Weltgeschichte, Seelenrätsel und Erzieherbildung

Jedes Kind, das vor dem Erzieher steht, ist für ihn ein lebendig gewordenes Rätsel. Für ihn sind die Rätsel der Seele, die Rätsel des Lebens und die Rätsel der Welt nicht so da, daß er sie nachsinnend in seiner Stube lösen könnte. Sie treten ihm in jedem Augenblick des Lebens, in dem er mit der Erziehung werdender Menschen zu tun hat, entgegen. Und die Lösungen, die er für diese Rätsel der Seele und des Lebens sucht, können nicht theoretisch von ihm ge­funden werden. Sie können nur dadurch gefunden werden, daß der Erzieher selber versucht, durch Umwandlung seines eigenen Wesens in einer leben­digen Weise zu der Lösung der Rätsel zu kommen.

Betrachten wir zunächst das ganz kleine Kind. Es gibt uns vielleicht von allen Altersstufen des Menschen die allergrößten Rätsel auf. Das erste Ge­fühl, was uns erfüllt, wenn wir ein solch kleines Kind betrachten, ist die Empfindung des Staunens und der Verwunderung, die sich eint mit dem Ge­fühl der Ehrfurcht. Es ist vielleicht der allererste Schritt zur Erzieherbildung, dieses Staunen und diese Verwunderung in sich rege gemacht zu haben. Wir alle haben uns ja angewöhnt, die Dinge der Welt sehr selbstverständlich zu finden. [...]

Etwas, was Rudolf Steiner immer wieder be­tonte, war dies, daß das Kind nicht zu früh lernen sollte, zu urteilen, zu kritisieren, sondern daß die ganze Volksschulbildung mit dazu da sein soll, dem Kinde möglichst viel Tatsächliches von der Welt zu bringen, damit es Urteilsgrundlagen gewinne, damit es einen Reichtum an Erkenntnissen als Grundlage für sein Urteil habe. Alles, was dies Urteilen und Kritisieren im Kinde verfrüht aufweckt, so wie es heute vielfach geschieht, verführt den Men­schen im späteren Leben dazu, die Tugend der Wahrhaftigkeit nicht gründlich ernst zu nehmen. Denn man hat die Kinder in einer Zeit, wo ihnen noch die Urteilsgrundlagen dafür fehlen müssen, schon dazu geführt, etwas als ihr Urteil über eine bestimmte Sache auszusagen.

Was wir aber am kleinen Kinde beobachten können als jene Hingabe an seine Umwelt, jene leibliche Religiosität, wir müssen sie umwandeln in ein bewußtes Interesse für die Welt. Das kleine Kind, das heranwächst und spre­chen gelernt hat, ist doch vielleicht der Mensch, der am allermeisten fragt. Ein fünfjähriges Kind kann hundertmal am Tage fragen: Warum ist das so, war­um ist jenes so? Die Fragen sind oftmals die unmöglichsten, aber sein Inter­esse an der Welt ist so geweckt, daß es schon einer großen Kunst des Erwach­senen bedarf, um dieses Interesse allmählich in den Stumpfsinn zu verwandeln, den man so oft im späteren Leben beobachten kann. [...] So kann man anschauen, wie ein Göttliches sich wandeln kann, ohne seine Göttlichkeit zu verlieren. Göttliche Weisheit, göttliche Hingabe, göttliche Reinheit des Kindes können sich wandeln in Kräfte, die der erwachsene Mensch bewußt entwickelt und die doch die Kräfte seines höheren Wesens in ihm sind, die Kräfte der Wahrhaftigkeit und des Interesses an der Umwelt. [...]

Vom Volksschulkind können wir vielleicht sagen: Es lebt ganz und gar aus seinem Herzen heraus. Und wenn wir es in dieser Zeit studieren wol­len, dann müssen wir uns darauf einstellen, dieses Tönen seines Herzens zu hören. Wenn das Kind in diesem Lebensalter normal ist, dann ist es ja im allgemeinen auch sehr gesund. Die Kinderkrankheiten liegen meistens vor dem Zahnwechsel. Das normale Schulkind bringt uns in die Schule eine Fülle von Lebenskraft, von Gesundheit und Wachstumskraft mit, die sich in seinem seelischen Leben äußert, und zwar so, daß das Kind gerne im Sprechen, im Singen, im Schreien sein Seelenleben zur Offenbarung bringt. Man muß nur einmal den kleinen Kindern in den ersten Klassen der Volksschule zuhören, wie sie da mit großer Hingabe singen, wie sie gerne so singen, daß sie dabei sogar möglichst schreien, wie es ihnen Freude macht, wenn es so rich­tig voll aus ihnen heraustönt. Sie kennen noch keine Scheu, ihr Seelenleben zu zeigen. Sie wollen es noch nicht in sich drinnen behalten. Sie bringen es gerne aus sich heraus. Sie äußern sich furchtbar gerne im Sprechen. Jeder kennt ja das Schwatzen in der Schule, das dem Lehrer oft sehr unangenehm ist. Man weiß z.B. auch, daß man dem Kinde oft sagen muß: „Warum schreist du denn so, ich bin doch nicht taub.“ Wer mit Kindern umgeht, muß das vielmals am Tage sagen. Aber das Kind schreit ja nur so, weil es eine Freude hat, sein seelisches Leben im Musikalischen auch nach außen hin, und zwar in mög­lichster Fülle, zu äußern. Das ist das Charakteristische der Kinder in der Volksschulzeit, daß sie das Seelenleben in seiner Fülle und in seinem Reich­tum zur Offenbarung bringen wollen; daß sie aus ihrem Herzen heraus gerne mit den Kräften, die sie haben, Verschwender sind. [...]

Nun können wir uns wiederum fragen: Welchen Weg muß der Lehrer für sich selber gehen, wenn er sich selbst erzieht, um sich zurückzufinden zu dem, was das Kind in der Volksschulzeit erlebt, als jenes reine, vom Gedanken noch unberührte Gefühlsleben, als rein seelisches Leben? Auf einen der Wege möchte ich da hinweisen, die uns von Rudolf Steiner gezeigt worden sind, damit wir sie auch als Erzieher gehen können.

