Rudolf Steiner über Pädagogik

Diese Geisteswissenschaft muss einmal in vollem Ernste und in ganzer Stärke Wahrheiten ans Tageslicht bringen, welche die heutige Menschheit einfach nicht mag, ohne welche aber die Fortentwicklung der heutigen Menschheit nicht geschehen kann. Deshalb sausen wir so in die Dekadenz hinein, weil die Menschheit schon aus den alten Denkgewohnheiten ablehnt, was sie eigentlich seelisch zum Fortschritt braucht.
Rudolf Steiner, 9.6.1919, GA 192, S. 169.

 

Was der Erzieher tut, kann nur in geringem Maße davon abhängen, was in ihm durch allgemeine Normen einer abstrakten Pädagogik angeregt ist; es muß vielmehr in jedem Augenblicke seines Wirkens aus lebendiger Erkenntnis des werdenden Menschen neu geboren sein.
Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule, 1919, GA 298, S. 11

[D]er ist nicht wirklicher Lehrer und Erzieher, der Pädagogik sich angeeignet hat als Wissenschaft von der Kindesbehandlung, sondern derjenige, in dem der Pädagoge erwacht ist durch Menschenerkenntnis.
Oktober 1919, GA 24, S. 90.

Richtig in der Erziehung werden wir erst wirken, wenn wir uns ein gewisses Schamgefühl aneignen werden, wenn wir uns schämen werden, über Erziehung zu reden. [...] Heute redet jeder über Erziehung und über das, was er da für das Richtige hält. Aber Erziehung ist nicht etwas, was sich so in Begriffe fassen lässt, ist nicht etwas, dem man mit Theoretisieren beikommt.
14.10.1922, GA 217, S. 173f.

Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.
1.7.1923, GA 304a, S. 89.

Das Kind, das ich erziehe, darf ich nicht von mir aus bestimmen, sondern aus seinem rätselhaften Inneren habe ich herauszuholen, was mir selbst ganz unbekannt ist. [...] Wir werden nicht mehr fragen, ist der der beste Lehrer, der am besten den Unterrichtsstoff beherrscht, sondern wir werden fragen, was ist das für ein Mensch? [...] Man kann seine Lehrgegenstände vollständig innehaben, man kann eine lebendig wandelnde Wissenschaft sein, und doch ungeeignet sein zu lehren, weil man dasjenige, was vom Menschen ausströmt, was die Individualität aus dem anderen Menschen herauslockt, nicht kennt.
30.3.1905, GA 53, S. 312f.

Man mag es heute schon glauben oder nicht: Ein Lehrer, der diese Ehrfurcht vor dem werdenden Menschen hat, hat eine geheime Kraft in sich, durch die er ganz anders unterrichtet und erzieht, als ein Lehrer, der diese Ehrfurcht nicht hat, der glaubt, der Mensch wäre entstanden, indem er sich als physischer Leib losgelöst hat von dem Leib der Mutter. Denn man unterrichtet und erzieht nicht allein mit Begriffen und Ideen, man erzieht vor allen Dingen mit jenen geheimnisvollen Kräften und Mächten, welche als Imponderabilien übergehen von dem Lehrer auf das Kind.
18.9.1920, GA 199, S. 284.

Seelenstudium ist das wichtigste Element der Lehrerbildung. Nicht wie die Seele entwickelt werden soll, soll man wissen, sondern man muss sehen, wie der Mensch sich wirklich entwickelt.
Und jedes Zeitalter stellt andere Forderungen an den Menschen, so daß allgemein gültige Schemen wertlos sind. Zum Lehrer gehört nicht Wissen und Beherrschen der Methoden der Pädagogik, sondern ein bestimmter Charakter, eine Gesinnung, die schon wirkt, ehe der Lehrer gesprochen hat. Er muss, bis zu einem gewissen Grade, eine innere Entwicklung durchgemacht haben, er muss nicht nur gelernt, er muss sich innerlich verwandelt haben. Man wird einst beim Examen nicht das Wissen, ja nicht einmal die pädagogischen Grundsätze, sondern das Sein prüfen.
24.1.1907, GA 55, S. 136f.

