10.05.2010

Der Leiter der pädagogischen Akademie in Dornach offenbart die Spaltung

Von den Angriffen auf den Kern der Waldorfpädagogik

Entgegnung auf einen Leserbrief von Thomas Stöckli im "Goetheanum" Nr. 19 vom 7.5.2010.


In einem Leserbrief im "Goetheanum" vom 7.5.2010 reagierte Thomas Stöckli, einer der Leiter der sogenannten "Akademie für anthroposophische Pädagogik" in Dornach (!) auf mehrere kritische Leserbriefe, die nach dem Interview mit dem "Waldorfprofessor" Jost Schieren erschienen waren. Es ist außerordentlich aufschlussreich und auch erschütternd, wenn man sieht, wie in Dornach selbst längst nicht mehr für eine spirituelle Pädagogik eingetreten wird, sondern wie dort ein abstraktes, intellektuelles, akademisches Verständnis von "Waldorfpädagogik" verteidigt wird – gegen Bemühungen, wieder zu einer wahrhaften Vertiefung zu kommen...!

In meinem Leserbrief zum Interview mit Schieren hatte ich deutlich gemacht, dass die akademische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik keine Waldorfpädagogik mehr ist, weil sie deren spirituellen Kern gar nicht mehr erfassen kann. Rudolf Steiner sagte: "Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! ... Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts." Die Anthroposophie als Entwicklungsweg will in dem Erzieher durch eine innere Selbsterziehung Fähigkeiten wecken, die ihn immer mehr überhaupt erst fähig machen, wirklich mit dem Kinde zusammenzuleben!  Darum geht es, und um nichts anderes. Wie groß die Aufgabe ist, zeigt sich auch an einem anderen Wort Rudolf Steiners:

"So können wir als Erzieher durchaus in die Lage kommen, etwas heranziehen zu müssen, was uns überragt [...] [Der Lehrer] wird gleichwohl ein guter Lehrer sein können, weil es nicht auf die Übermittlung von Wissen ankommt, sondern auf die Individualität, auf das Lebendigmachen des vorirdischen Daseins. Dann erzieht sich eigentlich das Kind selber an uns [...] Wir erziehen, indem wir uns so benehmen, dass durch unser Benehmen das Kind sich selber erziehen kann."
13.10.1922, GA 217, S. 157.


Es geht darum, in eine solche innere Entwicklung zu kommen, dass man Anschluss an sein eigenes vorgeburtliches Wesen findet. Erst an diesem Wesen kann sich das Kind an uns selbst erziehen, weil wir erst dann durch unser eigenes Sein und Tun das Wesen des Kindes "hervorlocken", eine wahrhafte Erziehungskunst begründen...

"Dialogfähigkeit" und andere Phrasen als Waffe

Stöckli geht jedoch keinen einzigen halben Schritt in diese Richtung, sondern verbleibt ganz auf der Ebene der abstrakten, akademischen Diskussion, ja, mehr noch, auf der Ebene der Phrase.

Er spricht von einer "Selbstverständlichkeit" in Bezug auf den Dialog mit den Erziehungswissenschaften, dabei findet man in seinen Worten nirgends ein Verständnis der Waldorfpädagogik selbst. Er spricht davon, dass der Dialog mit anderen Sichtweisen Zeichen eines "souveränen, undogmatischen Umgang[s] mit den eigenen Überzeugungen" sei – und man fragt sich, wo sich seine Überzeugungen eigentlich überhaupt von der modernen Erziehungswissenschaft  unterscheiden...

Er lobt Schierens Aussagen in den höchsten Tönen, ist "beeindruckt von der Differenziertheit, der zukunftsträchtigen Ideenentwicklung und der Offenheit im Dialog, wie sie Schieren im Interview zum Ausdruck brachte." – und sagt außer der Phrase "zukunftsträchtig" eigentlich nichts Inhaltliches, geht auch in keinster Weise auf die grundlegenden Einwände ein, die ich in Worte gefasst habe.

Natürlich, immer wieder "Dialog" – das klingt gut. Und die anderen, die dann kritisch auf etwas ganz Entscheidendes hinweisen, sind dann automatisch "nicht dialogfähig", so suggeriert die ständige Wiederholung dieser Phrase vom "Dialog". Wenn man sich aber von der Erziehungswissenschaft gar nicht wirklich unterscheidet, dann kann man mit ihr einen wunderbaren, selbstverständlichen Dialog pflegen! Die Frage ist nur, was dabei herauskommen soll? Etwa die Anerkennung der Waldorfpädagogik, die gar keine mehr ist?

Wo ist das Unterscheidende, über das man in einen Dialog treten kann? Natürlich weiß ich, was jetzt alles genannt werden kann. Die Methodik, die Didaktik, der Dreischritt, der "Lehrplan", die Einbeziehung des übersinnlichen Wesens des Menschen in die Pädagogik und so weiter. Aber:

Alles, was mit der Methodik und Didaktik zu tun hat, ist noch nicht das innerste Wesen der Waldorfpädagogik, es kann so äußerlich wie jede andere Methode angewandt werden. Und die Rede vom Wesen des Menschen ist so lange eine Phrase, wie man nicht die Selbsterziehung des Lehrers ganz ins Zentrum der Pädagogik stellt. Denn im Zentrum der Waldorfpädagogik soll das Kind stehen, aber ohne eine wahre Selbsterziehung erlebt man das Wesen des Kindes gar nicht.

