07.11.2008

Gedanken zur Zukunft der Waldorfschulen

Die folgenden Gedanken entwickelte ich im Vorfeld eines Kolloquiums zur Zukunft der Waldorfschulen. | PDF

Es braucht Erkenntnismut...

Schaut man auf die Waldorfschulbewegung, muss man erleben, wie an vielen Schulen die innere Substanz fehlt – sowohl, was die anthroposophische Grundlagenarbeit betrifft, als auch den Bereich des Sozialen und die Selbstverwaltung.[1] Die Frage ist: Gibt es Menschen, die den Mut haben, offen auszusprechen, dass die Waldorfbewegung sich in einer Krise befindet?

Man kann dann trotzdem weiter mit der Krise leben – es bleibt ja nichts anderes übrig. Aber es ist kontraproduktiv, nur an den Grundlagen und damit am Ideal zu arbeiten (wenn man es täte!), ohne die Krise zuzugeben.

Das Ideal entfaltet seine Kraft gerade, indem man den Abstand der Realität zum Ideal zur Kenntnis nimmt (um so mehr, wenn sich dieser Abstand ständig vergrößert). Sonst entsteht die Illusion, man bewege sich ständig in der Nähe des Ideals oder tue zumindest das Mögliche. Das tut man aber nie! Und nur wenn man bereit ist, den Abstand, die Krise zur Kenntnis zu nehmen, kann das Ideal immer wieder zu einem kräftigen Aufruf werden, diesen Abstand zu überwinden.

Zuerst gälte es also, ganz wach zu sein – vor allem gegenüber dem Ideal (dem Wesen) der Waldorfpädagogik und der Realität und ihrem objektiven Verhältnis zueinander, ohne alle Beschönigung. Darin besteht eigentlich die Professionalität des Waldorflehrers: In dieser (Selbst)erkenntnis – und natürlich in der Liebe zum Ideal, die ihm immer wieder die Kraft geben kann, sich durch innere Arbeit diesem Ideal zu nähern.

Was man aber immer wieder erleben muss, ist eine Halbherzigkeit gegenüber dem Ideal, gegenüber der Selbsterkenntnis, gegenüber Kollegen, gegenüber der eigenen Verantwortung – und gegenüber den Schülern! Wenn man es mit dem Ideal und der Anthroposophie ernst meint, darf man sich selbst nie "herausziehen" – nie abstrakt und nur intellektuell werden, sei es gegenüber einem Steiner-Text, sei es gegenüber Kollegen oder Schülern. Es darf keinen Abstand, keine Distanz geben! (Das heißt nicht etwa, dass man einem Kollegen oder Schüler zu nahe treten soll – gemeint ist der Abstand zwischen dem Ich und dem Denken bzw. der Handlung. Jeder Gedanke, jede Handlung muss vom Ich durchdrungen sein – sonst ist sie zwangsläufig halbherzig und unwahrhaftig).

... Begeisterung und innere Arbeit

Wenn man sich den ersten Waldorflehrern zuwendet, kann man begeistert (mit)erleben, wie diese noch zutiefst von Begeisterung durchdrungen waren – einer Begeisterung, die sich etwa darin zeigte, dass das spirituelle Menschenbild der Anthroposophie wirklich im Zentrum ihres Denkens, Fühlens und Handelns stand. Man lese z.B. nur einmal das Büchlein "Bewusstseinsfragen des Erziehers" von Annie Heuser. Heute dagegen erlebt man, wie dieses Menschenbild in Waldorfschulen mehr "wie nebenherläuft", jedenfalls nicht mehr hell strahlend den pädagogischen Alltag und die Stimmung im Kollegium durchdringt.

Auch heute noch leisten die meisten Waldorflehrer viel, an erster Stelle sicherlich eine engagierte Unterrichtsvorbereitung. Parallel klagt fast jeder über eine Überlastung. Hier liegt aber zugleich das große Problem: Der pädagogische Alltag samt den Aufgaben der Selbstverwaltung ist heute die Hauptsache – eine kräfte-(ver)zehrende Hauptsache. Der "Alltagszwang" verdrängt immer mehr das, was eigentlich die Hauptsache sein müsste: Die innere Arbeit an der Anthroposophie, die Selbsterziehung. Wenn Rudolf Steiner sagte: "Jede Erziehung ist Selbsterziehung", dann meinte er vor allem die Erzieher! Die Frage ist also: Wie kann das Eigentliche wieder die Hauptsache werden? Dies ist gar nicht quantitativ-zeitlich gemeint, sondern als ein alles andere kräftig durchziehender, durchstrahlender Impuls!