So können wir als Erzieher durchaus in die Lage kommen, etwas heranziehen zu müssen, was uns überragt [...] [Der Lehrer] wird gleichwohl ein guter Lehrer sein können, weil es nicht auf die Übermittlung von Wissen ankommt, sondern auf die Individualität, auf das Lebendigmachen des vorirdischen Daseins. Dann erzieht sich eigentlich das Kind selber an uns, und das ist auch richtig; denn in Wirklichkeit sind nicht wir es, die erziehen. Wir stören nur die Erziehung, wenn wir unmittelbar zu stark in sie eingreifen. Wir erziehen, indem wir uns so benehmen, dass durch unser Benehmen das Kind sich selber erziehen kann. [...] Das können wir aber nicht durch das, was wir wissen, sondern nur durch das, was auf künstlerische Art in uns regsam ist.
13.10.1922, GA 217, S. 157.

Dadurch entsteht aber eben erst das richtige Bewußtsein im Lehrer. Und das hat er, wenn er sich sagt: Jede Erziehung ist im Grunde genommen Selbsterziehung des Menschen. [...] Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß.
20.4.1923, GA 306, S. 131.

Nicht fertige Begriffe dürfen wir dem Kinde übermitteln; wachstumsfähige Begriffe müssen wir dem Kinde entwickeln. Die Seele muß mit solchen Keimen ausgerüstet werden, die das ganze Leben hindurch wachsen können. Dazu ist notwendig, daß man das Kind nicht nur nach Grundsätzen unterrichtet; dazu ist eben notwendig, daß man mit dem Kinde zu leben versteht.
26.3.1923, GA 304a, S. 44.

Es kommt für die Erziehung darauf an, daß wir lauter bewegliche Vorstellungen und Empfindungen dem Kinde beibringen, die selber wachsen mit dem Wachsen des Kindes im Leibe, in der Seele im Geiste. Also nicht darum handelt es sich, dem Kinde fest konturierte Vorstellungen zu geben, sondern bewegliche Begriffe, die sich wandeln können. Wir sollten gar nicht den Ehrgeiz haben wollen, dem Kinde etwas beizubringen, was es so für das ganze Leben behalten soll, sondern etwas Bewegliches sollten wir ihm vermitteln. Wer die Erziehungskunst ganz ernst nehmen kann, wird das verstehen. [...] Der wirkliche Erziehungskünstler darf nicht denken, daß die, welche da vor ihm sitzen, nur ebenso gescheit sein müßten als er.
14.11.1923, GA 304a, S. 119.

Fürchten Sie durchaus nicht, daß wir aus dieser Schule eine Weltanschauungsschule machen wollen und etwa anthroposophische oder andere Dogmen den Kindern eintrichtern wollen. Das fällt uns nicht ein. [...] Wir wollen vielmehr gerade aus dem, was uns Anthroposophie ist, eine pädagogische Kunst entwickeln. Das "Wie" im Unterricht, das ist es, was wir gewinnen wollen aus unserer geistigen Erkenntnis. [...] Das "Was" ergibt sich aus den sozialen Notwendigkeiten; das muß man mit vollem Interesse ablesen an dem, was der Mensch wissen und können soll, wenn er sich als tüchtiger Mensch in die Zeit hineinstellen soll. Aber das "Wie", wie den Kindern etwas beizubringen ist, das ergibt sich nur aus einer gründlichen, tiefen und liebevollen Menschenerkenntnis. Die soll walten und wirken in unserer Waldorfschule.
13.1.1921, GA 298, S. 81f.

