichen Geistigkeit. Wie von uns der Sauerstoff der Luft aufgenommen wird zu unserem Leben, so wird das, was wir sittlich tun, von der in der Welt lebenden göttlichen Geistigkeit aufgenommen und unsere Seele selber hinausgetragen über den Untergang der Erde in andere Welten hinein. [...]

Wollen wir herankommen an den lebendigen Menschen, so müssen wir die Kräfte zu diesem Herankommen suchen in der lebendigen Geistigkeit selbst. Unserer gegenwärtigen Zivilisation fehlt aber die Geistigkeit. Das soll die zweite Säule der pädagogischen Kunst sein.

Und so stehen wir heute als pädagogische Künstler vor dem Menschen mit einer bloßen naturwissenschaftlichen Gesinnung. Auf der einen Seite ist uns entfallen in eine bloße Summe von Worten die Seelenwelt, auf der anderen Seite ist uns entfallen wiederum in einer bloßen Summe von Worten die geistige Welt, die sittliche Welt, die höchstens noch in einer Summe von Zeremonien vorhanden ist. Wir wollen pädagogische Kunst auf Seelenkunde und Ethik gründen und haben nur eine Seelenkunde ohne Seele, eine Ethik ohne göttlich-geistige Verbindlichkeit. Wir wollen vom Christus sprechen und müßten gerade, um richtig von Christus sprechen zu können, ein Seelisches haben, müßten, um richtig von ihm sprechen zu können, ein Göttlich-Geistiges haben. Denn haben wir beide nicht, so sprechen wir nur von dem Menschen Jesus, das heißt von dem, der im physischen Leibe unter den Menschen gewandelt hat, wie andere Menschen herumwandeln.

Will man den Christus erkennen, will man aus der Christus-Kraft heraus auch in der Schule wirken, dann braucht man nicht eine Seelenkunde in Worten, nicht eine Ethik in Worten, dann braucht man die lebendige Einsicht in das Leben und Wirken des Seelischen, dann braucht man die lebendige Einsicht in das Weben und Wirken der ethischen Kräfte in dem Sinne, wie die Naturkräfte wirken, als Realitäten, nicht bloß als konventionelle Gebote, denen man sich fügt aus Gewohnheit, sondern als Kräfte, in denen man leben will, weil man weiß, daß man stirbt im Geiste, wenn man nicht darinnen lebt, so wie man stirbt im Leibe, wenn einem das Blut erstarrt.

Diese Anschauungen in aller Lebendigkeit, sie müssen eben Lebensgut werden gerade für die pädagogische Kunst. Sie müssen als etwas, was belebt, was innerlich bewegt, was aus einem Toten ein Lebendiges bildet, dasjenige durchdringen, was der Lehrer in seinem Gemüte zu tragen hat, wenn er erziehen, wenn er unterrichten will.

Lebendig mit dem Kinde zusammenleben können

Wir sprechen heute von der Seele, ob wir Gebildete oder Ungebildete sind, in toten Worten, das heißt, wir leben nicht in dem seelischen Leben, wir plätschern herum um das Kind, denn wir haben keinen Zugang zu seiner Seele. Wir leben heute in den toten Worten, wenn wir vom Geiste reden. [...]

Heute ist man angelangt in einer Zivilisation, wo, wenn man es so ausdrücken darf – diejenigen, die auf diesem Gebiete Erfahrungen haben, werden das schon wissen –, wo die Kinder nicht mehr mitmachen, wenn man sie nicht berücksichtigt, wo die Kinder innerlich sich sträuben, wenn man beabsichtigt, sie eigentlich nicht gelten zu lassen, sondern nur den Erwachsenen berücksichtigen will.

Daher treten heute die Zweifel auf: Soll man so erziehen und unterrichten, daß man vor allem das Kind in der unmittelbaren Gegenwart als Kind behandelt, daß man das Kind unmittelbar ansieht, und nun dem Kinde eine solche Erziehung, einen solchen Unterricht angedeihen läßt, daß das Kind sich dabei befriedigt fühlt, oder soll man mehr Rücksicht darauf nehmen, in dem Kinde das zu erwecken, was das Kind einmal als Erwachsener sein muß?

Ja, sehen Sie, solche Fragen treten auf, wenn man nur noch in der Lage ist, den Menschen von außen zu beachten, wenn man gar nicht mehr darauf kommt, in das menschliche Innere hineinzuschauen. Freilich, wenn man mit einem Verstande, der entweder schon an experimenteller Psychologie herangebildet ist, oder schon nur die Gesinnung hat, die dann zu experimenteller Psychologie kommt, wenn man mit einem solchen Verstande erzieht, ja, dann kommt man eben nicht an das Kind heran. Denn das Kind trägt noch nicht sein seelisches Sein an der äußeren Oberfläche, daß man es nur zu verstehen hat. Beim Erwachsenen genügt es, wenn wir ihn bloß verstehen. Beim Kinde genügt es nicht, wenn wir es bloß verstehen. Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können. Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.

