Menschenkundliche Grundlagen zur Ausbildung von Handlungskompetenzen

Thomas Jachmann: Menschenkundliche Grundlagen zur Ausbildung von Handlungskompetenzen. Quelle: www.thomasjachmann.de, 26.01.2012. Hervorhebungen und Zwischenüberschriften H.N.

 

„Alles Intellektuelle ist schon greisenhafter Wille, ist schon der Wille im Alter.“
(Allgemeine Menschenkunde, 4. Vortrag)


Die hier angeführte Textstelle aus der Menschenkunde wirkt auf den ersten Blick vielleicht provozierend oder man lässt sie als unverständlich und nichts sagend beiseite. Wie soll man aber eine solche Aussage in Verbindung bringen mit dem Erlernen von den gerade heute als so grundsätzlich wichtig zu erachtenden Fähigkeiten zum selbständigen Handeln? Diese Aussage von R.Steiner führt den Fragenden auf die Spur von einem schwer verständlichen aber bedeutsamen menschenkundlichen Zusammenhang.

Eine grundlegende, pädagogisch wichtige Vorstellung zum Verständnis des oben angeführten Zitates und zum Verständnis der Entwicklung von Handlungskompetenzen ist, so unglaublich und ungewöhnlich es auch klingen mag, die Metamorphose des Hauptes als umgewandelter Gesamtleib der vorhergehenden Inkarnation.

Auf diese Vorstellung kann man treffend die Anfangsbemerkung aus dem dritten Menschenkundevortrag beziehen. „Der gegenwärtige Lehrer müsste im Hintergrunde von allem, was er schulmäßig unternimmt eine umfassende Anschauung über die Gesetze des Weltenalls haben“. Als R.Steiner am 2.9.1916 diese Gesetzmäßigkeit zum wiederholten Male und im Zusammenhang mit der Sinneslehre darstellt, weist er deutlich auf ihre menschenkundliche Bedeutung  hin: „Den Menschen kann man eben nur verstehen, wenn man ihn nicht nur beschreibt, wie das gewöhnliche Leben und die Wissenschaft es tut, sondern wenn man ihn liest.“ Diese Metamorphose beschreibt R.Steiner wie folgt, indem er vorher klarstellt, dass er in den Begriff Gesamtleib in diesem Zusammenhang den Kopf mit einbezogen wissen will:

„Dasjenige, was der Mensch als sein Haupt trägt mit all dem, was dazu gehört, ist eine umgewandelte Form (...) und dasjenige, woraus sich dieses Haupt umgewandelt, umgebildet hat, das ist der Gesamtleib der vorhergehenden Inkarnation. Also wenn wir hinblicken auf den Gesamtleib unser jetzigen Inkarnation, dann sehen wir, wie er in sich trägt die Kräfte, die ihn umwandeln können so, dass er nur ein Haupt wird, ein Kopf, mit dem, was dazugehört, mit zwölf aus ihm entspringenden Nervenpaaren und so weiter. Und diesen Kopf, der sich aus dem Gesamtleib entwickelt, wir werden ihn tragen in unserer nächsten Inkarnation. Dagegen wird in der Zeit zwischen unserem Tode, nach unserem jetzigen Leben und unserer Geburt in der nächsten Inkarnation, teils aus den Kräften der geistigen Welt, soweit die Zeit in Betracht kommt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, teils aus den Kräften der physischen Welt, soweit die Zeit in Betracht kommt vor unserer Empfängnis bis zu unserer Geburt in der nächsten Inkarnation, unserer Leib, also alles das, was zu unserem Leibe gehört, für die nächste Inkarnation herausgearbeitet.“

Denken, Wille und die Aufgabe des Pädagogen

Im zweiten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde werden die keimhaften Willenskräfte beschrieben, die sich im nachtodlichen Leben erst entfalten und also zu den das spätere Haupt bildenden Kräften werden. Diese Kopfkräfte der neuen Inkarnation bilden dann beim kleinen Kind in den ersten Lebensjahren an der Leiblichkeit und werden später freie Seelenkräfte, mit denen das Ich die Leiblichkeit ergreift. In diesem Sinne kann man das oben angeführte Zitat verstehen, dass alles Intellektuelle einen Willen darstellt, der durch seine Entfaltung und Entwicklung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Erdenleben alt geworden ist.