Die Waldorfschule ist ein in sich geschlossener Organismus, und es kann manches gerade bei den Prinzipien, die in dieser Schule herrschend sind, mißverstanden werden, wenn man nicht darauf sieht, wie die Schule als ein ganzer Organismus gedacht ist. Man kann zum Beispiel die Meinung haben, man besuche diese Schule ein, zwei, drei Tage, und man sähe sich an, was während dieser zwei, drei Tage getrieben wird, und man habe genug: man habe gesehen, wie in dieser Waldorfschule unterrichtet wird.
Das ist nicht der Fall. Man hat dann eigentlich nichts Besonderes gesehen. Dasjenige, was man da gesehen hat, ist vergleichbar mit einem Stück, das man aus einem ganzen Bilde herausgeschnitten hat, und nach welchem man nun das ganze Bild beurteilen will.
[...] Sodaß man viel mehr von der Waldorfschule kennen lernt, wenn man eben ihre Prinzipien kennen lernt, ihre ganze Struktur, das ganze organische Zusammenwirken, sagen wir, der achten Klasse mit der vierten Klasse, der ersten mit der zehnten Klasse, als wenn man ein einzelnes herausgeschnittenes Stückchen kennen lernt. Denn die Schulorganisation ist so gedacht, daß eben eine jede einzelne Betätigung in der Zeit an ihrer richtigen Stelle steht und mit dem Ganzen zusammenstimmt. Und von diesem Gesichtspunkte aus sind auch die einzelnen Unterrichtsfächer in die Schule hineingenommen.
17.8.1923, GA 307, S. 233f. 

Die Sache, um die es sich handelt, ist diese, daß die Menschen weitherzig werden, daß sie mit ihrem Herzen Anteil nehmen können an der Gesamtzivilisation. Das ist etwas, was durch die Prinzipien derjenigen Pädagogik, die hier vertreten wird, hineinzubringen versucht wird zuerst in die Lehrerschaft – denn zuerst hat es sich bei der Waldorfschule um die Erziehung der Lehrerschaft gehandelt – und auf dem Umwege durch die Lehrerschaft in die Schülerschaft. Und die Schülerschaft, das ist unsere große Hoffnung, unser Ziel, an das wir bei jeder einzelnen Maßnahme denken, die Schülerschaft soll es in rechtmäßiger Weise in das Leben hinaustragen.
17.8.1923, GA 307, S. 244f.

Diese Erziehung ist einzig und allein darauf gerichtet, dasjenige, was als Maßnahme da sein soll in Erziehung und Unterricht, aus dem Menschen selber herauszuholen, so daß der ganze Mensch nach Leib, Seele und Geist voll zur Entwickelung komme; auf der anderen Seite aber den Menschen so in das Leben hineinzustellen, daß er als Kind wiederum nach Leib, Seele und Geist, nach dem Religiösen, nach dem Ethischen, nach dem Künstlerischen, nach dem Erkenntnisleben hin gewachsen ist und sich diejenigen Tugenden entwickeln kann, durch die der Mensch seinem Mitmenschen am meisten nützlich und fruchtbar werden kann. Dadurch allein ist der Mensch ja ein wirklich richtig Erzogener, daß er seinen Mitmenschen am besten nach seinen Kräften dienen kann. Darauf muß im Grunde genommen jedes Erziehungsideal gerichtet sein.
17.8.1923, GA 307, S. 245.

Sie werden gesehen haben, daß es sich wahrhaftig, wenn auch das Waldorfschul-Prinzip einem ganz bestimmten Sprachgebiete entstammt, dabei durchaus nicht um etwas Nationales handelt, sondern um etwas im besten Sinne Internationales, weil Allgemein-Menschliches. Nicht den Angehörigen irgendeiner Klasse, nicht den Angehörigen irgendeiner Nation, nicht den Angehörigen überhaupt irgendeiner Einkapselung, sondern den Menschen mit den breitesten, herzhaftesten menschlichen Interessen wollen wir erziehen.
17.8.1923, GA 307, S. 245.

