Vom Werden des Menschen in den ersten Lebensjahren

Auszüge aus: Caroline von Heydebrand: Kindheit und Schicksal. Aus den Anfangsjahren der Freien Waldorfschule. Verlag Freies Geistesleben, 1958.


Im Grunde genommen kann es eine für sich selbst bestehende Erkenntnis vom Wesen und Werden des Kleinkindes nicht geben. Sie wird immer im Zu­sammenhang stehen müssen mit einer umfassenden Erkenntnis des ganzen Menschenlebens zwischen Geburt und Tod. Von ihr wird Licht fallen auf die zahlreichen Einzelbeobachtungen, die man am heranwachsenden Kinde machen kann und die chaotisch, nicht aufschlußreich blieben, wenn sie sich nicht im Licht der Gesamtmenschenbetrachtung ordnen könnten. Da der Mensch aber Glied der Naturreiche und im weiteren auch der kosmischen Welten ist, so ist Anthropologie letzten Endes auch nur als Teilgebiet der Kosmologie verständ­lich. [...]

Es muß ja darauf geachtet werden, daß man sich nicht dadurch, daß die ersten Lebensjahre des Kleinkindes zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung werden, der inneren Bewegt­heit, der aufrüttelnden Erschütterung entzieht, die der allein entsprechende Widerhall der Seele auf eine Tatsache von kosmisch‑irdischer Bedeutung ist. [...]

Hat das Kind etwa das fünfte Lebensjahr erreicht, so hat sich eine relativ umfassende Abstraktion des schöpferischen Geistes von der Organisation voll­zogen. Rudolf Steiner hat ausgeführt (Goetheanum‑Lehrerkurs), wie er sich zunächst vom Hauptesleben emanzipiert und damit Vorstellen ermöglicht, wie er sich dann teilweise vom rhythmischen System löst und nun das bewußte schöpferische Spiel, überhaupt jede Phantasiebetätigung auftreten kann und wie schließlich sogar eine gewisse teilweise Loslösung vom Stoffwechselsystem erfolgt, die das Kind zu moralischen Vorstellungen fähig macht, welche ihm vorher völlig ferne lagen. [...]

Wir können uns wohl alle an ganz kleine Kinder erinnern, wie sie heran­gewachsen sind und wie sie sich gewandelt haben: Zuerst hatte ihr Antlitz etwas Unindividuelles und Weltenfernes, etwas Unirdisches an sich, dann kamen immer mehr und mehr die einzelnen individuellen Züge heraus. Der kleine Mensch individualisierte sich; in seinem Gesicht offenbarte sich Persön­lichkeit und Charakter. Solche Beobachtungen sollten nicht vom kalt‑wissen­schaftlichen. Standpunkte aus gemacht werden, sondern mit Andacht und Hin­gabe an die göttlichen Kräfte, die da wirksam sind bei dem ungeheuer großen Prozeß, der sich vollzieht, wenn eine Individualität, die vielleicht voller Reife ist, sich bemüht, sich in einem kleinen Menschenleibe ein Werkzeug zu schaf­fen. Das gilt es Minute für Minute mitzuerleben. Eine solche Art der Beob­achtung hat nicht nur zur Folge, daß man etwas wahrnehmen, Fortschritte in der Bewußtseinsentwickelung z.B. registrieren kann, sondern sie schafft im Menschen selber ein Erkenntnisorgan, durch das erst wirklich Wesentliches erkannt werden kann. So wie wir mit unseren leiblichen Augen die Welt um uns herum sehen, so können mit diesem durch seelische Innenarbeit erschaf­fenen Seelenauge die Kräfte wahrgenommen werden, die aus dem vorgeburt­lichen geistigen Leben heraus das Kind aufgebaut haben. Man kann durch solche Seelen‑Übungen, die in Liebe, Andacht und Hingabe gemacht werden, etwas von den Kräften in sich realisieren, die am Aufbau des kindlichen Leibes tätig sind und die schon tätig waren, als das Kind in der Embryonalzeit in das irdische Dasein hereinkam. [...]

Wenn man so das Kind auf sich wirken läßt, dann spürt man, wie es voll­ständig anders erlebt als wir Erwachsenen, wie alles, was es erlebt, von ihm nicht als Vorstellung, als Gedanke, nicht einmal als bewußtes Gefühl erlebt wird, sondern als eine Art von ganz naturhaftem Wohlbehagen oder Miß­behagen. Es ist für uns als erwachsene Menschen sehr wichtig, daß wir ver­suchen, uns in das Wesen des kleinen Kindes irgendwie tastend hineinzu­fühlen. Ich möchte einige Beispiele aus dem Leben des erwachsenen Menschen anführen, aus denen man vielleicht etwas lernen kann für das Verständnis des kleinen Kindes.

