Selbsterkenntnis und Selbsterziehung
Michaeli und der Mut des Geistes
Gedanken zu Michaeli
In Zusammenhang mit der Waldorfpädagogik ist viel von übersinnlichen Realitäten die Rede. Wer mit dem eigentlichen Wesen dieser Pädagogik in Berührung kommen will, muss einen Weg beschreiten, mit diesen Realitäten mehr und mehr verbinden zu können. Man braucht nicht hellsehend zu werden, aber das innere Leben mit Begriffen, die sich auf seelische und geistige Wirklichkeiten beziehen, vertieft das seelische Erleben in ungeahntem Maße – und führt die Seele dem Geist entgegen.
Begriffe und Vorstellungen wie die wiederholter Erdenleben einer ewigen, sich in eine Leiblichkeit inkarnierenden Individualität können etwas Abstraktes bleiben. Dann läuft so etwas als blasses „Hintergrundwissen“ neben dem Leben her, man „hat“ es als Vorstellung, aber das eigentliche Leben wird davon doch recht wenig berührt. Je tiefer man aber dahin kommt, sich im Laufe der Jahre mit diesen Begriffen zu verbinden – die sich im Werk des Geistesforschers Rudolf Steiner ja in einer unvorstellbaren Breite und Tiefe immer weiter differenzieren –, desto mehr geht von ihnen eine real verwandelnde Kraft aus.
Dies geschieht natürlich nur, wenn die Individualität selbst es will. Doch ein zentrales Erlebnis hierbei ist gerade, dass die Seele, das eigene Wesen, eine immer bewusstere und tiefere Sehnsucht nach dem Geist empfinden kann. Das Erlebnis, dass das Geistige ihre eigentliche Heimat ist, ist dann keine abstrakte Redewendung mehr, sondern wird ein erschütternd reales Erleben.
Der Weg zu dieser inneren Vertiefung ist ein Weg der Verwandlung des Denkens. Konkret ist es ein Weg der Läuterung und der Wandlung – aber all diese Begriffe sind, abstrakt verstanden, so zutiefst nichtssagend und missverständlich, dass man eigentlich verstummen möchte, um das Gemeinte anders auszudrücken...
Auf dem Weg zum Geist ist die innere Fähigkeit der Hingabe von großer Bedeutung. Rudolf Steiner spricht von der Devotion oder Ehrfurcht als Grundbedingung jeder bewussten inneren Entwicklung. Auch dies sind heute abschreckende Begriffe. Aber diese Ehrfurcht soll sich insbesondere auf die Wahrheit beziehen. Es geht darum, sich innerlich die Fähigkeit und den Willen zu erringen, nicht zu allem sogleich ein Urteil zu haben, sondern zu ahnen, dass die eigentliche, die wesenhafte Wahrheit etwas ist, was durch das eigene Urteil gleichsam „vertrieben“ wird; dass man innerlich still, wartend und demütig werden muss, damit sich die Wahrheit nähern kann...
Diese innere Demut, vor der der Mensch eine so große Angst und auch Unfähigkeit hat, ist in Wahrheit eine große Stärke der Seele. Je reicher die Seele auf dem inneren Weg wird, desto stärker kann sie auch diese innere Bewegung entfalten, die ihr gleichsam eine ganz neue Welt eröffnet. Bildlich gesprochen kann man sagen: Der edelste Ritter kann sich innerlich und äußerlich am wahrhaftigsten und tiefsten neigen, wenn er vor seiner Königin steht. Wenn die Seele innerlich stark und edel wird, so wächst die wunderbare Fähigkeit der Demut wie von selbst – und die Seele selbst wird mehr und mehr königlich, weisheitsvoll. Die Seele wird mehr und mehr zur Sophia, zur Weisheit, die den Geist gebären wird...
Der Weg des Geistes
Alles kommt darauf an, mit den Begriffen, die uns über das nur Sinnliche hinausführen, ernst zu machen, sie nicht nur als abstrakte Vorstellung, als im Grunde wirkungsloses Wissen zu „haben“, sondern innerlich aktiv zu werden und zu versuchen, diese Begriffe wirklich stark zu erleben. Dieser Schritt, zu einem bewussten, möglichst starken, aktiven inneren Erleben einer Vorstellung und der darin enthaltenen realen Idee zu kommen, ist der entscheidende Schritt in die Richtung der geistigen Welt.
Wenn man dies einmal versucht, wird man sehr bald erleben können, in welch ungeahntem Ausmaß sich das Vorstellen und das Denken vertieft und lebendig wird, sobald man beginnt, darin wirklich die eigene innere Aktivität zu entfalten. Wenn man diese Erfahrung macht, erlebt man zugleich erschütternd, wie ungeheuer passiv und flüchtig man bisher vorgestellt und gedacht hat. Und gerade, wenn man versucht, diese innere Aktivität zu entfalten, merkt man, wie schwach und ohnmächtig diese zunächst ist. Man ist sich ihrer nun bewusst geworden, aber sie ist zu Beginn nur ein Keim – der unendlich verstärkt und vertieft werden kann.
