Menschenerkenntnis
Vom erschütternden Wesen des Kindes – und seiner Vergewaltigung
Über die wahren Wirkungen der von uns zugelassenen "Realität" – und ihrer Eisbergspitze in Form des "Spielzeugs" – auf die Seele und das Wesen der Kinder.
Inhalt
Von dem wahren Sinn des "Behütens"
Die Unendlichkeit der Phantasie – und ihr Leichnam
Von der erschütternden Verantwortung
Von dem wahren Sinn des "Behütens"
Kurz vor Weihnachten griff ein Aufsatz in der ZEIT in wunderbarer Weise die "Spielzeugfrage" auf – und benannte klar die furchtbare Technik, mit der hier vorgegangen wird: "Die Spielzeugindustrie bietet etwas potenziell Schädliches an, privatisiert die Gewinne und sozialisiert die Risiken."
Dies ist das Kennzeichen unserer Zeit: Der Intellekt kümmert sich nicht um die moralischen Folgen seines Tuns – ja, er sieht sie zumeist nicht einmal! Und das lebendige Empfinden wird Tag für Tag abgestumpft, durch das, was jeden Tag mehr als "normal" gilt... Wenn das A- und das Un-Moralische sich ausbreitet und zum Normalzustand wird, dann wird das Moralische zu einem Relikt, über das man lächelt... "Heute müsste man jedenfalls eine Art Aussteiger sein, um dem Angebot gänzlich zu entgehen.", sagt einer, der dieses "Angebot" erst in die Welt gebracht hat!
Und die, die ihre Kinder noch ein wenig vor den heute allgegenwärtigen Eindrücken behüten wollen, gelten als hintergestrig, weltfern, "Heile-Welt-Dualisten" usw. Das Wort "behüten" wird auf diese Weise einem erstaunlichen Bedeutungswandel unterworfen. Der "Hüter" wird zu einer belächelten Figur! Man weiß gar nicht mehr, was Behüten bedeutet, weil man in sich selbst weder die Erkenntnis, noch den Willen dazu erwecken kann. Man meint, die Kinder würden "lebensfern", "naiv", "unselbstständig" erzogen und mit der "harten Wirklichkeit" später gar nicht zurechtkommen, wenn sie nicht schon jetzt ... ja, was eigentlich?
Man beugt sich vor der Wirklichkeit, indem man sie – sie ist ja nun einmal, wie sie ist! – in voller Stärke an die Kinder heranlässt. Man schafft erst eine kinderfeindliche Realität – und sagt dann, die Kinder würden lebensfern, wenn man diese Realität nicht auf die Kinder loslässt, und zwar so früh wie möglich! Die Bedeutung des "Behütens", des "Schutzes", ja aller "weiblichen" Qualitäten von Erziehung überhaupt (wobei gerade das Behüten genausostark "männlich" ist!), werden nicht im geringsten mehr in ihrem eigentlichen Wesen verstanden. Es ist aber das Wesen von Erziehung, im rechten Augenblick das Rechte zu tun.
Da wir aber immer mehr in einer bloßen Erwachsenenwelt leben, die auch für die Erwachsenen selbst immer un-menschlicher wird, ist heute alles zu früh – und vieles ist überhaupt nie richtig. Das muss man erkennen und auch tief empfinden wollen – dann erst wird sich der wirkliche Impuls des Behütens wieder entwickeln können. Mit der Ausrede, man müsse die Kinder auf die "Realität" vorbereiten, macht man es sich furchtbar bequem, denn das bedeutet, dass man nichts tun kann und auch gar nicht sollte! Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder der Realität angepasst werden? Oder sollten wir nicht langsam daran denken, die Realität unseren Kindern anzupassen?
Genau das tun Menschen, die all das, was nicht der wirklichen Entwicklung des Kindes dient, von ihren Kindern soweit wie möglich fernhalten. Sie schaffen selbst diejenige Realität, die ihren Kindern jene Entwicklung ermöglicht, die sie in diesem Moment brauchen. Kinder müssen Kinder sein dürfen – nicht Konsumenten von Bibigirl, Hannah Montana, Star Wars, Pokemon, Peter Fox und, und, und.