In dem Buche „Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen“ spricht er da­von, wie der Mensch gerade so, wie er das Denken übend erlebt und in sich zur Bildhaftigkeit bringen kann, auch die Innerlichkeit seines Gefühlslebens übend betrachten und verstärken kann. Und er zeigt, wie der Mensch dann allmählich zu bestimmten Erlebnissen kommen wird. Diese Erlebnisse sind es nun, die ihm auch helfen, das Kind der Volksschulzeit besser zu verstehen. Rudolf Steiner spricht davon, wie man, wenn man das Fühlen so übend in sich erlebt, auf andere Weise zur Selbsterkenntnis kommt, als das im gewöhn­lichen Leben der Fall sein kann. Er schildert, wie man die ungeheure Einsam­keit erlebt, in die der Mensch durch das Gefühlsleben gerade hineinkommt, weil die Entwicklung des persönlichen Daseins so eng mit dem Fühlen der Seele verbunden ist; wie der Übende dann gerade das in sich erlebt, was den mittelalterlichen Menschen so stark bewegte: die „Sündhaftigkeit“ des mensch­lichen Wesens. Dann fühlt der Mensch sich aber wie zurückgestoßen, abge­schnitten von einer geistigen Welt dadurch, daß er nicht nur empfindet, daß er selbst irrt, sondern daß sein ganzes Wesen vor der geistigen Welt ein Irr­tum, ein Widerspruch ist. Er kann sich nur herausfinden aus sich selber, wenn er übend die Gefühle der Liebe, der Ehrfurcht, der Andacht so in sich ver­stärkt, daß ihn seine Gefühle aus sich selbst heraus und in die Welt hinein­führen. Denn durch seine Gefühle kann sich der Mensch zwar in sich selber abschließen, aber gerade durch die Verstärkung des Gefühlslebens und durch ein bewußtes Üben kann er sich auch wieder mit der Welt verbinden. Denn durch das erstarkte Gefühlsleben kommt er heran an die wahren Urbilder der Welt, deren Abbilder er lieben gelernt hat. Er wird auch als Erzieher sich anders verbinden können mit dem Wesen des Kindes, er wird sich anders, wenn er starke Liebe in sich entwickeln kann, hineinfühlen in das kindliche Seelenleben; er wird den Klängen, die dort ertönen, ganz anders lauschen können.

Wohin aber müssen wir als Erzieher die Seelenkräfte, die immer mehr und mehr, unbewußt, instinktiv, aber so stark im Kinde wirken, jene Tapferkeit und Heldenhaftigkeit, den Überreichtum des menschlichen Gefühlslebens, wo­hin müssen wir dies alles leiten und lenken? [...]

Rudolf Steiner [...] hat es in einem seiner pädagogischen Kurse ausgesprochen, daß das moralische Ziel der Volksschulerziehung sein müsse, im Kinde zur Zeit der physiologischen Reife eine verständnisvolle Liebe zu seiner Umwelt erweckt zu haben. Wenn man in der richtigen Weise den Naturkundeunterricht, den Geschichtsunterricht pflegt, dann erwächst aus einem solchen richtig gepflegten Unterricht das Interesse des Kindes, das aus seiner Lebhaftigkeit kommt; dann erwächst daraus auch jene Liebe als Umgestaltung der heldenhaften Kräfte, die im Kinde walten. Solche Gesichtspunkte können uns außerordentlich viel hel­fen, und zwar gerade ganz besonders bei Kindern, die uns große Schwierig­keiten machen. Was hätte wohl ein heutiger Erzieher mit Franz von Assisi gemacht, als er mit einer ganzen Schar von Kindern fortzog, um die Kinder einer anderen Stadt zu bekämpfen? Er wäre gewiß ratlos gewesen. Und doch haben gerade diese Kräfte sich so herrlich umwandeln lassen. Das kann uns ein schöner Antrieb dafür sein, wie wir die Kinder beurteilen müssen, wenn sie uns mit übergroßer Heldenhaftigkeit, mit ihrem übersprudelnden Tempera­ment Schwierigkeiten machen. Kräfte sind es, die da walten, die umgewandelt werden können und sollen durch die Hilfe einer verständnisvollen Erziehung. [...]

Betrachten wir den werdenden Menschen zur Zeit der physiologischen Reife und später, dann erleben wir ein anderes Rätsel an ihm. Was uns da als Rätsel belastet, möchte ich als das Rätsel des Abgrundes bezeichnen. Denn das Kindeswesen wird ja in diesem Alter an einen Abgrund herangeführt. Zu­nächst erleben wir, wie das Kind sich äußerlich stark wandelt. Im vierzehnten, fünfzehnten Jahr steht ein ganz anderer Mensch vor uns, als wir ihn vorher gekannt haben. Wir erleben fortwährend in der Erziehung Überraschungen. Es wacht nun auf in diesem Alter die Freude des Menschen am Denken. Das kann man beobachten, und man kann sich auch selbst zurückerinnern, wie es war, als man auf einmal eine gewisse Entdeckerfreudigkeit, eine Forscher­freude im Reiche der Gedanken in sich gespürt hat. Man konnte nun Pro­blemen nachsinnen, Gedanken an Gedanken fügen, man konnte mit seinem Willen in sein Denken eingreifen, Glieder des Denkens logisch aneinander­fügen. Man freute sich, wenn man auf philosophische Probleme in diesem Alter traf, man beschäftigte sich mit ihnen. Und zugleich erlebt man, wie etwas anderes den Menschen fesselt, wie neben dem, was er nun in sich als die Logik, die Urteilsfähigkeit des menschlichen Denkens erfassen kann, er nun auch viel stärker als vorher seinen eigenen Körper erlebt. Der heran­wachsende Mensch leidet darunter, daß etwas in ihm ist, was dumpf ist, ihn herunterzieht, ihm Schwierigkeiten macht. Vor ihm tut sich auf der Ab­grund zwischen dem Geist, den er nun in der abstrakten Form des Denkens erlebt, und zwischen dem Körper. Er erahnt, daß seine Seele in ihm wiederum einen Todesweg geht, der aber jetzt nicht in den Egoismus, ins Fühlen, in die Abgeschlossenheit des Herzens hineinführt, um dort die Kräfte der Liebe zu finden. Er führt die Seele hinein in den menschlichen Kopf. Der Schädel des Menschen wird zu einer Art Grabstätte, in die das menschliche Seelenleben hineinstirbt und begraben wird. [...] Der Mensch erlebt seinen Willen nun nicht mehr wie das kleine Kind unbewußt in der Bewegung seiner Gliedmaßen, sondern er wird sich des dumpfen Schöpferwillens bewußt, der in seinem Leibe wirkt. Und er weiß, daß er vom Geist aus diesen Willen zu erfassen hat, daß er ihn zu durchleuchten und umzugestalten, zu beherrschen hat.

Wenn wir nun die Zeit aufsuchen innerhalb der Entwicklung der Mensch­heit, wo diese Rätsel auftreten, dann ist uns allen klar, daß hier die Probleme des modernen Menschen liegen, wie sie sich vom vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert an in der menschlichen Seele herangebildet haben. [...]

Denken, Fühlen und Wollen im kindlichen Seelenleben

[...] Demjenigen, der vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus sich in das Kind zu versenken sucht, ergibt sich ein Zweifaches: er begreift als zum Kind gehörig eine geistig‑seelische Individualität, eine nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenheit, die im Laufe der Entwicklung des werdenden Menschen das, was sinnlich wahrnehmbar ist, ergreift, umgestaltet, sich zum Werkzeug ausbildet, zu einer Offenbarung seiner selbst macht. Von diesem Standpunkte aus betrachtet bietet das kleine sinnlich wahrnehmbare Kindchen dem Beschauer nicht die volle Wahrheit dar. Es kann in Wahrheit nur so angesehen werden, daß man in Betracht zieht, daß dem, was gleichsam als Kindeskörper von der Erde her, von unten her nach oben aufwächst, sich entwickelt, etwas von oben her als geistig‑seelische Wesenheit des Menschen entgegenkommt und sich im Lauf der Zeit immer mehr mit ihm zusammenarbeitet. Wenn man dies Zweifache, das aber doch im höchsten Sinne eine Einheit bildet, nicht ins Auge faßt, wird man die kindliche Seelenentwicklung nicht verstehen. [...]