Auf diesem Wege gewinnen die Begriffe immer mehr Leben, etwa derjenige der wiederholten Erdenleben – und immer unmittelbarer sieht man dann real, dass der einzelne Mensch eine ewige Individualität ist. Das Geistige ist nicht mehr nur ein abstraktes Wissen, das kaum mit der Alltags-Wahrnehmung zu tun hat, sondern es tritt mit in die Wahrnehmung ein. Man sieht den anderen Menschen ganz real „mit anderen Augen“, man denkt anders, man fühlt anders, man will anders als zuvor... Hier erst beginnt die wirkliche, moderne abendländische Spiritualität, auf der die Waldorfpädagogik aufbauen will.
Hier beginnen dann auch die physisch nicht sichtbaren Wesen für den einzelnen Menschen eine Realität zu werden. Reale, konkrete Begriffe von dieser Welt bilden die Pfade, die zu dieser Welt hinführen, wenn sie im aktiven inneren Erleben vertieft werden.
Michael ist eine Wesenheit, die unmittelbar mit dem Wesen der Wahrheit verbunden ist. Michael ist ein ernster, ein strenger Geist. In keiner Bewegung seines Wesens will er etwas anderes offenbaren als die geistige Welt selbst. Mit unerschütterlicher Kraft weist er all jene Mächte in die Schranken, die unter Führung des „Drachen“ die wahre geistige Welt verfälschen, vernichten wollen. Und er ist es auch, der dem Menscheninnern die Kraft und den Mut geben will, dasselbe zu tun, selbst auch ein Bezwinger der Drachenmächte zu werden...
Die Kraft Michaels ist es auch, die wir empfinden können, wenn wir innerlich im Denken aufstehen, wenn wir beginnen, unseren realen Willen in das Denken hineinzubringen und wirklich selbst zu denken, den einzelnen Gedanken und Begriff in unmittelbarster innerer Aktivität zu entfalten.
All dies kann zunächst nur Andeutung sein – etwas, was unbegrenzt zu vertiefen ist. Und doch wird man ahnen können, in welche völlig andere Wirklichkeit man auf diesem Wege hineinkommt.
... und der Alltag
Und mit großem Ernst, mit ernstester Wahrhaftigkeit kann man sich dann auch innerlich zu einem tiefen Erlebnis bringen, dass unsere gewöhnliche Welt des Alltags mit diesem reinen Reich des Geistes oft kaum eine Übereinstimmung hat. Wie sehr wird nicht unser Alltag regiert von Oberflächlichkeit im Wahrnehmen und Denken, im Fühlen und Handeln, von Unwahrhaftigkeit, mangelndem Ernst und allzu geringer Wahrheitsliebe, ja Liebe zur Weisheit! Durch die uns fehlenden Begriffe wissen wir nicht einmal mehr, um welch tiefe Realitäten es hier geht. Oder wer von uns nimmt die Weisheit, Sophia, noch als ein Wesen wahr? Und wer liebt die Weisheit, wer sehnt sich voller Stärke und mit Demut, ihr näher kommen zu dürfen, durch eigene innere Entwicklung der Seele?
Und wie schnell sind wir im Urteil über alles, über einander, wie wenig Sanftmut und Geduld waltet im Urteil... Wie wenig sehen wir im Mitmenschen den Geistesbruder, die Geistesschwester – wie sehr sehen wir nur „Eltern“, „Lehrer“, „Angestellte“, „Weisungsbefugte“, Gegner... Und wo sind unsere Geistesziele? Was ist die Sehnsucht unserer Seele? Und wenn wir „eine gute Schule“ wollen, wenn es uns um „Waldorfpädagogik“ geht – beginnt all dies nicht mit einem bewusst gewollten, realen Miteinander?
Aneinander gerät man nur da, wo man die Wege noch nicht gefunden hat, sich in den höchsten Strebenszielen zu begegnen. Wenn es gelänge, die Sprache, die Kommunikation und die Begegnung unter uns so zu gestalten, dass sie bis in diese „heilige“ Sphäre der tiefsten Strebensziele hinaufreicht, so würden wir wohl immer wieder das Erlebnis haben dürfen, dass uns unendlich viel verbindet und verbinden könnte, wenn wir es in die Begegnung heben könnten...
Wenn der Geist die wahre Grundlage der Waldorfpädagogik ist und wenn eine Schule ohne ein wirkliches harmonisches Miteinander niemals gedeihen kann, man jedoch im Alltag an unendlich vielen „Sachfragen“ immer wieder aneinander und ins Gegeneinander gerät – dann kann doch unmittelbar und stark die Erkenntnis vor dem inneren Auge aufsteigen:
Heilsam und verbindend kann nur die Arbeit am und das wirkliche Sich-Begegnen im Geistigen sein. Die gemeinsame Arbeit und Beschäftigung mit den geistigen Grundlagen der Waldorfpädagogik, mit der ihr lebendig zugrunde liegenden Weisheit, wie sie der Mensch in unserer Zeit ergreifen kann (Anthropo-Sophia) – ist dasjenige, was eine Schulgemeinschaft wirklich miteinander verbinden kann, was den realen Begriff der Gemeinschaft erst in letzter Hinsicht wahr zu machen vermag...
Welche Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen wollen sich zu einer solchen Arbeit zusammenfinden, um gemeinsam und gemeinschaftsbildend danach zu streben, das Geistige wirklich lebendig zu ergreifen?
Michaeli ist das Fest des Geistesmutes – des Mutes zum Geist!