Die Zukunft der Waldorfpädagogik hängt also voll und ganz von dem Impuls gegenüber der Anthroposophie selbst ab. Auch der pädagogische Impuls kann letztlich seine Kraft nur aus der Begeisterung für das spirituelle Menschenbild, das spirituelle Weltbild, die geistige Welt selbst und den unendlichen Perspektiven der Selbsterziehung schöpfen. Aus diesem Impuls ergäbe sich alles andere. Nur so kann auch die Selbstverwaltung heilsam und fruchtbar werden. Nur so könnte die Waldorfschule ihrem Kulturauftrag gerecht werden: Man würde einfach anders in der Welt stehen.

Wenn die Frage gestellt wird: Braucht es eine Renaissance der Waldorfpädagogik? – dann lautet die Antwort: Es braucht eine Renaissance der Anthroposophie in der Waldorfpädagogik.

Manch einer denkt bei einer solchen "Diagnose" vielleicht: Nicht schon wieder einen Rückfall in den Dogmatismus. Aber dieser früher oft anzutreffende Dogmatismus war gerade die Krankheit! Schon damals war die Verbindung zur Anthroposophie zu wenig echt – gerade dies ist ja das Wesen des Dogmatismus. Heute erleben wir den Gegenschlag dieses Dogmatismus: Heute fällt die Anthroposophie gleichsam ganz weg. Die Waldorfpädagogik wird zu einer Methodenpädagogik. Prägnant formuliert: Wurde früher bereits ein Kaugummi-Verbot "anthroposophisch" begründet, gibt es jetzt an sehr vielen Waldorfschulen nicht einmal mehr Kinderbesprechungen oder andere innerste Grundlagenarbeit.

Die pädagogische Aufgabe des 21. Jahrhunderts:

Die moderne Hirnforschung kann eigentlich die Impulse der Waldorfpädagogik nur voll und ganz bestätigen. Sie belegt nämlich die grundlegende Bedeutung der menschlichen Beziehungen und der emotionalen Beteiligung für alle Lernvorgänge. Se belegt, wie wichtig es ist, dass gerade das junge Kind vielfältige Erfahrungen mit allen Sinnen machen kann. Und sie belegt die Wichtigkeit ernsthaften Übens, aber auch ganzheitlicher Erlebnisse und sinnhafter Zusammenhänge, wenn Lernen fruchtbar und dauerhaft sein soll.

Dennoch ist die Waldorfpädagogik viel mehr als eine Anwendung dieser ihr schon seit über 80 Jahren bekannten Prinzipien. Es geht ihr nicht um die zweckrationale Erkenntnis: "Wir müssen ganzheitlich erziehen, weil das Gehirn sich dann optimal bildet". Sondern: Wir wollen ganzheitlich bilden – und zwar nicht das Gehirn, sondern das geistige Wesen, das der Mensch ist. Das Geistwesen wird durch die Waldorfpädagogik genährt und es ist das Geistwesen, das das Gehirn bildet.

Selbst die moderne Pädagogik, der es wirklich um das Kind geht und die ebenfalls betont, dass ein Kind mehr ist als ein Fass, das mit Wissen befüllt werden muss, behandelt das Kind zwar wie ein Individuum, aber sie bleibt auf halbem Wege stehen – auch sie hat kein spirituelles Weltbild, mit dem sie begründen könnte, warum sie so handelt, wie sie es tut. Und damit begeht sie auch jede Menge Fehler, weil sie auch mit "selbst-entdeckendem Lernen" usw. dem Kind nur einen Bruchteil von dem geben kann, was es als seelisch-geistiges Wesen bräuchte.

Die pädagogische Aufgabe des 21. Jahrhundert ist es: Den Menschen erkennen, ein wirklich spirituelles Menschenbild erringen. Irgendjemand hat einmal gesagt: "Pädagogik ohne Spiritualität ist unprofessionell". Genau darum geht es. Und die zweite Aufgabe wäre: Die Pädagogik von allen Außenzwängen befreien – von den Einflüssen und dem Kalkül des neoliberalen Wirtschaftslebens, vom Staat und letztlich selbst von der modernen Hirnforschung.

Spirituelle Erkenntnis, Liebe, Selbsterziehung

In der Pädagogik geht es um Sinneserlebnisse und um (seelisch-geistige) Sinn-Erlebnisse. Letztlich geht es immer um die Beziehung zur Welt und zum Menschen – im Grunde um die Liebe. Die Liebe als eine Fähigkeit, die sich erst entwickeln muss, ist das Ziel jeder wahren Pädagogik.

