Von Krieg und Kinderlächeln

Nach dem russisch-georgischen Krieg im Sommer 2008 reiste eine Gruppe von Menschen nach Georgien, um einem Dorf und seinen Kindern die Hoffnung und die Freude wiederzugeben... Pädagogisch-therapeutische Nothilfe nach dem Trauma von Krieg, Flucht und Schrecken.

Quelle: stART international e.V.


Inhalt
Zwischen Rosen, J.S. Bach und US-Aid-Lebensmittelhilfe (Barbara Schiller)

Nothilfeeinsatz in Georgien (Myrta Faltin): Was brachte uns hierher? | Lebensbedingungen in Samtavisi | "Absolut ausgehungert" - die pädagogische Arbeit.
Von Krieg und Kinderlächeln (Barbara Schiller): Rückblick auf den Beginn | Schrecken und Angst ohne Ende | Ausweitung der Arbeit - und ihre Früchte.


Zwischen Rosen, Johann Sebastian Bach und US-Aid-Lebensmittelhilfe

Ein Bericht über den pädagogisch-therapeutisch-künstlerischen Nothilfeeinsatz für Kinder und Jugendliche in Georgien nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien im Sommer 2008.


Es ist ein sonnig-milder Herbsttag im Oktober 2008. Wir fahren mit unserem Wagen auf einer einsamen Straße Richtung Kaukasus.
Die Aussicht auf die Berge in der Ferne ist herrlich. Meine georgische Kollegin, die Bildhauerin Nestan Jolia fährt sehr langsam. Ich selbst sitze auf dem Beifahrersitz, vertieft in eine Landkarte. Die sehr detaillierte Karte zeigt uns alle Orte und Straßen mit Minengefahr an.

Allen im Auto ist die Besonderheit und Gefahr, aber auch die unwirkliche Stimmung der Situation bewusst. Vor wenigen Tagen noch war die ganze Gegend, die sogenannte Pufferzone, vom russischen Militär besetzt. Jetzt, nachdem sich das Militär aus diesem Teil Georgiens zurückgezogen hat, haben wir uns dazu entschlossen, selber zu schauen, wie es in den Dörfern der Gegend ausschaut, um anschließend zu entscheiden, ob unsere Form der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Katastrophensituationen hier nützlich sein könnte.

Die Minen, die das Befahren einiger Straßen, das Spielen und das freie Sich-Bewegen auf diversen Wiesen, Feldern und in verschiedenen Dörfern lebensgefährlich machen, sind eine der Folgen des glücklicherweise nur relativ kurzen Sommerkrieges zwischen Russland und Georgien und der anschließenden Besetzung.

Rechts und links der Hauptstraße sehen wir ausgebrannte Häuser. In der Nähe des russischen Checkpoints halten wir an, um Menschen nach der Sicherheitslage zu befragen.

Ein Mann und eine Frau stehen mit von Ruß verfärbten Armen und Kleidern am Straßenrand. "Das war mein Haus", sagt die Frau mit Tränen in den Augen ohne Umschweife, indem sie mit der Hand auf das ausgebrannte Haus hinter sich zeigt. "Ich hatte alles: einen Garten, Kühe, einen Hund, einen kleinen Laden – und sogar ein Klavier." Auf der ehemaligen Terrasse des herrschaftlichen Hauses können wir einige verkohlte Kakteen sehen. Es ist ein Leichtes, sich vorzustellen, wie es hier einmal aussah. Der Familie ging es sicher relativ gut. Nun aber haben sie fast alle ihre Habe verloren.

Wir nennen unsere Namen, sagen, woher wir kommen, und die Beiden erzählen uns ihre Geschichte.

Nach kurzer Pause meint die Frau: "Menschen aus Europa! Und sie sind tatsächlich an unserem Schicksal interessiert?!" Sie ist bewegt. Dann meint sie: "Warten Sie einen Augenblick!" Ich sehe sie in den ehemals bestimmt sehr gepflegten Garten gehen. Nach wenigen Momenten kehrt sie zurück – mit einem Arm voller Rosen. Diese überreicht sie uns mit einem Lächeln. Mir fehlen die Worte. Die Rosen sehen zauberhaft aus – altrosa, sanftes rot, etwas gelb – und sie duften wundervoll. Ich lächle zurück – und wir nehmen Abschied.

Auf der Weiterfahrt ist es still in unserem Wagen. Diese tief-menschliche Geste bewegt uns alle.

Um eben diese Geste, um die Menschlichkeit, das Mensch-Sein und Mensch-Bleiben geht es auch in unserer Arbeit. Wir – das sind 7 Menschen aus Deutschland und Italien und 5 Menschen aus Georgien – alle aus den unterschiedlichsten waldorfpädagogischen, kunsttherapeutischen, medizinischen und künstlerischen Zusammenhängen: Waldorf- und Heilpädagogen, Kunsttherapeuten, Heileurythmisten, ein anthroposophischer Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater und Traumaexperte, Bildhauer, Sprachgestalter, Musiker, Plastizierer und für die soziale Kunst – ein interkultureller Teambildner. Uns alle verbindet der selbe geistige Hintergrund und die gemeinsame Aufgabe. Diese besteht darin, im Auftrag der Elisabeth Gast Stiftung nach dem Sommerkrieg zwischen Russland und Georgien einen pädagogisch-therapeutisch-künstlerischen Nothilfeeinsatz für Kinder und Jugendliche durchzuführen

Barbara Schiller (Projektleiterin), 30.11.2008

Nothilfeeinsatz in Georgien

Durch das verkehrsreiche Tiflis geht die Fahrt etwa 40 Minuten Richtung Westen. Die Autobahn führt, zwischen den Bergketten des verschneiten Kaukasus, vorbei an Mzcheta, der alten Hauptstadt, vorbei an uralten Kirchen, ganz neuen Flüchtlingssiedlungen und verjüngt sich schon längst vor Gori, der Geburtsstadt Stalins, zu einer Landstrasse. In einer Kurve zweigen wir ab, auf eine Buckelpiste, die uns in die ehemalige Pufferzone bringt. Dort werden wir 2 Wochen lang in drei verschiedenen Schulen arbeiten. Erst seit wenigen Wochen kontrolliert ein Blockposten der georgischen Polizei die einfahrenden Autos. Die Anspannung der Polizisten ist spürbar, immer wieder werden Posten von den nahe gelegenen, russisch besetzten Gebieten aus erschossen.

Dieses Gebiet, von den Georgiern liebevoll Kartli genannt und als das Herz Georgiens angesehen, ist jetzt auf dem Abstellgleis. "Zu uns kommen eigentlich nur Scharfschützen und Minenräumkommandos" (die Direktorin von Samtavisi bei unserem ersten Besuch im Oktober)

Was brachte uns hierher?


Um dies zu verstehen, sei ein kleiner Rückblick erlaubt.

Im September 2006 bildete sich ein Team von Therapeuten und Pädagogen, das im Auftrag der "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V." in den Libanon fuhr, mit der Aufgabe, traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu helfen. Ein weiterer Libanon-Einsatz, wieder unter der Leitung von Barbara Schiller, fand fünf Monate später statt. Diese Pioniergruppe bildete sich vielseitig fort, um weitere Nothilfeeinsätze für Kinder nach Katastrophen professionell zu gestalten.

Ende Juli 2008 wurde beschlossen einen eigenen Verein zu gründen, dessen Zweck sich ganz auf die künstlerisch-therapeutisch-pädagogische Nothilfe konzentriert. Der neu gegründete Verein stART international emergency aid for children hat seinen Sitz in Gröbenzell. Schon wenige Tage später gab es leider Krieg in Georgien, und Barbara Schiller wurde von Elisabeth Gast gebeten, einen Nothilfeeinsatz in Georgien zu leiten. Im Namen der Elisabeth-Gast-Stiftung, die ihren Sitz in Baldham hat und seit Jahren georgische Künstler in sozialen Projekten unterstützt, begann das erste Projekt am 27. September 2008. Sieben Deutsche und ein Italiener fuhren für drei Wochen nach Tiflis und arbeiteten gemeinsam mit zunächst fünf georgischen Künstlern in vier Flüchtlingslagern.

Da unserer Arbeit große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, konnte sich das Projekt sehr ausweiten. Seit September werden in fünf Flüchtlingslagern und drei Schulen künstlerische Angebote für Kinder und Jugendliche zwischen 3 und ca.18 Jahren veranstaltet, zwei Kindergärten wurden in Flüchtlingslagern gegründet, in denen fünf Tage die Woche Kinder Kontinuität und Sicherheit erleben dürfen. Während das georgische Team stetig wachsend weiterarbeitet, fahren Barbara Schiller und unser italienischer Kollege Francesco Zoccarato monatlich für zwei Wochen nach Tiflis, jeweils begleitet von ein bis fünf weiteren deutschen Therapeuten und Pädagogen. Die Lehrer der drei Dorfschulen in der Ex-Pufferzone erlebten, wie freudig ihre Schüler die künstlerischen Nachmittagsangebote wahrnahmen und baten darum auch etwas für sie zu veranstalten, das sie und ihren Unterricht beleben könne.

So kamen wir im Februar nach Samtavisi, um dem Wunsch nach einer Lehrerfortbildung zu entsprechen. Zwei weitere Schulen im näheren Umkreis wurden ebenfalls durch wechselnde Fachkräfte aus unserem deutsch-georgischen Team unterstützt.

Lebensbedingungen im Dorf Samtavisi


Unser Ziel, nach einem Kilometer Holperstraße, ist Samtavisi, im vierten Jahrhundert nach Christus ein wichtiger Ort, von dessen großer Zeit noch eine große Kirche zeugt.
Heute ist Samtavisi ein kleines Dorf, in dessen "Gesamtschule" 115 Schüler lernen dürfen, Förderschüler Seite an Seite mit den Gymnasiasten. Nach zwölf gemeinsamen Schuljahren steht ein Abitur, was nur mit Privatlehrer erreichbar wird und in Europa dennoch nicht anerkannt ist.

Die Schule wurde zu kommunistischen Zeiten für 400 Schüler geplant, leidet also nicht unter Platznot, eher unter Schülermangel. Ein Backsteinbau, unvollendeter Art. Früher, zur Sowjetzeit gab es Strom und eine Zentralheizung, die durch ein kohlebetriebenes Heizhaus gespeist wurde. Heute gibt es in manchen Zimmern einen kleinen Holzofen, der im Sommer wieder abgebaut wird. Das Ofenrohr geht durch ein Loch im Fenster nach draußen. Die Kinder spalten und heizen sehr selbstständig, frieren aber trotzdem, manche auch mangels Anorak. Zu unserem Erstaunen scheint niemand daran Anstoß zu nehmen, wenn Schüler auch das Inventar, z.B. Holzrahmen, verheizen. Oft raucht es so schlimm, dass alle nur noch weinen können. Auch wir riechen schnell wie Räucherschinken. Mittags wird für uns auf so einem Öfchen gekocht. Wasser gibt es auch nicht im Haus, das wird an einer gefassten Quelle geholt. Damit wir uns die Hände waschen können, gießt uns eine Lehrerin Wasser aus der Flasche über die Hände!

Strom gibt es nur für das Computerzimmer, von der Straße abgezapft! Ja, richtig, ein Computerzimmer, kein Klo, aber gesponserte PCs, allerdings ohne Internetzugang. Den hat seit dem Krieg niemand mehr. Einzig die Fenster sind hier neu, denn die waren im Krieg alle kaputt gegangen.

Es gibt zwar ein Klohäuschen im Garten, aber da ist nur ein Loch im Boden, die Türe kann man nicht absperren. Jeder einsame Busch wäre Luxus dagegen!

Auf dem Schulhof gackern die Hühner herum, auf dem Weg laufen die Kühe vorbei. Gegenüber befindet sich das türenlose Gebäude der allerersten Kommune Georgiens, das jetzt von Mittellosen bewohnt werden darf, die nirgendwo Familie haben.

Wie leben die Kinder in ihren Familien? Alle schlafen bei den Eltern im Schlafzimmer, das ist so üblich. Bei vielen Familien ist es seit dem Sommer noch enger geworden, weil Verwandte unterschlüpfen mussten, die im Krieg alles verloren haben. Die verheiratete Tochter, die nur wenige Kilometer weiter wohnte, musste mit Mann und Kind fliehen, ein Zurück gibt es nicht mehr. Für ihren 13-jährigen Bruder bedeutet das, dass er seine Hausaufgaben im kalten Zimmer machen muss, oder im geheizten mit vielen Menschen gemeinsam.

Die Schüler, die alle über Konzentrationsschwierigkeiten klagen, haben mit vielen Erschwernissen dieser Art zu kämpfen. Fast alle leiden unter Schlafstörungen und Ängsten. Dazu kommt, dass jetzt nicht nur sie selber, sondern auch die Eltern gereizter sind und es häufiger zu Streit kommt. Viele Kinder werden geschlagen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50-80%. Am Land gibt es immerhin noch sinnvolle Aufgaben, die die Selbstversorgung mit sich bringt. In den Flüchtlingslagern in Tiflis konnte man zusehen, wie die Männer die ihr Land verloren hatten, dem Alkohol verfallen.

Marina z.B., unterrichtet die zweite und vierte Klasse, insgesamt neun Kinder im gleichen Raum. Sie hat selber 3 Kinder, ihr Mann ist seit 15 Jahren arbeitslos... alle Köstlichkeiten, die sie uns jeden Mittag auftischt, entstammen eigenem Anbau, vom Käse zum Rindfleisch, vom Hühnerfleisch zu den Eiern, alles Gemüse, das Obst, der Saft, der Wein, alles selber erwirtschaftet und eingemacht! Anders ginge es auch nicht, denn ein Lehrer verdient 180 Lari, das entspricht 90 Euro, was in Georgien auch geradezu nichts ist.

Unverdrossen tut sie alles um uns die Arbeit zu erleichtern und saugt wie ein Schwamm alles auf, was wir anregen.

Das Kollegium scheint nur aus Frauen zu bestehen, der Altersdurchschnitt liegt deutlich höher als bei uns (es gibt keine Rente), was bedeutet, dass alle ihre Ausbildung noch zu Sowjetzeiten genossen haben, die Schulausbildung ja sowieso. Es gibt für jedes Fach ein Buch, dessen Programm verpflichtend ist. Der Stoff wird eingetrichtert bis er abfragbar ist, Fragen und Eigeninitiative der Schüler werden nicht gepflegt. Bevor ein Schüler nachdenken und auch einen Fehler riskieren kann, wird die richtige Antwort schon gegeben.

"Absolut ausgehungert" die pädagogische Arbeit


Eva Assmann ließ also mit Genuss die Lehrer am eigenen Leibe erleben, wie schön es ist, Fehler machen zu dürfen.
Da mühten sich nachmittags in Samtavisi und den anderen beiden Schulen bis zu 20 Lehrerinnen Flächen in Würfel zu denken und zu zeichnen. Gar nicht so einfach! Auch andere geometrische Aufgaben bereiten den Lehrern, selbst den Mathematiklehrern erhebliche Schwierigkeiten. Aber sie arbeiten eifrig, lachen und freuen sich.

Wie immer bei diesen Nothilfeeinsätzen kam es auch diesmal zu schönen Fächerverbindungen. So arbeitete Frau Assmann morgens in den Klassen 8-11 gemeinsam mit einem georgischen Kunsthistoriker. Er erläuterte das Bild von Raffael über die Athenische Schule, sie konstruierte danach mit den Schülern die platonischen Körper. Nachmittags ergänzten sich Bewegungstherapie und Rechenübungen für die Unterstufe oder einer aufbauenden Fünfeck-Konstruktion. Manche Lehrerinnen griffen die Anregungen sofort auf und setzten sie in ihrer Klasse um. So prangten am Ende Einmaleinsreihen in verschiedenen Sternformen auf von uns mitgebrachten IKEA-Korkplatten an der Wand.

Die Geschichtslehrerin (Direktorin) macht jetzt immer am Anfang der Stunde fünf Minuten rhythmische Übungen, "damit sie sich zumindest fünf Minuten freuen können, bevor wieder diese schreckliche, georgische Geschichte auf sie niedergeht". Tatsächlich war der Unterricht in der 11. Klasse von ungeheuer heftigen Emotionen begleitet! Am Tag der Okkupation von 1921 brach mit Vehemenz hervor, wie die Georgier unter den Russen seit Jahrhunderten leiden. Siebzehnjährige, die in ihrer Verzweiflung kaum noch zu bremsen waren.

Die Kombination von Eurythmie und Musikunterricht ist naheliegend, war aber durch die sehr einfachen Instrumente, wie z.B. Holzscheite, doch besonders. Der Musikunterricht wurde außerordentlich belebt! Schon deswegen, weil er ganz besonders tot war. Da steht z.B. auf dem Programm für die zweite Klasse: die Geige! Kein Kind hatte je eine Geige gesehen oder gehört! Die Lehrerin hatte keine Geige dabei, auch keinen Tonträger!

Die Kinder sind künstlerisch dermaßen ausgehungert, dass ihnen nichts zu blöde ist. Es rührt tief, wenn 8.-Klässler sich drängeln um einmal über eine Kinderharfe streichen zu dürfen! Mit Fingern auf Klanghölzern (Holzscheiten) spielen – welche Freude! Mit 14 Jahren das erste Mal in eine Flöte blasen! An sich können viele Georgier wunderschön singen, an diesen Schulen war der Musikunterricht aber leider verkümmert. Das georgische Volkslied ist "dreistimmig geboren" und wäre, therapeutisch gesehen, eine große Hilfe, wenn es denn gepflegt würde.

Im Deutschunterricht wurde vorgeführt, wie gut die 10.-Klässler die Sehenswürdigkeiten von Berlin kennen – das neueste Photo war von 1967! Apropos Sprachen: In der ersten Klasse lernen die Kinder die georgische Schrift, die lautgetreu umzusetzen ist und keine Großbuchstaben hat. Dafür ist sie aber ganz eigen! In der dritten Klasse lernen alle Russisch, mit einem ganz anderen Alphabet. In der fünften Klasse schließlich lernen sie Deutsch, was die dritte Schrift erfordert. Auch hier konnten Anregungen gegeben werden, wie selbst Grammatik heiter und spielend vermittelt werden kann.

Nun könnte man vielleicht den Eindruck bekommen, wir hätten unsere Pädagogik im Koffer mitgebracht und dort abgestellt. Nein! Wir sind die Beschenkten! Diese Herzlichkeit! Diese Gastfreundschaft! Um viele Erfahrungen und Fragen reicher kehren wir zurück! Könnten wir so leben und den Mut nicht verlieren? Warum scheint das Leben hierzulande so anstrengend zu sein? Wie viele Generationen braucht ein Land Frieden, bis die Schrecken des Krieges nicht mehr an Kinder und Kindeskinder weitergegeben werden? Warum ist Frieden, innen und außen, so schwierig?

Ein herzrührendes Abschiedswort eines rothaarigen 12-Jährigen, der sich von dem Kurs – Musik und Bewegung – eine Änderung seines Lebens erwartet hatte:

"Ja, meine Erwartungen sind erfüllt, denn ich habe zum ersten Mal in meinem Leben gespürt, was Ruhe ist, zum ersten Mal ruhige Gefühle gehabt, und ich hatte mir nicht vorstellen können, dass das so schön ist."

Myrta Faltin

Von Krieg und Kinderlächeln

Ein Bericht über eine 12-monatige pädagogisch-therapeutisch-künstlerische Nothilfearbeit in Georgien.


"Dass unsere Kinder heute wieder lachen und spielen können, wie Kinder das eigentlich tun, das haben wir zu einem ganz großen Teil Euch zu verdanken!",
sagte während unseres Abschlussfestes im Sommer diesen Jahres die Direktorin der Dorfschule von Lamiskhana. Lamiskhana, das ist ein kleines Dorf in Georgien. Bis zum Sommer 2008 war es ein georgisches Dorf wie viele andere. In der Zwischenzeit ist es zu einem derjenigen besonders schwierigen Orte geworden, die unmittelbar an einem Checkpoint der neu entstandenen Grenze innerhalb Georgiens liegt. Einer Grenze, die zwei verschiedene Armeen voneinander trennt.

Die Schule dieses Ortes, Schüler und Lehrer gleichermaßen, wurde von uns über das gesamte Schuljahr 2008/09 hinweg im gemeinsamen therapeutisch-pädagogisch-künstlerischen Tun begleitet. Und das war auch wahrlich nötig!

Als ich das erste Mal nach Lamiskhana kam, war die bleierne Atmosphäre im Schulhaus und im Dorf überhaupt kaum auszuhalten. Obwohl der Ort in einem wunderschönen, fruchtbaren Tal mit Obstgärten und kultivierten Feldern liegt, im sogenannten Herzen Georgiens, war die drohende Gefahr, die von der militärischen Präsenz am Checkpoint ausging, mehr als deutlich spürbar. Dieser Atmosphäre etwas entgegenzusetzen, das sahen wir als unsere Aufgabe an.

Neben dem Malen und der künstlerischen Arbeit mit Holz wurde das Theaterspiel und die Lehrerfortbildung in "künstlerischem Unterrichten" ein Hauptschwerpunkt an diesem von der Politik so gequälten Ort.

Und mit Dankbarkeit blicke ich heute in Gedanken zurück auf das Lächeln, das über die Wochen und Monate erst zögerlich und schließlich ganz ungezwungen wieder in die Gesichter der SchülerInnen und LehrerInnen zurückkehrte. Und ich gehe von diesem Ort in dem Bewusstsein, dass wir alle zusammen – die Teammitglieder, die LehrerInnen und die SchülerInnen – das erste schwere Jahr nach dem Sommerkrieg zwischen Russland und Georgien im August 2008 gemeinsam gemeistert und verwandelt haben – dass nun nicht mehr nur die Erinnerung an Schweres, an Verlust, Verwüstung und Vertreibung in den Herzen und Köpfen der Menschen von Lamiskhana lebt, sondern daneben wenn nicht gar statt dessen Bilder von freudvollen Farben, von konzentrierter, künstlerischer Arbeit, von Theaterspielen, von Lachen, von viel liebevollem Interesse und von Miteinander.

Rückblick auf den Beginn


Mit dieser Erfahrung bereichert, ist es schon merkwürdig, zurückzudenken an den Anfang unserer Arbeit im September letzten Jahres. "Das war doch nur ein 5-Tage-Krieg!" sagte damals einer meiner Gesprächspartner. "Wozu muss man denn da einen Nothilfeeinsatz machen?"

In der Tat fällt es uns allen, die wir ein Leben in friedlichen Verhältnissen führen und mit Kriegs- und Nachkriegsrealitäten nichts zu tun haben, relativ schwer, uns die Folgen dieser Kriege vorzustellen. Schließlich flimmern in der Regel entsprechende Bilder nur während der Kriegberichterstattung durch unseren Alltag. Hat sich die Situation offiziell einmal weitgehend beruhigt oder bricht irgendwo anders ein "interessanterer Unruheherd" auf, so scheint im entsprechenden Winkel der Welt alles wieder mehr oder weniger in Ordnung zu sein. Jedenfalls hört man nur selten mal etwas, das einen eines anderen belehren könnte. Für an die 90.000 Erwachsene und 40.000 Kinder stellte sich die Situation nach dem sog. "kurzen Sommerkrieg" zwischen Russland und Georgien im letzten Jahres allerdings reichlich anders dar. Bei diesen Menschen handelte es sich um georgische Binnenvertriebene – Menschen also, die sich während der Kriegshandlungen innerhalb ihres eigenen Landes von jetzt auf sofort auf die Flucht begeben mussten.

"Ich war gerade dabei, meine Kuh zu melken", erzählte mir eine 70-jährige Frau. "Da kamen die Panzer und ich begann zu rennen. Ich lief und lief und erst nach einigen Kilometern stellte ich völlig erschöpft fest, dass ich den Melkeimer die ganze Zeit über mit mir getragen hatte."

Gemeinsam mit vielen Tausenden anderer Menschen – darunter viele, viele Kinder – fand diese Frau Aufnahme in einem der trostlosen Flüchtlingslager in Tbilisi – in leerstehenden, abgewirtschafteten Gebäuden, ohne Heizung, ohne fließendes Wasser, ohne Intimsphäre – und ohne Hoffnung.

An diesen düsteren Orten begann unsere Arbeit.

Wir, das heißt das 7-köpfige Team von stART international und 5 Georgier – allesamt Lehrer, Künstler, Therapeuten, dazu ein Kinderarzt spezialisiert auf Traumatherapie und die Projektleitung – die es sich im Auftrag der Elisabeth Gast Stiftung aus Baldham bei München gemeinsam zur Aufgabe gemacht hatten, auf der Grundlage der Waldorfpädagogik, der durch die Anthroposophie inspirierten ganzheitlichen Therapie und stets mit einem künstlerischen Ansatz, sich mit den Kindern und Jugendlichen im pädagogisch-therapeutisch-künstlerischen Tun und gemeinsamen Spiel zu beschäftigen.

Schrecken und Angst ohne Ende


Wir taten dies alles im Bewusstsein, dass Schreckenserfahrungen wie Flucht, Vertreibungen und trostloses Dahinleben in Lagern Wunden in der menschlichen Seele hinterlassen können,
die möglicherweise ein Leben lang nicht mehr zu heilen sind. Dagegen helfen kann ein rechtzeitiges Aktivieren der eigenen schöpferischen Kräfte im Tun, in denen der Mensch sich wieder als Schöpfer und Gestalter wahrnimmt – und nicht mehr nur als Opfer.

Dass diejenigen georgischen Kinder und Jugendlichen, mit denen wir es zu tun hatten, diesen Schritt machen würden, dabei wollten wir behilflich sein. Und so begannen wir, mit den Kindern zu singen, zu malen, zu plastizieren, Märchen zu erzählen – und vieles andere mehr zu tun. Das gemeinsame Lachen und eine lichtvolle, freundliche, mutmachende Stimmung spielten dabei immer eine zentrale Rolle.

Im Frühherbst 2008 war der Krieg offiziell durch die Unterzeichnung eines sog. Friedensplans beendet. Damit einher ging allerdings in keinster Weise die Beendigung des Leides derjenigen Menschen, mit denen wir es zu tun hatten.

Für einen Teil von ihnen begann ab Oktober mit Einbruch der Kälte und des georgischen Winters die zum großen Teil erzwungene Rückführung in diejenigen Heimatorte, die in der Zwischenzeit von den russischen Truppen geräumt worden waren. Einer dieser Orte war Lamiskhana.

Für mich selbst war es zunächst nur schwer verständlich, warum die Menschen aus den Flüchtlingslagern, die wahrlich rein gar nichts Heimeliches an sich hatten, sondern nur Orte voller Tristesse und Hoffnungslosigkeit waren, nur zögerlich und mit viel Widerstand in die bereitgestellten Busse stiegen, die sie zurück in ihre Dörfer bringen sollten. Schnell begann ich allerdings zu verstehen. Denn wohin ging ihre Reise? Sie ging in eine Gegend mit verwüsteten Häusern und Gärten, in Gebiete, in denen ganze Dorfviertel, Wiesen, Felder und Straßenzüge vermint waren und in denen Heckenschützen ihr Unwesen trieben. Und das alles war durchwoben von einer stets präsenten, großen und diffusen Angst, dass die Kriegshandlungen jederzeit wieder aufflammen könnten.

Dennoch mussten diese Menschen zurück.

Es gab jedoch auch Tausende von Flüchtlingen, die nicht mehr in ihre Dörfer heimkehren konnten. Dabei handelte es sich um Menschen, die aus Landstrichen Georgiens stammten, die bis zum heutigen Tage vom fremden Militär besetzt sind und dies vermutlich auch noch sehr lange bleiben werden. Für diese Menschen gab es also kein Zurück – und so hatte das Leben im Flüchtlingslager für sie auch noch keinerlei absehbares Ende.

Ausweitung der Arbeit und ihre Früchte


In dieser Not wurde die UN auf die Arbeit, die wir in den Lagern mit den Kindern leisteten, aufmerksam. Und so wurden wir zu unserer großen Freude und unserem noch größeren Erstaunen gebeten, unsere Arbeit zeitlich auszuweiten, inhaltlich zu intensivieren und auf insgesamt 11 Einsatzorte auszudehnen.

Diese Herausforderung nahmen wir gerne an. Und so weitete sich unser Team schließlich auf knapp 45 Menschen aus Europa und Georgien aus und aus einem ursprünglich für drei Wochen geplanten Einsatz wurde eine Vollzeit-Nothilfearbeit über 12 Monate mit wechselnden eingeflogenen, internationalen Teams, die Tausende von Kindern intensiv und über viele Monate hinweg betreuten.

Viel ist passiert in einem Jahr. Wir haben zwei Kindergärten gegründet, viele Dorfschulgemeinschaften begleitet, Arbeit in Flüchtlingslagern geleistet, im Zusammenhang mit der staatlichen Kunstakademie Tbilisi ein Zentrum für soziale Kunst gegründet – alles Zeichen von Zukunft und menschlichem Miteinander. Die Grenze am Dorfrand von Lamiskhana ist in diesem Jahr allerdings nicht verschwunden. Ebensowenig sind es die Soldaten und die Panzer. Aber die Hoffnung ist zurückgekehrt und mit ihr die Liebe zum und die Zuversicht in das Leben.

Auf dieser Basis wird der Alltag nun auch in Georgien weitergehen – ohne uns. Denn unsere Aufgabe, die darin bestand, über die erste schwere Zeit hinwegzuhelfen und zu versuchen, Traumatisierungen durch schnelles Eingreifen aufzulösen, ist abgeschlossen. Möge die Politik die gelegten Keime wachsen und die georgischen Kinder mit Mut und voll eigener Träume in eine friedvolle Zukunft gehen lassen.

Dass diese lange Arbeit für und mit den Menschen und Kindern Georgiens möglich war, dafür möchte ich insbesondere all denjenigen Stiftungen und Einzelpersonen danken, die die Verwirklichung des Ersteinsatzes im September 2008 möglich gemacht haben. Er war die Voraussetzung für die Finanzierung der Weiterarbeit durch die großen, internationalen Hilfsorganisationen.

Barbara Schiller (Projektleitung), 16.10.2009