Wenn man davor fortwährend die Augen verschließen will, bleibt einem nichts anders übrig, als diejenigen zu verteufeln, die auf die Notwendigkeit und das Versäumen dieser Aufgabe hinweisen. Und wenn man jemandem vorwirft, "nicht dialogfähig" zu sein, so ist das in unserer heutigen Zeit die moderne Verteufelung.

Stöckli geht dabei sogar noch weiter. Er spricht zwar fortwährend vom "Dialog", er beklagt, dass man nicht fähig sei, "sich in den Ideengang Schierens einzuleben" – aber was tut er? Er beschimpft und verspottet jene Menschen, die sich um die Vertiefung und den wahren Kern der Waldorfpädagogik bemühen.

Und dann spricht er am Ende seines Leserbriefes sogar noch von dem Gedankenweg zu Christus! Auch das ist dadurch eine reine Verspottung des Christus selbst! Ich würde gern einmal hören und erleben, wie Thomas Stöckli (öffentlich) von Christus sprechen würde – wie er das machen würde. Es ist doch in seinen Worten nirgendwo etwas von Christus zu spüren, nichts vom Geist der Waldorfpädagogik, nichts von dem wunderbaren Wesen des Kindes...

Von der Realität der Spaltung

Und was wirft Stöckli mir in seinem Leserbrief und anderen Veröffentlichungen vor? Dass ich ein zutiefst wichtiges Buch empfohlen habe! Dass ich auf dieser Webseite dafür eintrete. Dass ich von zwei Arten von Waldorfpädagogik spreche. Und dass ich damit "eine Spaltung mit vorantreibe".

Ich frage nur: Ist Herr Stöckli blind oder sieht er nicht, dass diese Spaltung längst da ist? Es ist doch offensichtlich, dass es diejenigen Menschen gibt, die in dem abstrakten Sinne weitermachen wollen, in dem die Selbsterziehung keine, jedenfalls nicht im Ansatz die zentrale Rolle spielt – und dann die anderen Menschen, die eine tiefe Sehnsucht nach diesem wahren Kern der Waldorfpädagogik empfinden, weil sie spüren, dass sie erst so immer mehr in die Lage kommen, mit dem Wesen des Kindes mitzuleben...

Stöckli mag mir weiterhin die "Spaltung" vorwerfen und danach streben, dass die ganze Waldorfbewegung in seinem Sinne weitermacht. Ich sage: Ohne die Spaltung, die längst da ist, wäre die Waldorfbewegung längst hoffnungslos verloren. Wenn es keine Menschen mehr gäbe, die um die innerste Substanz ringen, und das heißt, um die Erweckung und Vertiefung ihres eigenen seelischen und geistigen Wesens, dann wäre die Waldorfpädagogik nur noch Phrase.

Und ich kann nur immer wieder die Worte Rudolf Steiners wiederholen:

"[...] Ohne das wird unsere Waldorfschule nur eine Phrase bleiben. Wir werden alles Schöne sagen über die Waldorfschule, aber wir werden auf einem durchlöcherten Boden stehen, bis solche Löcher so groß werden, dass wir keinen Boden mehr haben, auf dem wir herumgehen können. Wir müssen die Sache innerlich wahrmachen."
17.6.1921, GA 302, S. 95.


Die Sache innerlich wahrmachen es gibt Menschen, die danach streben. Wenn Stöckli behaupten wollte, auch er strebe danach, dann sollte er einmal ganz klar in Worte fassen, was er darunter versteht. Bevor man von "Dialog" spricht, muss man überhaupt verstehen, was der andere meint. Sein "Praxisforschungsansatz" ist mir hinreichend bekannt – aber die innere Verbindung zu dem spirituellen Wesen der Waldorfpädagogik, wie sie aus so vielen, vielen deutlichen Worten Rudolf Steiners klar wird, wird man vergeblich suchen.

Die Menschen, die nach der inneren Vertiefung streben, können sich untereinander durchaus sehr gut verständigen. Aber wahrscheinlich würde Stöckli, selbst wenn es noch so viele wären, ihnen allen "dogmatische Blindheit" und "fehlende Dialogfähigkeit" vorwerfen.  Es ist nur seltsam, wie heftig er selbst dasjenige abwehrt, worauf diese Menschen hinweisen.

Möge er nur weiter solche scharfen Angriffe führen, mit Phrasen um sich werfen, die Äußerungen seiner Wissenschaftskollegen "beeindruckt" in wunderschönen Floskeln loben und alle Bemühungen um wirkliche Vertiefung verspotten. Um so deutlicher werden andere Menschen merken, wes Geistes Kind die verschiedenen Strömungen sind, die heute existieren.

Die Spaltung ist in vollem Gange. Sie ist aber nur Ausdruck einer tiefgreifenden Krankheit – und die Krankheit heißt: Geistesleere. Jede Krankheit führt zu einer Krise – und in diesem Fall muss die Krise zwangsläufig zur Spaltung führen, wenn es keine "Krankheit zum Tode" sein soll...