Die Unendlichkeit der Phantasie – und ihr Leichnam
Wir haben nicht einmal ansatzweise eine reale Ahnung davon, wie sehr alles, was unsere Kinder aufnehmen, von ihnen regelrecht "aufgesogen" wird und in ihnen weiterwirkt – in ihrer Seele und sogar in ihrem Leib. Und wir haben auch keinerlei Ahnung davon, wie sehr diese ganzen Figuren, Spielkarten, fertigen Erzählungen, vorgegebenen Bilderfolgen im Fernsehen usw. die Phantasie der Kinder verarmen, auf einen allerkleinsten Bereich beschränken und ganz real abtöten. Man überlege sich doch nur einmal in seinem eigenen (bei einem Erwachsenen immer schon sehr beschränkten, phantasiearmen) Intellekt, was ein Kind an Phantasieinhalten bekommt, wenn es eine Hannah-Montana-Serie sieht, wenn es sich in den Pausen mit seinen Pokemon-Karten und ihrem Tausch beschäftigt usw. – und was sich in völligem Gegensatz dazu für Welten auftun, wenn es z.B. "Ronja Räubertochter" liest.
Man kann den unendlichen Unterschied gar nicht tief genug empfinden! Im ersten Fall wird die Phantasie zu einem kümmerlichen, gleichsam völlig eingestampften, verkohlten Restdasein verurteilt, im anderen Fall wird sie überhaupt erst zu leben, zu atmen beginnen – ihrem Leben sind keinerlei Grenzen gesetzt, sie erhebt sich und fliegt bis in die Unendlichkeit...
Aber wo findet man noch gutes Spielzeug? Wunderbare Holzritterburgen z.B., mit kleinen Figuren, mit denen die Phantasie des Kindes aufleben kann und in die wirkliche (aber noch immer kindliche) Welt der Ritter eintauchen kann, bekommt man überhaupt nur noch in ausgewählten "Alternativgeschäften" oder auf e-bay... Welche Realität schaffen wir, wenn in jedem Einkaufszentrum nur noch die Standard-Playmobil-Ritterburg zu haben ist: Aus Plastik, mit scheinbar spannenden Symbolen, die in Wirklichkeit eine Imagination des Bösen sind und direkt aus "Herr der Ringe" stammen könnten; mit Drachen, die eher Tyrannosauriern gleichen; mit Rittern, die teilweise selbst Flügel haben etc. – Wenn man auch nur ein kurzes ahnendes Gefühl davon hat, dass schon die ersten zehn Minuten, ja schon der erste Augenblick, die erste Begegnung mit einer solchen "Burg" die Phantasie und das echte moralische Empfinden eines Kindes unmittelbar korrumpieren, dann ist man der Erkenntnis, was heute tagtäglich stattfindet, einen Schritt näher. Aber es ist überhaupt nur noch solches "Spielzeug" zu haben!
Wenn man wirklich weiß, was man will und was die Kinder brauchen, wird man es auch heute bekommen. Aber dann muss man sich ja noch mit den Geschenken von Verwandten, von Großeltern usw. auseinandersetzen! Wohl dem, der auch hier Menschen begegnet, die sich auf ein Gespräch einlassen und Verständnis entwickeln können. Wenn nicht, bleibt auch hier manchmal nur die Wahl, die eigene sichere Erkenntnis über das gute Einvernehmen im Einzelfall zu stellen. Natürlich brauchen Kinder auch eine ganz besondere Beziehung zu ihren Großeltern! Wie hier der Mittelweg zu finden ist, kann einem immer wieder nur die eigene Erkenntnis, die tiefste innere Stimme sagen.