Bei dem Versuch, die pädagogische Aufgabe zu lösen, kommt es darauf an, den Grund zu erkennen, warum die guten Erziehungsprinzipien, die vorhanden sind, in so weitgehendem Maße zu nicht befriedigenden Ergebnissen führen. - Es wird doch zum Beispiel allgemein anerkannt, daß die sich entwickelnde Individualität des Kindes für die Gewinnung der leitenden Ideen im Unterrichten und Erziehen beobachtet werden müsse. In allen Tonarten wird dieser Gesichtspunkt als ein richtiger hingestellt.
Aber es gibt heute gewichtige Hindernisse, diesen Gesichtspunkt einzunehmen. Er erfordert, um in wahrer Praxis zur Geltung zu kommen, eine Seelen-Erkenntnis, die wirklich das Wesen des Menschen aufschließt. Zu einer solchen führt die Weltanschauung nicht, welche die geistige Bildung der Gegenwart beherrscht. Diese Weltanschauung glaubt nur dann einen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, wenn sie allgemeingültige Gesetze aufstellen kann. Gesetze, die man in festen Begriffen aussprechen und dann auf den einzelnen Fall anwenden kann. Man gewöhnt sich an das Streben nach solchen Gesetzen, wenn man seine Berufsbildung in den Bildungsanstalten der Gegenwart erwirbt. Auch die für den Erzieherberuf Vorgebildeten sind an das Denken in solchen Gesetzen gewöhnt. Aber die menschliche Seelenwesenheit widerstrebt der Erkenntnis, wenn man sie durch solche Gesetze fassen will. Nur die Natur ergibt sich diesen Gesetzen. Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muß man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muß zum künstlerisch Schauenden werden, wenn er das Seelische erfassen will. Man kann dozieren: ein solches Erkennen sei kein wahres Erkennen, denn es beteilige das persönliche Erlebnis an dem Erfassen der Dinge. Solches Dozieren mag noch so viele logische Vorurteile für sich haben; es hat die Tatsache gegen sich, daß ohne die Beteiligung des inneren persönlichen, des schaffenden Erfassens das Seelische nicht zu erkennen ist. Man schreckt vor dieser Beteiligung zurück, weil man glaubt, damit unbedingt in die persönliche Willkür des Beurteilens hineinzukommen. Gewiß, man kommt in diese Willkür hinein, wenn man sich nicht durch sorgfältige Selbsterziehung innere Objektivität aneignet.
Damit ist aber der Weg angedeutet, den derjenige einschlägt, der neben der auf ihrem Gebiete berechtigten Natur-Erkenntnis eine wahre Geist-Erkenntnis gelten läßt. Und dieser kommt es zu, das Wesen des Seelischen aufzuschließen. Sie muß eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen. Denn sie führt zu einer Menschen-Erkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. Und erst wer dieses vermag, für den gewinnt die Forderung, nach der Kindes-Individualität zu erziehen und zu unterrichten, eine praktische Bedeutung.
In unserer Zeit mit ihrem Intellektualismus, mit ihrer Liebe zur Abstraktion wird man das hier Ausgesprochene mit Einwänden zu widerlegen suchen, wie etwa der ist: es sei doch selbstverständlich, daß man allgemeine Ideen, die man über das Wesen des Menschen auch aus der gegenwärtigen Zeitbildung heraus gewonnen habe, für den einzelnen Fall individualisiere.
Doch um richtig zu individualisieren, so, wie es befähigt, die besondere Kindes-Individualität erzieherisch zu führen, dazu ist nötig, in einer besonderen Geistes-Erkenntnis den Blick für das erworben zu haben, was nicht als einzelner Fall unter ein allgemeines Gesetz gebracht werden kann, sondern dessen Gesetz erst an diesem Fall anschauend erfaßt werden muß. Die hier gemeinte Geist-Erkenntnis führt nicht, nach dem Vorbilde der Natur-Erkenntnis, zum Vorstellen allgemeiner Ideen, um diese im einzelnen Falle anzuwenden, sondern sie erzieht den Menschen zu einer Seelen-Verfassung, die den einzelnen Fall in seiner Selbständigkeit schauend erlebt. (...)
Wer aber auf die für dieses Gebiet sachgemäße Beobachtungsart eingeht, der schärft sein Seelenauge für das Individuelle der Kindeswesenheit. Ihm wird das Kind nicht zum "einzelnen Fall", den er nach einem Allgemeinen beurteilt, sondern zum ganz individuellen Rätsel, das er zu lösen sucht. (...)
Eine Pädagogik, die praktisch anwenden will, was theoretisch von vielen als gute Grundsätze verfochten wird, muß gebaut sein auf eine wahre Geisteswissenschaft.
Februar 1920, GA 24, S. 267ff und GA 300c, S. 9f. Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule