Allgemeine Menschenkunde

Thomas Jachmann: Allgemeine Menschenkunde. Quelle: www.thomasjachmann.de, 26.01.2012. Hervorhebungen H.N.


Da zu einer qualifizierten Handhabung und Weiterentwicklung der erprobten und bewährten Formen, die die tägliche pädagogische Praxis der Waldorfschulen im allgemeinen bestimmen und prägen, vor allem pädagogisch geschickte Lehrer gehören, ergibt sich also doch selbstverständlich die Notwendigkeit, diese Geschicktheit durch entsprechende Übung und das Studium der Menschenkunde zu erlangen.

Wie kann man sich aber heute die Menschenkunde erarbeiten?

Vertiefung durch Herzenskräfte

Beim Studium der Vorträge zur „Allgemeinen Menschenkunde“ bemerkt man sehr bald, dass der Versuch, mit scharfem Verstand die Begriffe der Menschenkunde zu bearbeiten, zum baldigen Scheitern verurteilt ist.

Das Ansinnen muss schon deshalb aufgegeben werden, da man die angesammelten Begriffe und Inhalte immer wieder unweigerlich vergisst. Auf diese Art lässt sich die Menschenkunde nicht zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfassen, sie zerrinnt vielmehr immer wieder unter den eigenen Fingern.

Diese unangenehme Vergesslichkeit, die zum eigenen Glück verhindert, dass man zu einem wandelnden Lexikon menschenkundlicher Inhalte und Zusammenhänge wird, verschwindet erst dann, wenn man die Inhalte so mit seinem Gemüt verbunden hat, dass sie wie ein flüssiges Lebenselixier einen täglich begleiten und die tägliche Stimmung, Lebens- und Arbeitslust prägen und beleben.

Diese gemüthafte, herzliche Vertiefung der Inhalte ist aber nur dadurch zu erlangen, dass man die Arbeit an der Menschenkunde mit entsprechenden Meditationen begleitet.

Vorarbeit ist notwendig

Darüber hinaus sind diese Vorträge an eine Zuhörerschaft gerichtet, bei der R.Steiner eine entsprechende Kenntnis und die angedeutete meditative Praxis zur Vertiefung anthroposophischen Wissens unbedingt voraussetzen konnte. Aus diesem Grund werden die wichtigsten Ideen und Begriffe von Steiner oft nur angedeutet und nicht breit ausgeführt.

Der heutige Leser kann deshalb nur aus den 14 Vorträgen zur Allgemeinen Menschenkunde allein eine entsprechende Vertiefung der Inhalte nicht gewinnen.

Ohne Vorbereitung muss ihm der Begriff des Vorgeburtlichen, wie ihn Steiner im ersten Vortrag entwickelt und im 2. Vortrag weiter ausführt, notwendig trocken und abstakt bleiben. Deshalb ist es ratsam, zum Studium der Menschenkunde die Theosophie, die Geheimwissenschaft und weitere Vorträge zu diesem Thema vorbereitend heranzuziehen.

Zu einem vertieften Grundlagenstudium der Menschenkunde sind nach meiner Erfahrung die Vorträge mit dem zusammenfassenden Titel „Der Mensch in seinem Zusammenhang mit dem Kosmos“ (GA 201 – 208) sehr hilfreich und empfehlenswert.

Um den Inhalt der 14 Vorträge überhaupt mit dem Gemüt entsprechend verbinden zu können, ist es hilfreich, wenn man schon einige aus dem Studium der Anthroposophie gewonnene Grundideen lebendig verinnerlicht hat.

Leitende Grundideen


Ich meine zumindest zwei wichtige Vorstellungen, die am besten mit einem fühlenden Erkennen begriffen und durchlebt werden, müssen so „in Fleisch und Blut übergegangen“ sein, dass sie vom Aufwachen bis zum Schlafengehen, denjenigen, der sich die Menschenkunde erarbeiten will, als ein Grundlebensgefühl lebendig begleiten.

1. Unser ganzes Planetensystem von der Erde bis zum Saturn und darüber hinaus bis zum Fixsternhimmel ist ein zusammengehöriger lebendiger Organismus. Was auch immer auf Erden geschieht oder bewirkt wird, ist immer als ein Ausdruck des Zusammenwirkens dieses Gesamtorganismus zu verstehen. [...]

2. Die fortschreitende Entwicklung der Welt und des Menschen ergibt sich aus dem gegenwärtigen Zusammenwirken einer auslaufenden geistigen, kosmischen Vergangenheit, die in die Gegenwart gestaltend bis in das sichtbar Materielle hereinwirkt und einer keimhaft zu veranlagenden geistigen Zukunft.

Die Gegenwart bedeutet in diesem Sinne einen Verjüngungsprozess, in dem alt Gewordenes vergeht und zu neuem zukünftigen Leben aufgerufen, keimhaft sich weiter entwickelt.

Auf Erden kann aber dieser Verwandlungsprozess, der wirklich durch Tod und Auferstehung hindurchgeht, bis in das Vergehen und neu Erstehen von Stoffen und Kräften, nur vom Menschen vollzogen werden. (Dritter Vortrag Allgemeine Menschenkunde)

Auf dieser Neugeburt, die sich mitten im Wesen des Menschen vollzieht, beruht der Fortschritt des Menschen und der Welt mit all ihren dabei beteiligten Wesen, soweit der heutige Mensch ihn mitbewirken kann.

Ein tiefes Herzensverständnis dieser beiden Ideen, die hier nur angedeutet werden konnten, ist eine unbedingte Voraussetzung dafür, dass der Leser der Allgemeinen Menschenkunde sich mit den dargestellten Inhalte lebendig verbinden kann.

Deshalb ist es auch nur zu verständlich, dass ein in dieser Weise unvorbereitetes Lesen der Menschenkunde in den Kollegien der Waldorfschulen zu keinem nennenswerten Erfolg, sondern nur zu anhaltenden Frustrationen und dem Nichtverständnis des Textes führen kann.

In diesen Fällen ist nicht der Text die Ursache zu seinem Missverstehen, sondern lediglich die Vorbereitung des Einzelnen und des Kollegiums waren für sein Verständnis unzureichend.

An Hand dieser beiden Grundideen soll nun eine Einführung in die ersten zwei Vorträge als eine Arbeitsanregung gegeben werden.

Wirksame spirituelle Beziehung

Gleich zu Beginn der Vorträge verbindet Rudolf Steiner im Sinne der dargelegten Vorraussetzungen die versammelte Gemeinschaft der zukünftigen Lehrer mit denjenigen Wesen, die den Gesamtkosmos bewohnen und beleben und mitten durch das Wesen des Menschen bis hinein in seine Leiblichkeit hinein wirken. Für sie ist die menschliche Seele und die menschliche Leiblichkeit ein ähnliches Wirkensfeld, wie für uns die Erde, auf der wir stehen.

Im weiteren Verlauf des 1. Vortrages weist er darauf hin, dass es zu der besonderen pädagogischen Aufgabe unserer Zeit gehört, aus dem Bewusstsein heraus zu unterrichten, dass der irdische Mensch ein vorgeburtliches Wesen ist, die Fortsetzung einer vorgeburtlichen geistigen Vergangenheit lebt und in eine zukünftige geistige Realität hinein lebt. Deshalb ist es eine grundlegende Aufgabe der Pädagogik die geistige Vergangenheit des Kindes mit seiner leiblichen Gegenwart zu verbinden (die Atmung und das Nervensinnessystem zu harmonisieren) und seine zukünftige geistige Existenz mit dem gegenwärtigen Leiblichen zu verbinden. Das heißt, das Kind muss fähig werden, seine Lebenserfahrungen in die geistige Welt wieder zurück zu tragen.

Erst wenn die tägliche Unterrichtspraxis von dem fortwährenden Gefühl begleitet wird, jetzt helfe ich mit, die geistige kosmische Vergangenheit, an der bisher das Kind mit den Göttern zusammengearbeitet hat, in das leibliche Leben des Kindes hineinzutragen und jetzt helfe ich mit, die geistige Zukunft des Kindes zu gestalten. Wenn der Lehrer es seinem Unterricht anfühlt, in welcher der beiden Richtungen er gerade wirkt, dann stellt er eine wirksame spirituelle Beziehung zu den Kindern her. Erst dann wird eine wirkliche Geschicklichkeit im Unterrichten bei ihm vorhanden sein.

Im 2. Vortrag der meditativen Menschenkunde führt R.Steiner die zwei Ideen von der vorgeburtlichen und nachtodlichen geistigen Existenz des Menschen weiter aus und verbindet die bewusste Anknüpfung des Lehrers an die vorgeburtliche Arbeit des Kindes und der Götter mit dem Gefühl der Ehrfurcht und die Mitarbeit des Lehrers an der geistigen Zukunft des Kindes mit dem Gefühl von Enthusiasmus.

Durch den Geist geschaffene Leiblichkeit

Das Erleben und die Arbeit des Menschen zwischen Tod und neuer Geburt besteht zu einem großen Teil aus einem Schaffen an seiner neuen Leiblichkeit, der die Früchte des vergangenen Lebens und die Kräfte des Kosmos eingefügt werden. Diese Tätigkeit bedeutet ein rein geistiges Erleben, deren Ergebnis in der neuen Geistgestalt des Menschen besteht. (Siehe GA 205, 7.Vortrag, Dornach, 3. Juli 1921) Diese Geistgestalt verbindet sich mit der Seele des Menschen.

Nach den Kräften dieser Geistgestalt wird die Leiblichkeit in den ersten Lebensjahren des Kindes aufgebaut. Die aus den Vererbungskräften stammende Leiblichkeit bildet lediglich den Baustoff für diese durch den Geist geschaffene Leiblichkeit.

In dieser Geistgestalt sind vornehmlich die Formen der Nervensinnesorganisation, also die zukünftige Gestalt des Hauptes, der Kopforganisation des Menschen ausgeprägt.

In der Embryonalentwicklung und in der weiteren Ausprägung der Leiblichkeit in den ersten Lebensjahren, gehen deshalb die Entwicklungsimpulse und Formkräfte überwiegend von der Hauptesorganisation des Menschen aus.

Wie Wasser zu Eis kristallisiert, so bildet sich aus einer seelisch-geistigen Gedankenform die Nervensinnesorganisation und in der weiteren Folge das Mittlere System um das Gliedmaßensystem.

Vorstellende Tätigkeit

Nachdem aus diesen Kräften heraus die menschliche Leiblichkeit gestaltet wurde, werden nach dem Zahnwechsel diese seelisch-geistigen Gestaltungskräfte von ihrer leiblichen Aufgabe frei und werden zu Vorstellungskräften. (Meditativ erarbeitete Menschenkunde, 2. Vortrag)

In diesem Sinne ist Vorstellen Ausdruck einer Tätigkeit, „die vor der Geburt oder Empfängnis von der Seele in der rein geistigen Welt ausgeübt worden ist“, in die Leiblichkeit hineingeronnen ist und dann dem Vorstellungsleben dient. (Allgemeine Menschenkunde, 2.Vortrag)

Die Vorstellungs- und Gedankenkraft ist eine ausklingende geistige Kraft


Diese Vorstellungs- und Gedankenkraft ist eine aus der vorgeburtlichen geistigen Tätigkeit der Götter und des Menschen stammende ausklingende Kraft. Sie ist eine geistige Tätigkeit, die vorgeburtlich zur erstarrten Hauptes-Gedankenform kristallisiert ist, die Leiblichkeit aufgebaut hat und dann als abgelähmte Kraft das Vorstellen ermöglicht. (Siehe GA 205, 7.Vortrag).

Der Gliedmaßen-Stoffwechsel Organismus ist im Gegensatz zur Hauptesorganisation zu einem großen Teil „organisierter Wille“ (siehe: ebenda). Dieser Wille ist auf die Zukunft gerichtet. Er wirkt in der Gegenwart, um in ihr die Zukunft zu gestalten.

In der vorstellenden Tätigkeit gebraucht der Mensch diejenigen Kräfte, mit denen er als Ergebnis seiner vorgeburtlichen Tätigkeit und der damit verbundenen Erlebnisse vornehmlich seine Leiblichkeit aufgebaut hat und die ihm danach zur vorstellenden Tätigkeit zur Verfügung stehen. Allerdings sind es dann als Vorstellungskräfte nicht mehr dieselben lebendigen Wachstums- und Gestaltungskräfte, aus denen sein Leib hervorgegangen ist. Wie in einem Spiegel fängt das Bewusstsein diese Kräfte auf und schafft damit jetzt nur noch Vorstellungsbilder, die keine in das Leben eingreifende lebendige Kraft mehr besitzen.

Diejenige Seelenkraft, die diese ehemals lebendigen Gedankenkräfte im Spiegel des Bewusstseins einfängt, ist die Antipathie. Mit ihr trennt der Mensch diese lebendigen Gestaltungskräfte von ihren Ursprung ab und stellt sie so dem Bewusstsein als abstakte Bildgestaltungskraft zur Verfügung.

Durch den Willen keimhaft veranlagte geistige Zukunft

Unsere keimhaft veranlagte geistige Zukunft wird durch unseren Willen bewirkt, indem er sich mit der in uns zu ihrem Ende kommenden kristallisierten gedanklichen Geistigkeit der Vergangenheit, die unsere Leiblichkeit vom Haupt aus in den ersten sieben Jahren aufbaut und ihr Richtkräfte vermittelt, verbindet. (Siehe GA 205 11. Vortrag)

Die Gedankenkräfte, die der Mensch aus dem geistigen vorgeburtlichen leben mitbringt, verliert der Mensch im Verlauf seines Lebens.

Sie werden aber während des Lebens zu Richtungskräften des Willens, der diese Richtungskräfte über den Tod hinaus bewahrt und in ein geistiges Leben hinüberträgt. (GA 205 11.Vortrag)

Durch den Willen, in dem auch das Ich wirkt, öffnen wir uns fortlaufend dem Leben und der Geistigkeit der Welt und der in ihr wirkenden kosmischen Kräfte.

Der in unseren Sinnen wirkende Wille verbindet sich bei jeder Sinnenswahrnehmung mit dem Leben der Welt. Er lebt in allen Lebens- und Wachstumsprozessen des Leibes und wirkt in all unseren Tätigkeiten.

Die Früchte aller irdischen Erfahrung und Tätigkeit führt er hinüber zu einem geistigen Leben nach dem Tode.

Der Wille hat einen die Leiblichkeit auflösenden, vergeistigenden Charakter. Würden alle Willensimpulse des Menschen in einem Moment zu ihrer vollen Auswirkung gelangen, so würden sie die Leiblichkeit auflösen und den Mensch vergeistigen. Deshalb hält der Mensch mit der Seelenkraft der Sympathie, diesen Willen fortlaufend keimhaft, lässt ihn nicht zu seiner vollen Wirkung kommen.

Abstakte, bildhafte Unterrealität und keimhafte Überrealität

Im Vorstellen entwickelt der Mensch Bilder, die ihre vorgeburtliches Leben verloren haben, in diesem Sinne nicht real sondern abstakt und unterreal sind.

Seine Willensimpulse bleiben keimhaft, werden für eine geistige Zukunft zurückgehalten, sind in diesem Sinne überreal.

In der Seele des Menschen begegnen sich das Vorstellungsleben und die Willensimpulse.

Die beiden Grundkräfte der Seele Antipathie und Sympathie verbinden sich mit dem vorgeburtlichen geistig gedanklichen Strom und dem nachtodlichen geistig willenshaften Entwicklungsstrom des Menschen.

Der vorgeburtlich gedankliche Strom bewirkt in seinem Auslaufen das Entstehen der Leiblichkeit und in seiner Spiegelung und weiteren abstakten Verfestigung durch die Antipathiekraft Erkennen, Gedächtnis und Begriffsbildung.

Der nachtodlich zu seiner vollen Auswirkung kommende geistig willenshafte Entwicklungsstrom wirkt lösend, vergeistigend und impulsierend, Leben aufnehmend und zum Leben führend im Menschen.

Er wirkt in der Seelentätigkeit als Phantasie (GA 205, 1.Vortrag), in der Wahrnehmung durch die Sinne, als diejenige Kraft, die in unserer Wahrnehmung sich mit dem Lebendigen in der Natur verbindet, und im Vorstellungsleben bewirkt er den Bewegungsfluss der Gedanken.

Indem die Seele sich mit Sympathie mit dem Willen verbindet, hält sie eine auflösende und vergeistigende Kraft zurück und bewahrt diese Kräfte für eine geistige Zukunft.

Pädagogisches Geschick

Indem der Lehrer mit seinem Unterricht auf das Vorstellungs- und Willensleben des Kindes wirkt, ist er in diesen kosmischen Entwicklungsstrom, der aus dem vorgeburtlichen geistigen Leben des Kindes kommend in dieses Leben hinein wirkt und in seiner Fortsetzung die geistige Zukunft des Kindes gestaltet, mit eingeschaltet.

Die Aufgabe des die Menschenkunde vertiefenden Lehrers ist es nun, diese Ideen so mit seinem Herzen mit seinem Gefühl zu verbinden, dass er einen sicheren Instinkt dafür entwickelt, wann und wodurch er sich in seinem Unterricht mit dem einen oder anderen Strom verbindet und wir er zur Gesundheit des Kindes dasjenige pädagogische Geschick entwickelt, beide Entwicklungsströme in einem harmonischen Verhältnis in seinem Unterricht miteinander zu verbinden.

Der Lehrer wirkt durch das, was er ist

Durch die Arbeit an der Menschenkunde arbeitet der Lehrer an seinem Sein und wirkt vor den Kindern mit dem, was er wirklich ist. Er wirkt im besten Sinne authentisch.

In diesem Sinne hat Rudolf Steiner den Pädagogen die Menschenkunde gegeben und mahnt deshalb am Ende seines ersten Vortrags die Zuhörer:

„Unterschätzen Sie nicht die Wichtigkeit dessen, was jetzt gesagt ist, denn Sie werden nicht gute Erzieher und Unterrichter werden, wenn Sie bloß auf dasjenige sehen werden, was Sie tun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehen werden, was Sie sind. Wir haben ja anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eigentlich aus dem Grunde, um die Bedeutsamkeit dieser Tatsache einzusehen, dass der Mensch in der Welt wirkt nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige was er ist.“