In Betracht zieht also anthroposophisch orientierte Erkenntnis des werden­den Menschen das Hineinwirken eines Geistig‑Schöpferischen in das kindliche Seelenleben. Immer neue Impulse, immer neue Einschläge sind möglich und bestimmen die kindlichen Seelenwandlungen. Es ist beständig etwas wirkend, was nicht ist, sondern immer wird. Moderne Kinderpsychologie rechnet mit etwas, was auf Erden da ist, sich entwickelt und dem Tod entgegengeht. Daher rührt das Starre, das sie an sich hat. Geisteswissenschaftliche Menschenkunde begreift eine konkrete, individuelle, geistige Wesenhaftigkeit, die aus einem konkreten Geistesleben heraus immerzu belebend und befruchtend wirkt, und deren schaffende Kraft man eben an den Wandlungen des kindlichen Seelen­lebens durchaus beobachten kann.

Es ergibt sich wieder als ein methodologisches Element, daß man zur Durch­dringung des wahren kindlichen Seelenlebens nur kommen wird, wenn man dem werdenden Menschen mit Ehrfurcht, mit Achtung und – als Pädagoge – mit dem höchsten Verantwortlichkeitsgefühl gegenübertritt. Diese Indivi­dualität des Kindes, die im kleinen Menschen sich noch nicht voll ausleben kann, die will etwas vom Erzieher. Sie muß der Erzieher verstehen, in ihrem Sinne, nicht gegen sie muß er wirken und schaffen. Er hat die hohe Aufgabe, dieser geistig-seelischen Individualität gleichsam in die Hände zu arbeiten. [...]

Von der wahren Willensnatur des Kindes

[...] Wenn wir über die Willensnatur des Kindes nachdenken, kommen wir an so gewichtige Rätsel heran, daß, wenn wir sie lösen könnten, die Antworten uns eigentlich erst sagen würden, ob wir das Recht haben, Kinder zu erziehen, oder nicht. Denn es ist nicht eine Selbstverständlichkeit, daß Kinder erzogen werden – obwohl es häufig wie eine Selbstverständlichkeit ausgeübt wird. Je­des Kind stellt uns ja in seiner besonderen Artung die Frage, was es denn eigentlich selbst will. Und wenn wir uns zu der Überzeugung durchgerungen haben, daß der menschliche Wille frei ist, dann müssen wir uns fragen, wieso wir das Recht haben, in diesen freien Willen beim Kinde einzugreifen. Wenn wir aber vielleicht mit unserer Überlegung zur Überzeugung gekommen sind, daß der Wille des Menschen nicht frei ist, daß er bedingt ist durch seine Um­welt, dann müssen wir uns wiederum fragen, was bedeutet dann die Erzie­hung eigentlich? Zu welchem Ende und Ziel soll sie dann führen? Keine Rätselfrage des menschlichen Daseins beschäftigt den Erzieher so stark, wie die nach den verborgenen Willenskräften des Kindes.

Wenn wir den Willen in seiner Reinheit aufsuchen wollen, da wo er sich abge­sondert von jeder Vorstellung, von jedem Gedankenelement, von jedem Gefühlselement findet, wo er sich rein als Wille auslebt, müssen wir hinblicken auf das ganz kleine Kind, ehe es die Fähigkeit entwickelt, Vorstellungen zu bilden. Beim kleinen Kinde erleben wir zunächst nur Willensäußerungen, denn was auch mit dem kleinen Kind geschieht, es antwortet darauf mit einer Willensbewegung, mit dem Strampeln seiner Gliedmaßen, mit Lächeln, Lallen oder ­Brüllen. So ist der Wille das erste, das uns beim kleinen Kinde als das, was wach an ihm ist, entgegentritt.

Aber wir können den Willen in einer noch ganz anderen Weise beim kleinen Kinde erleben. Wir erleben ihn in seiner tiefsten Form, in seiner großartigsten Offenbarung als tätige Schöpferkraft. Wir erleben ihn als formende, als ge­staltende Kraft. Wir erleben den Willen göttlich‑naturhaft den Organismus formend.

Da ist dieser Wille tätig, ohne irgendwie mit dem Bewußtsein des kleinen Kindes selbst verbunden zu sein. Da wirkt der Wille verbunden mit Weisheit so erhaben, wie man weisheitsvolles Wirken vielleicht nirgends sonst in der Welt beobachten kann. [...]

Wir beobachten dann, wie das Kind, wenn es älter wird, sich so hineintastet in seine Umwelt, daß es sich aufrichtet, nachdem es sich in seinen Gliedmaßen so kraftvoll gebildet hat, daß es sich in den Raum hineinstellen kann. Wiederum sind in dem Kinde instinktive, ver­borgene, weisheitsvolle Willenskräfte wirksam, wenn es sich aufrichtet und zu gehen beginnt.

Wir beobachten, wie das Kind mit feinen Sinnen sich hineinfühlt in die Sprache des erwachsenen Menschen, wie es diese nachahmt, und indem es das tut, sich selbst wiederum allmählich seine Sprachorgane, seine Gehirnwin­dungen formt und gestaltet. Wir beobachten ferner bei dem kleinen Kinde, wie es sich durch die Sprache in das Vorstellungsleben der Menschen seiner Umgebung hineinfühlt. Wie es mit feinen geistigen Sinnen – die erst auf einer viel höheren Stufe sich bewußt entwickeln – sich in seine Umwelt so hineinfühlt, daß es in Verbindung mit dieser Umwelt sich erst selbst aus­gestaltet, sich selbst die physiologische Grundlage des späteren bewußten Willenslebens schafft.

Wenn wir uns einen Augenblick vorstellen, wir könnten das, was das kleine Kind so unbewußt, instinktiv tut, aus unserem Bewußtsein heraus tun, dann dürfen wir uns auf einer sehr hohen Stufe der menschlichen Entwicklung empfinden. Wenn es in unserem eigenen Bewußtsein wirklich stände, unseren Organismus zu gestalten, dann würden wir uns selbst die Form geben, die wir brauchen, um unsere verborgensten Willenskräfte zur Offenbarung zu bringen und damit unsere Erdenaufgabe wirklich zu erfüllen.

Wir würden, indem wir uns selbst als physische Menschen gestalten könnten, zugleich unser Schicksal meistern und bewußt beherrschen.

Und indem wir so das kleine Kind anschauen, wie es weisheitsvoll durch die göttlichen Willenskräfte, die ihm unbewußt sind, sich formt und gestaltet, wie es sich dadurch selbst die Grundlage gibt für sein späteres bewusstes Darinnenstehen in der Welt, empfinden wir es wie den Propheten einer ganz fernen Menschheitszukunft, in der der menschliche Wille im bewußten Ein­klang mit dem göttlichen Willen sich selbst ergreifen und in gleicher Weise Leib und Schicksal des Menschen gestalten wird.

Und weil uns das Kind auf unsere fernsten Weltenaufgaben hinweist, darum können wir ja auch nicht anders, als es immer mit der größten Ehr­furcht betrachten. Denn es zeigt uns auf seiner instinktiven Stufe das, was wir selbst einmal in fernen Menschheitszeiten erreichen sollen.

Und wenn wir uns fragen, was auf den Willen dieses Kindes von seiten des Erziehers wirkt, dann werden wir empfinden, daß wir uns dem kleinen Kinde, wenn wir es erzieherisch beeinflussen wollen, mit der größten Vorsicht, An­dacht und Achtung nähern müssen.

Nur wenn wir immer und immer wieder berücksichtigen, wie die Willens­kräfte walten, die naturhaft göttlich sind, und an die wir mit unserem eigenen Wollen und unserer eigenen Erkenntnis nicht herankommen, und wenn wir begreifen, wie das kleine Kind sich in seine Umgebung hineintastet, um aus dieser Kräfte zu nehmen, die dann in instinktiver Art an ihm gestalten, wenn wir das alles bedenken, dann ist uns unsere Aufgabe als Erzieher gestellt. Das kleine Kind will uns nachahmen. Es ahmt das nach, was sich im erwach­senen Menschen aus seinen innersten und echtesten Willenskräften heraus formt. Es sind nur unsere besten und echtesten, tief innerlich moralischen Kräfte, die auf das Kind in diesem Lebensalter heilsam wirken können. [...]

Es entwickelt sich dann beim Kinde aus diesem Triebleben heraus, wenn es älter wird, immer mehr und mehr ein seelisches Erleben, das jetzt nicht mehr so stark den Charakter des Triebes hat, nicht mehr in Rhythmen sich bewegt, wie wir es beim kleinen Kinde kennen, sondern allmählich bewußter und bewußter wird, sich stärker vom leiblichen Leben sondert, den Charakter des Einmaligen bekommt. Es treten Wünsche, Leidenschaften, Begierden, Launen auf. Es gehört ja zu den allerinteressantesten Dingen, zu beobachten, wie all­mählich das Gefühlsleben des Kindes sich zwischen Zahnwechsel und Ge­schlechtsreife wandelt. Beim Kinde in der unteren Klasse der Volksschulzeit empfindet man, wie in all seinen gefühlsmäßigen Äußerungen, auch in seinen Ungezogenheiten, etwas Unschuldiges darin ist, wie seine Gefühle fast etwas pflanzenhaft Reines an sich tragen. Wenn das Kind 12 oder 13 Jahre alt ist, erlebt man, wie das Gefühlsleben das Pflanzenhafte, Unschuldige mehr und mehr verliert, wie Begierden auftauchen, die vorher in dieser Form nie da waren. [...]

Man sollte aber nicht darüber erschrocken sein, ebensowenig wie man er­schrecken sollte, wenn kleine Kinder brüllen, denn es kommt nur darauf an, wie solche Kräfte gewandelt werden können. Es ist wunderbar, wie in dem Augenblick, wo das seelische Leben die Form der bewußten Begierdennatur annimmt, allmählich jene Kräfte immer stärker und stärker werden, die als erwachende Denkkräfte in das sich regende selbständige Begierdenleben des Kindes hineinleuchten. Wenn die Wogen des seelischen Lebens höher und höher gehen und drohen zu Sturm zu werden, dann ist auch die Macht da, die den Sturm und die Wellen besänftigen kann.

Das Kind wird nun herangeführt werden an jene Kraft, die es in diesem Alter braucht, die Kraft des sich Hineinlebens in die eigene Seelenwelt als Herrscher gegenüber dem seelischen Erleben.

Man ist erstaunt, wie die Denkkraft, wenn sie beim Kinde im 13., 14. Le­bensjahre erwacht, noch verbunden ist mit seinem Fühlen. Sie taucht ganz gefühlsbetont auf, erwacht und schaut voll Staunen und Verwunderung die Welt an, die im logischen Denken in ihrer Gesetzmäßigkeit begriffen werden kann. Wenn man das als Lehrer wahrnimmt, dann weiß man auch, wo die Heilmittel des Erziehens liegen, und wie der Erzieher mit Berechtigung ein­greifen kann in das so sich entwickelnde Willensleben des Kindes.

Er kann es wiederum nur, indem er von sich aus dem erwachenden, bewuß­ten Seelenleben des Kindes mit starken Gefühlen vom Unterricht her entgegentritt. Denn die Erziehung vollzieht sich nicht gesund, wenn sie sich gesondert vom Unterricht vollzieht. Darum ist es so außerordentlich traurig in unserer Zeit, daß doch sehr stark, besonders in den westlichen Ländern, die Kunst des Unterrichtens verloren geht. Das Unterrichten wird vielfach überhaupt nicht mehr als Kunst angesehen, vielmehr erscheint es als etwas Bedeutsames, wenn die Kinder „sich selbst“ unterrichten und nicht die Lehrer es tun.

Es beruht auf einer Illusion, wenn man dem Kinde die Fähigkeit des sich selbst Unterrichtens zutraut in einem Alter, wo es noch gar nicht in seiner seelisch‑leiblichen Entwicklung dafür reif ist.

Die Erziehungs‑ und Unterrichtskunst hat gerade im Alter der physiolo­gischen Reife die allergrößte Aufgabe. Sie hat die Aufgabe, dem, was da als Begierdeleben des Kindes heraufkommt, als Gegengewicht, als Läuterung starke, intensive, reine Gefühle entgegenzubringen.

Rudolf Steiner hat einmal gesagt, daß eigentlich nie eine Unterrichtsstunde mich vollziehen sollte, ohne daß das Kind nicht mindestens einmal herzlich lachen oder auch einmal recht traurig werden konnte. Die Gefühle sollen in starker Weise ineinanderspielen, sich ergänzen. Besonders wichtig ist die Pflege der Gefühle des Staunens und der Verwunderung. Denn dadurch ge­rade, daß durch den Lehrer das Staunen und die Verwunderung gepflegt wer­den, gibt man der Seele die Nahrung, die sie zum späteren Erkennen reif macht. Worüber das Kind sich einmal gewundert hat, dafür wird es sich in­teressieren, das wird es später lieben und es erkennen wollen. Denn es ist ein großer Irrtum, zu glauben, daß der Mensch irgend etwas erkennen kann, ohne es zu lieben oder es zu verehren. Was lieblos erkannt wird, fördert immer nur eine Teilwahrheit, nie die ganze Wahrheit zu Tage.

Was tauchen da im Kinde für Fragen auf, wenn es zum Staunen hinerzogen wird! Der Lehrstoff müßte um die Zeit des 13., 14. Lebensjahrs so gehandhabt werden, daß er die Kinder immer wieder zu neuem Staunen und Verwundern bringt. Worüber Kinder staunen, worüber sie sich verwundern, das sind oft die allertiefsten Menschheitsfragen, auf deren Beantwortung wir vielleicht schon längst verzichtet haben. Wie interessant sind die Fragen der Kinder! [...]

Das Kind in geistig‑leiblicher Beziehung

Der Lehrer und Erzieher, welcher sich ernsthaft mit den Ausführungen Rudolf Steiners über die Erkenntnis des werdenden Menschen befaßt, wird sich im­mer von neuem über die Kraft verwundern, die solche Erkenntnisse in seiner Seele zu erwecken vermögen. Mag er auch selbst entfernt sein vom hellsich­tigen Schauen, er wird in eigentümlicher und für ihn als Pädagogen höchst wertvoller Weise den Blick sich geschärft fühlen für das konkrete Zusammen­wirken des Geistig‑Seelischen mit dem Leiblichen beim Kinde. [...] Nichts erscheint für den Er­zieher so bedeutsam, wie das Zusammenwirken und die Metamorphose der geistig‑seelisch‑leiblichen Wesenhaftigkeit des Kindes in allen Einzelheiten zu Überschauen und die Überschau in der Pädagogik, in Methodik und Didak­tik fruchtbar zu machen. Sie kann sich nur einer langen, gewissenhaften Beob­achtung, einem künstlerisch vertieften Anschauen, einer innerlichen, von echter Liebe erfüllten Erkenntnis des kindlichen Menschen ergeben. [...]

Über Lachen und Weinen beim Kinde

Es können im Leben des Erziehers leicht Augenblicke auftreten, in denen er dem Kinde stärker beurteilend als verstehend gegenübersteht. Die kindliche Seele bringt ihm dann etwas entgegen, das er verurteilen zu müssen glaubt. Solche Einstellungen kommen weniger aus einer vertieften Menschenkenntnis als aus langgewohnten Gedankengängen und aus an der Seelenoberfläche aufwallenden Gefühlserregungen. Der ernste Mensch neigt dazu, sich so zu verhalten gegenüber dem z.B. in der Zeit der Geschlechtsreife so häufig auftre­tenden unmotivierten Lachen der Kinder. Es stellt vielleicht nichts seine Ge­duld auf eine so harte Probe als ein solches, völlig sinnloses unausgesetztes Lachen der Kinder. Begegnet man diesem Lachen um das dreizehnte, vier­zehnte Jahr in der geschilderten unangenehmen Weise, so trifft man bei den kleineren Kindern, vielleicht solchen, die eben erst in die Schule eingetreten sind, manchmal auf die Neigung, bei jeder Gelegenheit oder auch ohne jede sichtliche Gelegenheit in Tränen auszubrechen. Es gibt jüngere Kinder, die ständig in Tränen zerfließen möchten, auch wenn die liebevolle und verstän­dige Behandlung, die sie in der Schule und zu Haus genießen, anscheinend keinen Anlaß dazu bietet.

Statt ungeduldig zu werden, wird der Lehrer besser tun, sich in das Wesen von Lachen und Weinen zu vertiefen, um dann auch deren Auftreten beim Kinde gründlicher zu verstehen. [...]

Zur rhythmischen Bewegung der Glieder, zum kindlichen Tanzen und Springen gehört die Musik des kindlichen Lachens dazu. Und doch birgt manches kindliche Lachen ein psychologisches Rätsel in sich. Der Lehrer läßt z.B. ein Strafgericht aus ernsten, berechtigten Gründen über eine größere Klasse ergehen, er wird die seltsame Beobachtung machen, daß einzelne Kinder dabei lachen oder lächeln. Nun mag er zornig werden, von Frechheit, Unverschämtheit, mangelndem Ernst reden, geht er aber der Sache auf den Grund, so wird er finden, daß es häufig gerade seelisch schwach veranlagte Kinder sind, welche in solchen Augenblicken lachen. Kin­der mit labilem seelischem Gleichgewicht, die durch die Erschütterung des Augenblicks eben aus dem seelischen Gleichgewicht kommen und deren auf­geregtes Gefühlsleben sich unwillkürlich durch das Lachen äußert. Vielleicht wird man fragen, warum weinen dann diese Kinder nicht? Dreierlei kann da der Fall sein: das Lachen ist ja immer ein Ausdruck der Seele für das Gefühl der Erhabenheit über etwas, was in der Umgebung vor sich geht. Die Seele erhebt sich im Lachen über die Umgebung, dehnt sich aus, bläst sich gleichsam auf. Nun kann, was für den Erwachsenen höchster Ernst ist, was er an morali­schen Grundsätzen, an strengen Auseinandersetzungen an die Kinder richtet, für ihr so völlig anders eingestelltes Seelenleben etwas sein, was sie – nicht bewußt, aber in unterbewußten Seelengründen – als einen rechten, unkind­lichen Unsinn empfinden. Ohne daß sie es sich bewußt gestehen könnten, be­lustigen sich die Kinder in ihrer ganzen Lebensfrische über die abstrakten, grauen Intellektualismen oder Moralismen ihres Erziehers. Er wirkt humor­voll auf sie mit seinem unkindlichen, vertrockneten Wesen, und die Kinder lachen. Nicht aus Bosheit, nicht einmal aus spöttischer Absicht, sondern aus dem Gefühl einer Überlegenheit heraus, das ihnen ganz unbewußt bleibt, wenn es auch seinen physiognomischen Ausdruck im Lachen findet. Gerade wenn ernste Worte einen solchen Lächelerfolg bei einigen Kindern haben, ist für den Lehrer der Wink gegeben, zur Selbsterkenntnis zu schreiten und sich zu fragen, ob er den Ernst bildhaft, der Kinderseele entsprechend, oder in abstrakter Form vor seine Zöglinge gebracht hat.

Ist es dem Lehrer aber gelungen, ernste Worte so zu sprechen, daß sie die Macht hatten, auch die Kindesseele zu ergreifen und zu erschüttern, so ist ein darauffolgendes Lachen der Kinder oft gar nichts anderes als der Ausdruck einer Entspannung, die auf die Spannung, in die das ernste Erleben die Seele versetzt hat, mit Naturnotwendigkeit folgen muß, wie auf das Einatmen das Ausatmen folgt. Und hat der Lehrer nicht etwa durch eine humorvolle Be­merkung von sich aus die Entspannung bewirkt, so löst das Kind sie selbst in sich aus, und es ist da nicht fehlende Ehrfurcht, wenn es gerade nach feier­lichen Augenblicken wie erlöst aufatmet und auflacht. [...]

Diejenige Kraft aber, die Lachen und Weinen in der Physiognomie dem Menschen als eigentlich menschliche Herrscherkraft zugleich gestaltet und maß­voll beherrscht, ist ja zur Zeit der Geschlechtsreife noch nicht zu ihrer vollen Wirksamkeit erwacht. Das Kind tritt somit in ein Alter, wo eine Fülle seeli­scher Regungen in ihm lebendig werden, wo Freude und Schmerz sehr oft einen Spielball aus seiner Seele machen wollen, wo aber die Persönlichkeit noch nicht ihre volle Herrschaft innerhalb der Seele auszuüben imstande ist. Dann suchen Freude und Schmerz sich ihren unbeherrschten Ausdruck im unwillkürlichen Lachen und Weinen. Und zwar stärker noch im Lachen als im Weinen, denn die Seele des jungen Menschen, die nun zur Urteilsfähigkeit heranreift, die ein bewußtes Verhältnis zur Außenwelt sucht, kann in der frischen unmittelbaren Lebenskraft ihres Hineintretens in die Welt oft gar nicht anders empfinden, als daß sie nun auch in viel bewußterer Weise als beim jüngeren Kinde sich erhaben fühlt über das, was abgestorben, grau und philiströs in dieser Welt ist. Wenn die Seele, wie es diesem Lebensalter an­gemessen ist, erwärmt ist von begeisternden Idealen, dann muß sie sich weit ausdehnen und sich erheben über das, was kleinliche Enge und Beschränktheit ist oder dem jugendlichen Menschen so erscheint. Es wird Sache des Erziehers sein, Verständnis für den sich in das Leben hineinstellenden jungen Menschen zu haben und ihm solche Ideale vorzuleben und in der Seele zu erwecken, die sein Wesen kräftigen, so daß er die wahre Menschenwürde in einem beherrsch­ten physiognomischen Ausdruck der Seelenregungen sieht. Der Erzieher emp­findet ja mit Recht das Lachen in diesem Alter als widrig, weil der junge Mensch sich häufig in ganz unbegründeter Weise, die durch seine Erfahrungen nicht gerechtfertigt werden kann, über seine Umwelt erhebt, wie auch gerade das Weinen in dieser Zeit einen besonders selbstsüchtigen und wollüstigen Charakter tragen kann. Um so mehr wird es seine Aufgabe sein, das Ver­trauen des jungen Menschen so zu gewinnen, daß er ihm in taktvoller Weise dazu verhelfen kann, das richtige und harmonische Verhältnis zur Umwelt zu finden, welches der junge Mensch in diesem Alter durch viele Seelenkonflikte hindurch sucht.

Lachen und Weinen sind im besonderen Sinne der Ausdruck des kindlichen Seelenlebens. Sie spielen beim Kinde eine größere Rolle als beim Erwachsenen. Für die Psychologie des Kindes ist es wertvoll, solche Äußerungen in intimer Weise zu beobachten und die Beobachtung in der praktischen Pädagogik fruchtbar werden zu lassen. Wenn Lachen und Weinen eine solche bis in die Gesundheit und Krankheit der Kinder hineinreichende Bedeutung für sie haben, dann muß der verständige Unterricht in hohem Maße mit ihnen rechnen. Der Lehrer sollte solche Seelenregungen und ihren physiognomischen Ausdruck gleichsam in seine Gewalt bekommen, denn wenn er sie nicht her­vorruft, so treten sie unabhängig von ihm in seinem Unterrichte auf. [...] Gestaltet der Lehrer den Unterricht aber künstlerisch, dann wird er auch wie ein Kunstwerk auf das Fühlen der Kinder wirken. Das kindliche Wesen im Volksschulalter fordert es aber geradezu, daß ein leises Erschrecken, ein leises Sichfreuen, eine leicht beängstigende Spannung, eine befreiende Ent­spannung, ein schmerzliches Fühlen, ein erlöstes Aufjauchzen, in rhythmischer Folge die kindliche Seele bewegen und die Aufmerksamkeit ganz ungezwungen und selbstverständlich beim Unterrichte festhalten. [...]

Unsere pädagogische Aufgabe

[...] Daß wahre Menschenbilder sich gestalten, das hat aber nicht nur eine Be­deutung für die Erde. Es hat eine kosmische Bedeutung. Darum kann der Lehrer seine Aufgabe nicht umfassend, nicht selbstlos genug auffassen. Gibt er sich Gedanken über den werdenden Menschen hin, die ihn mit dem Welten­all in Beziehung bringen, dann verlöscht der enge Persönlichkeitsgeist, wenn er den Klassenraum betritt. Dann bekämpfen die weisheitsvollen Welten­gedanken in ihm die eigensüchtigen Triebe, und ein geisterfülltes Verhältnis stellt sich her zwischen Lehrer und Schülern, wie es zur Erfüllung der Erzie­hungsaufgaben notwendig ist. Dem mögen manchmal die äußeren Ereignisse widersprechen, wenn der Lehrer seine Tätigkeit zuerst unter den ihm anver­trauten Kindern beginnt. Aber darauf kommt es nicht an. Denn nach kurzer Zeit wird die wünschenswerte herzliche Beziehung sich hergestellt haben, wenn nicht abstrakte Gedanken in uns sind, wenn wir in das Klassenzimmer treten, sondern unsere mit aller Gründlichkeit und Liebe geistig‑moralisch erfaßte Aufgabe als Stimmung in unserer Seele lebt. Suchen die Lehrer die geistige Verbindung mit den Weiten des Weltenalls und den Tiefen der Erde, so er­ziehen sie sich selbst allmählich zu Persönlichkeiten, die auf die Kinder er­ziehend und gesundend wirken, nicht durch das, was sie im einzelnen tun, sondern durch das, was sie sind.

Erkenntnis des Kindes und deren Fruchtbarmachung in Unterricht und Erziehung

Jeder, der sich längere Zeit ernstlich mit der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft beschäftigt hat, wie sie von Rudolf Steiner vertreten wird, wird an sich eine bestimmte Beobachtung gemacht haben. Es wird ihm näm­lich erscheinen, als ob er nun erst vieles, was doch auch vorher in der Welt um ihn herum war, sehen und wahrnehmen könnte. Die Welt wird ihn über­raschen mit einer Fülle von Tatsachen, die nun plötzlich in sein Blickfeld treten, sich zu bestimmten Zusammenhängen ordnen und ihm das Bewußtsein einer ungeheuren Bereicherung seiner Wissensschätze und seines gesamten seelischen Innenlebens geben. [...]

Mit ganz besonderer Stärke kann derjenige diesen eigenartigen Vorgang in sich bemerken, der das Glück hat, sich beobachtend und erziehend mit Kin­dern beschäftigen zu dürfen. Will er dies aus seiner innersten Überzeugung heraus im Sinne der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft tun, so wird er sich vor allem ja durchdringen mit dem, was als Menschenkunde aus dieser Anthroposophie erfließt. Wie Geist, Seele und Leib im Menschen – und ganz besonders im werdenden Menschen – zusammenwirken, das wird fort­dauernd den Gegenstand seines ernstesten Studiums bilden müssen. Es wird den Erzieher mit der allergrößten Befriedigung erfüllen, wenn er den Zusammenhang von Geist, Seele und Leib beim Kinde durch die Initiations­wissenschaft Rudolf Steiners an einzelnen, konkreten Tatsachen kennenlernen darf. Denn auf dem Gebiete der Pädagogik ist es besonders unbefriedigend, besonders niederdrückend für das moralische Empfinden, ohne genaue Ein­sicht und Erkenntnis des geistig‑seelisch‑leiblichen Zusammenhanges wirken zu müssen. Ist doch hier die Verantwortung gegenüber den Kindern, gegen­über der Zukunft, die diese Kinder einst gestalten sollen, aus den Impulsen heraus, die ihre Erziehung in ihnen geweckt hat, ungeheuer schwer! [...]

Geschichtsstunden bei elf-, zwölfjährigen Kindern haben sich, nachdem eine solche Gruppeneinteilung [nach Temperaments-Ähnlichkeiten] getroffen war, etwa folgendermaßen gestaltet:

Da ist die Gruppe der vergnügten, leichtlebigen Kinder, meist schlanke, normal gewachsene Gestalten. Sie schauen lebendig um sich herum, gucken auch gern zum Fenster hinaus und schwätzen gern mit dem Nachbar. Beim Unterricht sind sie freudig dabei, um sich ebenso freudig von etwas Unwesent­lichem ablenken zu lassen. An sie wandte man sich – wie instinktiv, nicht nach langer Überlegung – mit der Aufforderung etwa, die Eroberungszüge Alexanders des Großen auf der Karte aufzuzeigen und nachzuzeichnen. Man zeigte ihnen Bilder ionischer und dorischer Säulen, die sie mit Interesse an­schauten, in ihren Unterschieden gut beschreiben konnten und mit großer Freude annäherungsweise in Plastilin nachzubilden versuchten. Auf alles, was anschaulich ist, konnte man diese Kinder hinlenken, ihrer auf die Außenwelt gerichteten Wesensart entgegenkommend und sie zum Guten ausnützend.

Erzählte man dagegen den Kindern etwa, wie Alexander das wilde Pferd Buzephalus zähmte, wie schon in seiner kindlichen Seele die Ruhmbegierde brannte, wie er den gordischen Knoten mit dem Schwerte zerhieb, durch tosende Ströme hindurchschwamm usw., so wandte man sich wiederum wie instinktiv an die Gruppe der Kinder – und forderte diese auch zum Nacherzählen auf –, die allem, was sie begeistert und interessiert, mit konzentrierter Anteilnahme folgen, mit Lebhaftigkeit und feuriger Kraft bei allem dabei sind, was sie innerlich packt, die aber sofort erlahmen, wenn das persönliche Interesse am Unterrichtsstoff aufhört. – Kommt man ihnen in der geschilderten Art ent­gegen, so zeitigen sie die ihrem Temperament entsprechenden Leistungen; zu­gleich wird die Darstellung einer vorbildlichen, aber für sie noch unerreich­baren Heldenhaftigkeit ihr meist nicht geringes Selbstvertrauen etwas dämpfen.

Eine Anzahl von Kindern ist vorhanden, die ruhig dasitzen, aber auch leicht verschlafen und uninteressiert wirken; rundköpfige, behagliche Gestal­ten sind darunter mit glattem Haar und gutmütigem, manchmal etwas lang­weiligem Gesichtsausdruck. Man mußte sie zunächst aufwecken, damit sie zu­hörten und aufnahmen, vielleicht indem man sie aufforderte, schnell einmal mit ihrer linken Hand ihr rechtes Ohrläppchen zu zupfen.

Was sie dann aber aufnehmen, bewahren sie treu und in ordentlicher Rei­henfolge, sie mögen gern ihnen Bekanntes wiederholen. Wo man geschicht­liche Ereignisse mit Treue dargestellt und wiederholt haben wollte, forderte man sie auf, und man konnte gerade sie mit Wiederholungen nicht langweilen. Nur äußern sich diese Kinder schwer und ungern mündlich, dagegen schriftlich stellen sie gern und mit sauberer, guter Schrift dar, wenn man ihnen Zeit läßt. Ein gewisses Gleichmaß, ein rhythmisches Leben ist dieser Art von Kindern Bedürfnis; die Klasse hat an ihnen ein ordnungsliebendes, zuverlässiges, gleichsam stabiles Element. Ist die Schläfrigkeit sehr stark und eint sie sich mit einem melancholisch‑dumpfen Brüten, so ist allerdings die Aufgabe des Leh­rers sehr erschwert. Man konnte aber die Erfahrung machen, daß ein sol­ches Kind gerade im Geschichtsunterricht mehr aufnahm, als man bei seiner anscheinend völligen Teilnahmslosigkeit erwartet hätte.

Wollte man im Geschichtsunterricht die Kinder auf große geschichtliche Zu­sammenhänge hinweisen, sie die Verschiedenheit umfassender Kulturperioden begreifen lassen – etwa den Unterschied der ägyptischen von der griechischen Kultur –, so daß sie aus den Charakteristiken, die man ihnen gegeben hatte, das Symptomatische herausfanden und verglichen, so hatte man eine große Stütze an der Kindergruppe, die den Ausführungen des Lehrers schon gedank­liches Verständnis entgegenbringt, deren intellektuelle Begabung ihr ermög­licht, auch das Ideenmäßige zu erfassen, das für die anderen Kinder mehr im Hintergrund bleibt. Wie Alexanders Leben symptomatisch ist für einen ganz neuen weltgeschichtlichen Impuls, wie mit ihm eine Persönlichkeitskultur ge­kennzeichnet ist, die noch zur Zeit des gerechten Aristides in Griechenland nicht wirksam war, das konnten diese Kinder gut verstehen. Sie konnten dar­über nachsinnen, und es wird so das Grüblerisch‑Brütende, auch sich selbst Analysierende, das gerade solche Kinder schon in verhältnismäßig frühem Alter belasten kann, abgelenkt auf weltgeschichtliche Erscheinungen und Zu­sammenhänge, die für die heranwachsenden Kinder – besonders von dieser mehr melancholischen Veranlagung – vom zwölften Jahre an eine gesunde, das Seelenleben kräftigende Geistesnahrung sind. Diese Kinder, die durch ihr reifes, nachdenklich‑besinnliches Aufnehmen der Anregungen des Lehrers für ihn eine große Freude sind, stehen ja überhaupt der Empfindungswelt der erwach­senen Menschen nicht so fern wie die anderen kindlichen Temperamente. [...]

Den Kindern ist es ja in ihren Volksschuljahren im Sinne ihrer Wesens­entwicklung vom siebten bis vierzehnten Jahre selbstverständlich, den Lehrer als Autorität in ungezwungener Weise zu empfinden und zu verehren. Man kann oft beobachten, in wie rührender Art Kinder, die nicht die Möglichkeit haben, zu wahrhaft verehrungswürdigen Persönlichkeiten aufzuschauen, sich einen Ersatz dafür schaffen, indem sie mit Hilfe ihrer Phantasiekräfte irgend­einen lebenden Menschen oder eine Persönlichkeit der Geschichte oder Litera­tur sich zu ihrem Vorbild, ihrem Helden ausgestalten. [...]

Man konnte nach fast anderthalbjähriger Praxis an der Waldorfschule, in der man versuchte, das Verhältnis von Lehrer und Schülern im angedeuteten Sinne zu gestalten, manche interessante Erfahrung in bezug auf diese Frage machen. [...]