Von der erschütternden Verantwortung
Kinder haben so viele Jahre Zeit, sich an die Realität anzunähern! Wir sollten ihnen das Schlimme, Falsche, Hässliche nicht auch noch aufdrängen! Um unsere Kinder davor behüten zu lernen, müssen wir es aber erst einmal erkennen lernen. Nicht die Kinder brauchen "Medienkompetenz" – wir Erwachsenen müssen uns überhaupt erst einmal wieder tiefes moralisches Empfinden, auch ästhetisches Empfinden erwerben! Wir müssen dahin kommen, dass wir eine innere Abneigung gegen alles Fertige, überall Aufgedruckte, "Bunte", Grelle, die Sensationslust und das rein passive Aufnehmen empfinden – schon im Kleinsten. Wir müssen dahin kommen, eine Sehnsucht nach dem zu fühlen, was nicht fertig ist, was zart bleibt, unaufdringlich, vieldeutig, freilassend. Nur das ist wirklicher Stoff für die Phantasie, die dann selbst aktiv wird, lebendig wird, erwacht – und sich eine ganze Welt hinzu-erschafft.
Wir müssen die Phantasie unserer Kinder wahrhaft lieben lernen. Wir müssen lernen, ehrfürchtig und staunend vor ihrem wahren Wesen zu stehen – und uns dann mit vollem Gewicht fragen, was wir ihr "anbieten". Dann werden wir zu dem wahren Hüter dieser Phantasie und auch des Kindes selbst.
Kinder haben so viele Jahre, bevor sie in der harten, farblosen, groben, aufdringlichen "Wirklichkeit" ankommen müssen. Und sie werden nicht weltfremd, wenn wir ihnen Zeit lassen, Zeit schaffen, Zeit erkämpfen. Im Gegenteil. Nur dann werden sie es schaffen, mit ihrem ganzen, unendlich wunderbaren Seelenreichtum, den sie mitgebracht haben und den sie entfalten wollen, in dieser Wirklichkeit anzukommen und diesen Reichtum in diese Wirklichkeit in vollem Umfang einfließen zu lassen – auf dass die Wirklichkeit durch ihr Wesen und ihre Taten eine ganz andere werden wird...
Kinder, die ohne Fernsehen, ohne Rapsongs mit völlig unkindlichen Texten, weitgehend ohne Pokemonkarten und ohne anderen für die Seele völlig wertlosen, ja zutiefst schädlichen Müll aufwachsen dürfen, sind heute eine Ausnahmeerscheinung. Sie fallen sofort auf durch ihre ... ja, wie soll man es nennen, ohne sogleich das Gelächter des ach so "realitätstauglichen" (-angepassten!) Intellekts aufzurufen? Man muss es einfach ehrlich und geradeheraus sagen: Sie fallen sofort auf durch ihre Reinheit, Unschuld, Anmut, kindliche Naivität, durch ihre erschütternd wahre und großartige Kindlichkeit. Und sie haben eine reine Liebe zur Welt, eine tiefe Neugier, eine tiefe Moralität, ein großartiges Empfinden für alles – und eine unbändige, wunderbare, rührende Phantasie.
Diese Kinder sind nicht realitätsfern und lebensuntauglich – im Gegenteil! In ihnen kommt die Realität des Moralischen, des Kindheitswesens, des werdenden Menschen, in ihnen kommt das wirkliche werdende Leben überhaupt erst zur Offenbarung! Sie öffnen uns überhaupt erst wieder die Augen dafür, wie sehr wir in einer Un-Realität versunken sind, in einer das Leben selbst verleugnenden Wirklichkeit, die für ihre Kinder nicht mehr übrig hat, als ein paar billige Fernsehserien, phantasielose Sammelkarten und totes Plastik.
"Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder..." Wenn wir dieses Christuswort nicht tief ernst nehmen, wird die Welt keine Zukunft mehr haben. Heute aber müssen wir schon darum kämpfen, dass unsere Kinder überhaupt noch Kinder sein dürfen...