Aber wenn wir das können, wenn wir innerlich lebendig mit dem Kinde leben können, dann besteht für uns der Widerspruch nicht mehr, das Kind als Kind zu erziehen, oder den Erwachsenen im Kinde zu erziehen; dann wissen wir lebendig, daß wir dasjenige, was wir an das Kind heranbringen wollen, so heranbringen müssen, wie es das Kind selbst will, und dennoch den Erwachsenen im Kinde erziehen. Will denn das Kind in seinem innersten Wesen ein Kind sein? Dann würde es ja nicht mit der Puppe spielen, um nachzuahmen, wie der erwachsene Mensch zu dem Kinde eine Beziehung hat, dann würde ja das Kind nicht mit größter Freude, wenn irgendwo eine Werkstätte in seiner Nähe ist, mit den Arbeitern mitarbeiten in seiner Art, das heißt, mitspielen, aber das Spiel ist ihm ja rechter Ernst. Das Kind lechzt ja nur darnach, auf seine Art schon die Kräfte zu entwickeln, die die Erwachsenen entwickeln, aber eben auf seine Art.

Verstehen wir den Menschen und verstehen wir dadurch auch das Kind, dann kennen wir auch die Art und Weise, wie das Kind in sein Erwachsensein hineinstrebt, nur daß es statt des wirklichen Kindes nun die Puppe nimmt. Wir wissen dann auch in bezug auf alles das, was wir heranzuerziehen, heranzuunterrichten haben, wie wir dem Kinde die größte Freude machen, wenn wir in der richtigen Weise in ihm den Erwachsenen erziehen, aber nicht auf unsere nüchterne, trockene Weise, wo uns selber die Arbeit zuwider ist, wo wir ächzen unter der Arbeit, sondern wenn wir in der richtigen Weise in ihm den Erwachsenen erziehen, so, daß die Arbeit innerlich wie ein zweiter Mensch entsteht, was beim Kinde macht, daß die Arbeit noch in das ernste Spiel hineinergossen ist.

Wenn wir dies verstehen, innerlich lebendig verstehen, nicht in abstrakten Begriffen, dann lernen wir, überhaupt einen solchen Zweifel nicht mehr zu haben, ob wir nun den Erwachsenen im Kinde erziehen sollen, oder ob wir im Kinde das Kind erziehen sollen, dann schauen wir in dem jungen Kinde, wie der Keim des Erwachsenen in ihm ist. Aber wir reden jetzt mit diesem Keim des Erwachsenen nicht, wie wir mit einem Erwachsenen reden, wir reden eben, wie wir mit einem Kinde reden. [...]

Lernt man den Geist wirklich kennen, dann fängt er an, nicht bloß das abstrakte tote Gebilde zu sein, das heute der intellektualistische Mensch in sich hat, sondern ein innerlich Tätiges zu werden. Der Geist fängt an, selber die Summe der Wachstumskräfte zum Beispiel in dem werdenden Menschen zu sein. Alles wird innerlich regsamer und tätig. Der Geist wird schöpferisch, wird so dicht wie die Materie.

Lernt man die Materie richtig kennen, so verwandelt sie sich in Geist. Lernt man den Geist richtig kennen, verwandelt er sich vor unserem Seelenauge in Materie, die dasjenige ist, was der Geist in seiner Schöpferkraft nach außen hin offenbart. Und die Worte Materie und Geist, einseitig gebraucht, hören auf einen Sinn zu haben. Wenn wir aber anfangen, aus einer solchen Gesinnung heraus zu sprechen, dann reden wir vielleicht auch noch von Materie und Geist, weil die Worte einmal geprägt sind, aber wir reden ganz anders, indem wir das Wort Materie oder Stoff aussprechen, weil wir es gefühlsmäßig anders färben, wenn wir diese anthroposophische Erkenntnis haben, die ich gerade charakterisiert habe. Das Wort Materie und Stoff bekommt einen anderen, geheimen Klang. Dieser geheime Klang aber wirkt dann auf das Kind, nicht der Inhalt des Wortes Materie. [...]

Dann wird er auch als künstlerischer Erzieher, Unterrichter durch dasjenige, was er spricht, tut, ja selbst durch das, was er unsichtbar wirkt, durch seine bloße Anwesenheit als Erzieher, als Unterrichtender, an die Seele herankommen. Er wird wiederum den Zugang haben zur menschlichen Seele. Und er wird, wenn er das Kind ethisch erziehen will, wissen, daß er dann das Kind eingliedert in eine göttlich-geistige Weltenordnung; er wird aus dem, was auf der einen Seite übersinnlich ist, aus einer wirklichen Seelenkunde herausarbeiten und in dasjenige, was auf der anderen Seite übersinnlich ist, in eine wirkliche Geistigkeit hineinarbeiten.

Das, meine sehr verehrten Anwesenden, gibt der pädagogischen Kunst die wirklichen, die echten Grundsäulen. Die müssen erobert werden. Anthroposophie möchte sie erobern. Darum eine anthroposophische Pädagogik, nicht aus Willkür heraus, sondern aus einer Zeitnotwendigkeit heraus.