Wir erleben im Hochsommer die Bläue des Himmels. Wir schalten unsere Gedanken vollständig aus. Wir geben uns ganz der Bläue des Himmels hin. Dann bekommen wir mit der Zeit das Gefühl, daß wir von dem Blau aufge­nommen werden, daß wir selbst in das Blaue hineingehen und eigentlich ganz und gar Bläue werden. Man hat keinen bewußten Gedanken, kaum ein be­wußtes Gefühl; man empfindet sich ganz webend in dieser Bläue, und man hat die Empfindung: das macht einen gesund. Oder man betrachtet eine grüne Wiese und läßt dieses Grün auf sich wirken so, daß man nicht darüber nach­denkt, sondern daß man das Grüne ganz in sich hineinnimmt, daß man inner­lich wie grün wird. Dann spürt man in seinem Organismus die Lebenskräfte als aufbauende Macht. Ein Tag Himmelsbläue mit grüner Wiese kann einem eine Nacht Schlaf ersetzen. Die Erholung auf dem Land besteht ja darin, daß man sich den Aufbaukräften des Lichtes, der Wärme, der Luft, der Farben hingibt, und die abstrakten Gedanken möglichst ausschaltet. Auch wenn man sich in dieser Weise an Musik hingibt, spürt man, wie da in das Erleben etwas hineinströmt, was man im ganzen Säftekreislauf empfindet. [...]

Wenn man sich solche Seelenzustände einmal an vielen Beispielen des eigenen Erlebens recht klar gemacht hat, dann kann man vielleicht ein wenig von dem begreifen, was das kleine Kind fortwährend erlebt. Denn es hat ja sein Wachbewußtsein immerzu ausgeschaltet; es ist nie in demselben Sinne voll wach, wie ein erwachsener Mensch, daß es etwas anschauen und sich dabei etwas vorstellen oder darüber nachdenken kann, und so die Seelen‑Erlebnisse in einer Sphäre halten kann, von der aus sie nicht bis in den Organismus hereinwirken können.

Und so ist das kleine Kind eigentlich der Umwelt völlig ausgeliefert. Es kann sich ja nicht sagen: Ich bin ein Ich und erhalte mich aufrecht gegen meinen jähzornigen Vater und meine melancholische Mutter. Ich werde mit Gelassenheit aufnehmen, was von ihnen kommt und es in meinen Gedanken verarbeiten. Der Säugling kann so nicht denken und nicht einmal fühlen. Son­dern was aus seiner Umgebung herankommt, muß er immerfort bis in den Leib hinein erleben, immerfort innerlich nachahmen. Wir gähnen, wenn ein Mensch in unserer Umgebung gähnt; denn wir sind dann müde und können uns ihm gegenüber nicht aufrecht erhalten; darum machen wir nach, was der andere vormacht. Das aber tut das kleine Kind immerfort. Es macht immer das nach, was in der Umgebung geschieht, weil es sich nicht dagegen wehren kann. Was hereinwirkt durch seine Sinne, bestimmt das kleine Kind unge­heuer stark; es wirkt nicht nur auf den Teil der Sinne, der eng mit dem Ner­vensystem zusammenhängt, sondern vor allem auf jene Partien der Sinnes­prozesse, die vom Stoffwechsel durchdrungen sind. Und was das kleine Kind so erlebt, das setzt sich fort durch seine Sinne und durch den Stoffwechsel, der durch den ganzen Organismus kreist, bis in alle einzelnen Organe und Lebensfunktionen hinein. Und da der Stoffwechsel beim kleinen Kinde den Leib aufbaut und gestaltet, nicht bloß Wachstum bringt, so geschieht eben dies, daß alles, was in der Umgebung des kleinen Kindes vor sich geht und von ihm nachgeahmt wird, in sein innerstes Wesen hineingenommen wird. [...]

Außerordentlich wichtig sind so die zwei ersten Lebensjahre für das Kind, schicksalgestaltend sind sie für das gesamte Leben des Menschen. In diesem Lebensalter bis zum zweiten Lebensjahr, so schildert es Rudolf Steiner, ge­stalten die Bildekräfte vom Kopfe aus und wirken vom Haupte aus in den übrigen Organismus hinein. Sie erreichen ungefähr im zweiten Jahre einen gewissen teilweisen Abschluß ihrer Wirksamkeit im Haupte des Kindes. Sie metamorphosieren sich dann. Und es kann aus diesen umgewandelten Bilde­kräften das Vorstellungsleben des Kindes entstehen, so wie es in diesem Alter beginnt. In den nächsten Lebensjahren, ungefähr bis zum fünften Jahre, vollzieht sich derselbe Prozeß für das rhythmische System des Menschen. Die Bildekräfte wirken zunächst hinein in den Blutkreislauf, in die Atmung, sie gestalten zunächst die physiologische Grundlage des seelischen Lebens. All­mählich ziehen sich auch die Kräfte, die am rhythmischen System gearbeitet haben, etwas zurück von der Leibesgestaltung. Sie behalten ihren Charakter als Bildekräfte bei und treten im Seelenleben des Kindes auf als Phantasie­kräfte. Wir kommen jetzt in das eigentliche Spielalter des Kindes. [...]

Aber die Kinder sind noch viel braver als man glaubt: sie nehmen von den Erwachsenen alles mögliche liebenswürdig hin, wogegen doch ihr Un­bewußtes sich sträubt. Sie nehmen die scheußlichsten Postkarten, malen sie aus und finden sie wunderschön; aber in ihrem Inneren wird etwas zerstört. Sie können es nicht bewußt fühlen, können es nicht äußern, aber das Zerstörende ist doch da. Diese liebenswürdigen Kinder können sehr brav sein – sie revol­tieren vielleicht auch manchmal –, und doch können sie leiden. Und wichtiger ist: sie werden im späteren Leben leiden. Der Verlust an Lebenskraft, der da­durch entstanden ist, daß man die Sinnesorgane zu früh herauszog aus dem traumhaften Miterleben der Welt, daß man die Kinder abschloß von ihrer Kindertraumeswelt, hinlenkte auf die kühle, objektive Sinneswahrnehmung des Erwachsenen, wird sich später bemerkbar machen.

Auf keinen Fall aber sollte man in den Kindergärten schon mit dem Lesen und Schreiben anfangen. Es wird in den Montessori‑Kindergärten zum Teil so gearbeitet, daß man mit vier Jahren, oft mit dreieinhalb Jahren schon mit dem Schreiben anfängt, und froh ist, daß ein so kleines Kind schon im Schreiben glänzt. So ein kleiner Bub wird photographiert [Maria Montessori, Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter], weil er mit fünf Jahren schon schreiben gelernt hat. Im Augenblick des Photographierens sieht er stolz aus auf dem Bild, mit seinen drei Schiefertafeln, die er mit seinen fünf Jahren alle vollgeschrieben hat. Aber später? Was tut das Kind, wenn es schreibt und liest? Es bringt unendlich viele Abstraktionen in sein Leben. Dadurch werden ihm die Lebenskräfte genommen, die es noch notwendig braucht, ehe der Zahnwechsel eintritt. Das Schreiben wird z.B. so gelehrt, daß man geschriebene Buchstaben mit Sandpapier beklebt, die das Kind dann betastet. Es wird also ausgegangen von der Sinnesempfindung des Tastens. Aber das Kind kann ja damit nichts anfangen. Wenn es noch die Buchstaben selber malen und ausschneiden und dann selbst mit Sand bestreuen würde, daran würde es noch Befriedigung finden! Aber was man ihm vorsetzt, als ob seine Sinne so passiv wären, wie die der Erwachsenen, das zerstört in ihm Lebenskräfte. Solche Lebenskräfte werden aber im Kinde bewahrt, wenn man mit ihm in diesem Alter das tut, wozu sein ganzes Wesen hindrängt: Tanzen, Springen, Eurythmie, Bewegungen nach musikalischen Rhythmen! Tanzen und Springen soll es, soviel es will! Die kleinen Kinder fangen ja sofort an zu tanzen, wenn ein Ton erklingt. Das sollte unterstützt werden. Es weckt gesun­des Leben im Kinde, weil man dabei von den Kräften ausgeht, die im Glied­maßensystem des Menschen besonders lebendig sind, das aber schon vom rhythmischen System aus reguliert wird.

Dr. Maria Montessori schreibt in ihrem Buch „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“ darüber, wie sie den kleinen Fünfjährigen das Lesen und Schreiben beibringen läßt. Sie hat ein Zettelspiel erfunden. Namen von Spiel­zeugen werden auf Zettel geschrieben, die die Kinder lesen müssen. Wer die Namen lesen kann, darf sich das entsprechende Spielzeug holen. „Wird das Wort richtig ausgesprochen und der Gegenstand richtig gezeigt, so darf das Kind, so lange es will, mit ihm spielen.“ Sie schreibt dann: „Wie groß war aber mein Erstaunen, als die Kinder, nachdem sie die beschriebenen Zettel Verstehen gelernt hatten, die Spielsachen nicht mehr nehmen wollten.“ Und Dr. Montessori erzählt weiter: „Die Kinder erklärten, sie wollten keine Zeit verlieren mit Spielen, und mit einer Art unersättlicher Gier zogen sie es vor, die Zettel herauszuziehen und einen nach dem andern zu lesen ... Wie ich so nachdenkend unter ihnen stand und entdeckte, daß sie das Wissen liebten und nicht das alberne Spiel, da wurde ich von Bewunderung erfüllt über die Größe der menschlichen Seele.“ – Da, wo sie über die erzieherische Wirkung der Musik und des Rhythmus spricht, sagt sie: „Wie sie (die Lehrerin) nun die rhythmischen Übungen wiederholte und vervielfältigte, konnte sie wahrnehmen, wie die Kinder allmählich die häßliche Gewohnheit des Springens aufgaben, und schließlich gehörte dieses ganz der Vergangenheit an. Da fragte die Leiterin eines Tages nach dem Grund dieses veränderten Betragens. Mehrere der Kleinen schauten sie an, ohne etwas zu sagen. Die älteren Kinder gaben verschiedene Antworten, die alle auf dasselbe hinausliefen.
„Das Springen ist doch nicht hübsch.“
„Das Springen ist häßlich.“
„Es ist roh, zu springen.“
Dies war gewiß ein schöner Sieg unserer Methode.“ ‑

Gewiß möchte man einen Menschen, der die Kinder so liebt wie Montessori, nicht kritisieren. Aber man kommt eben heute mit der Liebe allein nicht wei­ter, wenn man sich nicht die Einsicht verschafft, die aus einer echten Menschen­kunde stammt. Sollte das kindliche Wesen wirklich ganz verstanden sein, wenn man vom „albernen Spiel“ und von der „häßlichen Gewohnheit des Sprin­gens“ spricht?

Die letzte Epoche des kindlichen Daseins vor der Schule bzw. vor dem Zahn­wechsel umfaßt das fünfte bis siebente Lebensjahr. In diesen Jahren vollzieht sich wiederum etwas sehr Bedeutsames. Die Kräfte, die bis dahin im Stoff­wechsel gewirkt haben und sich allein im Aufbau des Organismus betätigten, sie emanzipieren sich jetzt teilweise vom Gliedmaßen‑Stoffwechselsystem. Und indem das geschieht, indem das Kind nicht mehr triebhaft‑naturhaft allein dem Aufbau seines Leibes lebt, indem ein Teil dieser Kräfte sich jetzt als Willenskräfte im Seelenleben entfalten kann, kann die Einsicht eingreifen; und zum erstenmal vermag das Kind etwas vom Moralischen zu begreifen. [...]

Andererseits fängt jetzt die Möglichkeit für das Kind an, sich zu über­winden, also etwas Moralisches zu tun. Und die Kinder zu solchen Überwin­dungen zu bringen, ist wichtig, nur fragt sich eben wie? Rudolf Steiner hat einmal darauf aufmerksam gemacht: Wenn man bei Kindern erreichen will, daß sie sich zu etwas überwinden, kann man es so machen, daß man es direkt befiehlt, also es von den Kindern fordert. Dadurch wird aber leicht eine ge­reizte Stimmung bei den Zöglingen entstehen. Deshalb ist es viel besser, wenn man sich selber etwas versagt und das Kind dabei zuschauen läßt, wenn der Erzieher z.B. bei Tisch etwas, wovon das Kind weiß, daß er es besonders gern ißt, vorübergehen läßt, ohne darüber zu reden, aber so, daß das Kind es mit­erlebt. Man kann ein Kind nicht anders zu Überwindungen erziehen, als daß es sieht: der Erwachsene, den es liebt und verehrt, überwindet sich. Er kann es! Wenn der Vater es tut, will ich es auch so machen! [...]