Die wichtigste Grundlage für eine wahre Pädagogik ist damit die Liebe des Lehrers. Rudolf Steiner weist darauf hin, wie dies mit Dankbarkeit und sogar religiöser Ehrfurcht gegenüber der Tatsache, dass man Kinder erziehen darf, beginnt. Diese Liebe beweist sich natürlich gerade da, wo es schwierig wird. Da kommt es darauf an, dass man sich nicht aus der Situation herauszieht, dass man mit seinem Ich darinnenbleibt, dass man um das Kind, um die Situation, um die Liebe wirklich kämpft. Und sich der vollen eigenen Verantwortung bewusst ist, dass "man eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat" (Rudolf Steiner).

Nun ist es aber immer wieder so, dass sich Lehrer doch aus der Situation herausziehen. Dann wird ein Schüler abgeschrieben. Dann wird die Schuld beim Schüler gesucht, bei den Eltern, vielleicht sogar bei der eigenen "mangelnden Kraft" – alles, um sich der eigenen Verantwortung nicht (mehr) bewusst zu werden. Dabei ist das Bewusstsein der (unentrinnbaren) Verantwortung gerade der Kraftquell, der über alle Hindernisse hinweghilft. Und ein ganzes Kollegium mit dieser Gesinnung könnte erst recht wirklich und wahrhaftig Berge versetzen.

Die pädagogische Aufgabe im 21. Jahrhundert ist also die Liebe, begleitet von Erkenntnis (Menschenkunde).

Diese Aufgabe ist nur erfüllbar durch fortwährende Selbsterziehung. Alles andere ergibt sich – man muss es wirklich so sagen. Aus der inneren geistigen Arbeit einer meditierten Menschenkunde, aus meditativen Rückblicken auf einzelne Kinder und die ganze Klasse, ergeben sich jene originellen spezifischen Einfälle, die notwendig sind. Dies ist aber nur aus voller Begeisterung heraus möglich. Man muss für all dies innerlich wirklich brennen, jeden Tag, jede Minute. Es geht gar nicht anders. Wenn man diese Begeisterung wirklich hat, ist sie eine ewige Flamme. Und wenn man sie nicht hat, muss man sie entzünden lernen. Es geht um Selbsterziehung!

Man kann bestreiten, dass die pädagogische Aufgabe im 21. Jahrhundert die Liebe ist, aber dann würde man sich selbst verleugnen, denn aus welchem Motiv hat je ein wahrer Lehrer seinen Beruf ergriffen, wenn nicht aus Liebe? Weil dies aber die wesentliche Grundlage des Lehrerberufes ist, muss ein Lehrer sich vor allem darum bemühen, sie zu stärken und immer mehr zu vertiefen, zu verlebendigen. Dann wird sie auch ganz real der Quell seines pädagogischen Handelns bis ins Einzelne. Ohne diese innere Arbeit jedoch nützen selbst die schönsten Methoden nichts – sie gehen am eigentlichen Ziel noch immer vorbei und versagen in den vielen Ernstfällen des Lebens.[2]

"Solche Vorträge wie die, die ich gehalten habe, werden erst dann ihr Ziel erreicht haben, wenn sie nicht mehr gehalten zu werden brauchen (...), sondern wenn man wiederum eine Weltanschauung haben wird, eine Erkenntnis, in der schon die Erziehung so enthalten ist, daß wenn der Lehrer (...) diese Weltanschauung hat, daß er dann wiederum, und zwar aus seiner vollen Naivität heraus, die instinktive Kunst des Erziehens kann."
Rudolf Steiner, 25.8.1922, GA 305, S. 177f.

Anmerkungen

[1] Eine Ursache ist sicherlich, dass von allen Lehrern, die jährlich an den Waldorfschulen neu zu arbeiten beginnen, überhaupt nur etwa die Hälfte eine Waldorfausbildung hat. Aber auch die Absolventen einer solchen Ausbildung interessieren sich in sehr unterschiedlichem Maße für die anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik – und in den Kollegien der Schulen ist es ebenso. Die innere Verbindung zu diesen essentiellen Grundlagen wird immer schwächer.

[2] Auch hier darf man sich keinen Illusionen hingeben. Man meint, man tut "sein Bestes" und "das Beste" für die Kinder, aber innerlich ist man getränkt mit Verzweiflung, Vorwürfen, Antipathien ... man erwartet Dankbarkeit, aber merkt nicht, dass man selbst die Liebe längst verloren hat.