„Dasjenige, was unsere Denkkraft ausmacht, was das ausmacht, dass wir denken können, das die Möglichkeit des Gedankens in uns ist, das verdanken wir dem Leben vor unserer Geburt beziehungsweise vor unserer Empfängnis. Es ist im Grunde genommen in dem kleinen Kinde, das uns entgegen tritt, schon im Keime all die Gedankenfähigkeit vorhanden, die der Mensch sich überhaupt entwickelt. Das Kind verwendet die Gedanken nur (...) als Richtkräfte zum Aufbauen seines Leibes. Namentlich in den ersten sieben Lebensjahren bis zum Zahnwechsel hin verwendet das Kind die Gedankenkräfte zum Aufbau seines Leibes als Richtkräfte. Dann kommen sie immer mehr und mehr als eigentliche Gedankenkräfte heraus.“


Wir können in dieser Gedankenfähigkeit unschwer die Tätigkeit wiedererkennen, die, wie im zweiten Menschenkunde Vortrag geschildert, die Tätigkeit ist, die vor der Geburt oder Empfängnis von der Seele in der rein geistigen Welt ausgeübt worden ist und dessen Spiegelung wir als das Gedanken-Vorstellungsleben kennen. Damit haben wir die Verwandlung der keimhaften Willenskräfte in Hauptbildungskräfte, Kopfkräfte und Gedankenfähigkeit der nächsten Inkarnation beschrieben.

Den keimhaften Willen beschreibt R.Steiner wie folgt:

„In dieser physischen Leiblichkeit, die wir erst nach und nach entwickeln seit der Konzeption und seit der Geburt, da liegt zunächst der Wille, und es besteht ja die Entwicklung des kindlichen Lebens darinnen, dass allmählich der Wille gewissermaßen eingefangen wird von den Denkkräften, die wir schon durch die Geburt ins physische Dasein mitbringen. (...) (Der Mensch) bringt sich sein Gedankenleben mit, indem er herunter steigt aus der geistigen Welt. (...) Und er setzt das Willensleben an in der Leiblichkeit, die ihm durch die Eltern gegeben wird. Da drinnen sitzen die Willenskräfte, die sich chaotisch äußern.“ Die Gedankenkräfte dienen zunächst als Richtkräfte „um eben den Willen in seiner Leiblichkeit in der richtigen Weise zu durchgeistigen. Diese Willenskräfte nehmen wir dann wahr, wenn wir durch den Tod in die geistige Welt hinübergehen. (...) Da tragen wir sie hinüber durch die Todespforte in das geistige Leben. Die Gedankenkräfte, die wir mitbringen aus dem übersinnlichen Leben in das Erdenleben, die verlieren wir eigentlich im Verlauf des Erdenlebens. Sie sterben sozusagen richtungsgebend und ordnend in die Willenskräfte hinein. (GA 205, 15. 7. 1921)


Damit hat sich dieser so bedeutungsvolle Verwandlungskreislauf für uns geschlossen, wobei wir auf die Bedeutung des menschlichen Ichs in diesem Zusammenhang noch nicht hingewiesen haben.

Setzen wir jetzt noch diese Vorstellung in Beziehung zum elften Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde. Da wird ein pädagogisches und menschliches Geheimnis gelüftet:

„Das ist überhaupt das Geheimnis des Menschen: sein Kopfgeist ist, wenn er geboren wird, sehr ausgebildet schon, aber er schläft. Seine Kopfseele ist, wenn er geboren wird, zwar sehr ausgebildet, aber sie träumt nur. Sie müssen erst nach unten erwachen. Als Gliedmaßenmensch ist der Mensch, indem er geboren wird, zwar ganz wach, aber noch unausgebildet, unentwickelt.
Eigentlich brauchen wir nur den Gliedmaßenmenschen auszubilden und einen Teil des Brustmenschen, die haben dann die Aufgabe, den Kopfmenschen aufzuwecken, so dass Sie also hier eigentlich erst eine wirkliche Charakteristik des Erziehens und Unterrichtens bekommen. (...) daraus sehen Sie, dass Ihnen das Kind schon etwas Beträchtliches entgegenbringt. Es bringt Ihnen das entgegen, was es in seinem vollkommenen Geiste und in seiner relativ vollkommenen Seele durch die Geburt trägt. Und Sie haben nur auszubilden dasjenige, was es Ihnen entgegenbringt an unvollkommenen Geist und noch unvollkommener Seele.“


Damit hätten wir den Quellpunkt aller frühkindlichen und kindlichen berechtigten und notwendigen selbständigen Entwicklung freigelegt und zugleich auf die Grundlage hingedeutet, Fähigkeiten zum selbständigen Handeln auszubilden.

Welche Pädagogik begleitet diese Entwicklung am besten?

„Dasjenige, was wir als das Beste der Erziehung bewirken können, das ist eben die Willenserziehung und ein Teil der Gemütserziehung.“ (GA 293, 11)

Ehrfurcht und Enthusiasmus

Diese Art der Erziehung ist beim Erzieher und Lehrer notwendig mit einer bestimmten Haltung verbunden. In der Meditativ erarbeiteten Menschenkunde wird diese Haltung gegenüber den vorgeburtlichen plastischen Kopfkräften als Ehrfurcht vor den Kräften beschrieben, die uns der Himmel schickt und deren Vermittler das Kind darstellt.

„Wenn Sie das Gefühl haben: Sie stehen in Verbindung mit den aus der Zeit vor der Geburt aus der geistigen Welt herunter sich entwickelnden Kräften – wenn Sie dies Gefühl haben, das eine tiefe Ehrfurcht erzeugt, dann werden Sie sehen, dass Sie durch das Vorhandensein dieses Gefühls mehr bewirken können als durch alles intellektuelle Ausspintisieren dessen, was man tun soll. Die Gefühle, die der Lehrer hat, sind die allerwichtigsten Erziehungsmittel.“


Der Umgang mit den in das Nachtodliche hineinwirkenden sprachlich-musikalischen Willenskräften erfordert den wahrhaftigen Enthusiasmus. „Und das gibt uns einen gewissen Enthusiasmus, weil wir wissen, wir arbeiten damit in die Zukunft hinein. [...]“

Mit diesen beiden Grundkräften Ehrfurcht und Enthusiasmus begleitet der Erzieher die Metamorphose himmlischer Kräfte in Erden- Zukunftskräfte. An dem entscheidenden Schnittpunkt, an dem Gedankenkräfte im Leben richtungsgebend und ordnend, sich wandelnd in die Willenskräfte hineinsterben, entsteht keimhaft, individuell Neues, indem die ureigenste Individualität sich mit diesen Gedankenkräften verbindet und in individuelle Willensimpulse überführt.

Dieser Prozess, der die Entwicklung eines freien geistigen Wesens bedeutet, bedarf in seiner Begleitung einer sorgsam gepflegten inneren Haltung und eines ausgeprägten Herzensverständnisses, das einen Schutzraum bilden kann, zur selbständigen Entwicklung des Menschen. Alle weiteren Überlegungen müssen deshalb auf dem Hintergrund dieser drei notwendigen Grundkräfte der Erziehung gesehen werden.

Aus dem Dargelegten geht hervor, dass es nicht die Aufgabe der Pädagogik sein kann, vorrangig Wissen zu vermitteln. Es geht vielmehr darum, wie aus mitgebrachten Erkenntnis- und Denkfähigkeiten im Leben Fähigkeiten zum selbständigen Handeln ausgebildet werden können, durch die die Persönlichkeit sich ihrem Wesen gemäß verwirklichen kann. Gedankenkräfte sollen so richtend in den Willen eingreifen können, dass neues Individuelles sinnvoll entsteht.

Reine Wissensvermittlung als Lernen auf Vorrat für das Leben würde den Wandlungsprozess vorgeburtlicher Gedankenkräfte in geordnete Willensimpulse, die die Grundlage zum Erwerb individueller Fähigkeiten bilden, an der bezeichneten Schnittstelle zum Erliegen bringen, indem statt kreativem Denken gelerntes Wissen eingesetzt wird. Die Kraft der Selbstentfaltung der Persönlichkeit würde abgeschnitten und mit vorgefertigtem Wissen vermauert und gelähmt werden. Des weiteren würden die Gedankenkräfte ihrer Dynamik beraubt und in vorzeitige Erstarrung geraten. Satt Neuem entsteht ein mechanisches Weiterdenken von erlernten Gedankenmustern. [...]