Man kam immer mehr zu der Überzeugung, daß das stärkste Erziehungsmittel, auch in bezug auf die Disziplin, im Unterricht und seiner Handhabung selbst liegt, nicht in erzie­herischen Bemühungen und Bestrafungen, die neben dem Unterricht herlaufen, auch nicht in einer starken, persönlichen Einwirkung auf die Kinder. Abgesehen von einzelnen Fällen sollte sich das persönliche Verhältnis zu den Kindern auch nur durch den Unterricht selbst herstellen und in ihm auswirken. Zum Beispiel lag der Wendepunkt, der eine wesentliche Besserung in den Disziplinschwierigkeiten einer sehr großen Klasse brachte, da, wo den Kindern die Pflanzenkunde so dargestellt wurde, wie sie methodisch‑didaktisch in geisteswissenschaftlicher Durchdringung behandelt werden kann. Die Kinder, die reiner und unbefangener fühlen als die Erwachsenen, ahnten die ganze Fülle der Erkenntnisse, die durch anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft ihren Weg zu den Menschen suchen und deren Reichtum ihnen durch die Vermittlung des Lehrers entgegenstrahlt, gerade wenn er ihnen nicht An­throposophie bringt, die für sie dogmatisch bleiben müßte, sondern sie auf Zusammenhänge hinweist, die für sie verständlich und überschaubar sind; Zusammenhänge, die sie in der Welt wirklich finden können, die ihnen die Augen öffnen für vieles, was sie sonst nicht sehen, was ihnen trotz seines Vor­handenseins in der Welt aber im allgemeinen auch nicht nahe gebracht wird. Die Kinder ahnten, wieviel Wissenswertes, Wunderbares und Geheimnis­volles das Weltall birgt, wie etwas in der Seele des erwachsenen Unterrich­tenden lebt, was ihrem kindlichen Verständnis jetzt noch verschlossen ist. Das bewirkte dann nicht nur ein ungezwungenes Sichunterordnen unter die Per­sönlichkeit des Lehrers, es riß die Kinder auch heraus aus ihrem oft etwas engen Horizont, es weitete sie aus und gab ihnen eine Freude, die sie ebenso ganz erfüllen konnte, wie die Freude am kindlichen Spiel und Geschwätz. [...]

Es gibt etwas, worauf alle Kinder mit großer Lebendigkeit eingehen, das sind die „Geschichten“, die man ihnen erzählt. Anthroposophisch orientierte Pädagogik weist nun darauf hin, daß man auf Kinder im Volksschulalter am nachhaltigsten wirkt, wenn man ihnen das, was sie in ihr Gedächtnis, ihren sittlichen Willen aufnehmen sollen, in Form von Gleichnissen und Sinnbildern nahebringt. Gleichnissen und Sinnbildern, von deren innerer Wirklichkeit der Lehrer selbst innerlichst überzeugt ist.

Es ist also auch hierbei die seelische Verfassung des Erziehers und sein Ver­hältnis zu den Kindern von allergrößter Wichtigkeit. Man konnte durchaus die Beobachtung machen, daß die Kinder eine solche „gleichnisartige Ge­schichte“ in atemloser Stille und ungeteilter, hingebungsvoller Aufmerksam­keit in sich aufnahmen, wenn der Lehrer selbst diese „Geschichte“ erarbeitet und gestaltet hatte, sie nicht irgendwo gelesen und für seinen Zweck passend gefunden hatte. Nie fühlt man sich so eng verbunden mit den Kindern wie in solchen Augenblicken. Die Wirkung solcher gemeinsam erlebter Stunden, in denen der Lehrer aus seiner Kenntnis der Kinder heraus dasjenige ihnen in phantasievoller Form nahebringt, was sie für ihr sittliches Leben notwendig haben, strömt dann in das ganze weitere Zusammenleben ein. Keine diszipli­narische Maßnahme, keine moralpädagogische, verstandesmäßige Besprechung kann einem solchen Wirken durch Sinnbild und Gleichnis an Tiefe und Nach­haltigkeit gleichkommen. Das konnte in mehreren Fällen festgestellt werden, wo charakterlich sehr schwer lenkbare und das Gesamtbild der Klasse schwer störende Knaben im Alter von neun bis elf Jahren sich durch solche öfters wiederholten, der ganzen Klasse erzählten „Geschichten“ in erfreulichster Weise umgewandelt und gebessert haben. [...]

Nun kann selbstverständlich das Verhalten irgendeines einzelnen Kindes auch dazu Anlaß geben, daß man es ganz persönlich vornimmt, um erziehend auf es einzuwirken. Fast jede Klasse hat das Kind, das durch seine fortwäh­rende Unruhe, Unaufmerksamkeit und koboldartiges Benehmen den Lehrer und die Kameraden zur Verzweiflung bringt. Die Ursachen zu solchem stö­renden Betragen können verschiedene sein, neben innerer seelischer Schwäche ist öfters Nervosität und Kränklichkeit irgendwelcher Art vorhanden. Mit solchen Kindern geht ja der Lehrer schon deswegen vorsichtig um, weil sie im Elternhaus meist nicht erträglicher sind und daher gewohnt sind, gescholten, gepufft und gestraft zu werden. Man kann bei solchen Kindern leicht eine innere Unzufriedenheit, zeitweises Unglücklichsein, das an Verbitterung grenzt, beobachten, oft zeigt sogar schon das kindliche Gesicht häßliche und verärgerte Züge. Der Erzieher wird ja bedenken, daß er durch zu heftiges Ablehnen des störenden Verhaltens oder gar durch Abschneiden der ungezogenen Äuße­rungen mittels drakonischer Maßnahmen nichts Wesentliches am Kinde än­dert. Das Kind frißt seine Ungezogenheiten in sich hinein, und sie werden ganz gewiß später in irgendeiner viel schlimmeren, vielleicht krankhaften Form zum Ausbruch kommen, möglicherweise wenn der heranwachsende Mensch dem Erzieher längst aus den Augen gekommen ist.

Auf Grundlage dessen, was den Lehrern der Waldorfschule an pädago­gischen Ratschlägen von Rudolf Steiner gegeben wurde, wurde versucht, ein­zelne solcher Kinder so zu behandeln, daß man sie nicht im Augenblicke ihrer Untaten selbst erfaßte und bestrafte. Soweit das irgend ohne Störung des Un­terrichts möglich ist, läßt man sie gewähren, ohne sie aus dem Auge zu ver­lieren. Man notiert sich innerlich ihre Ungezogenheiten, bleibt gelassen, freundlich und gleichmütig, ohne zu tadeln. Ein so behandeltes Kind kam zu­nächst nicht in den gereizten Zustand, in den ein fortwährendes Tadelnmüssen es versetzte, und der seine Klassenleistungen verschlechterte. Am nächsten Morgen aber bei Beginn des Unterrichts rief man dem Kinde kurz, aber ein­dringlich sein Benehmen des vorigen Tages ins Gedächtnis zurück, so daß es dabei auch die Teilnahme bemerken konnte, die man ihm entgegenbrachte, und fühlte, wie man den Wunsch hatte, es zu unterstützen. Es war noch frisch, ausgeschlafen und ruhig und in einer Weise aufnahmefähig, wie später am Tage nicht mehr. Es war noch nicht gereizt und meist sehr geneigt, gute Vor­sätze zu fassen und auf sich aufzupassen. [...]

Erziehung als Kunst?

[...] Wie könnte ein glü­hender Gasball mit all seinen noch so staunenswerten physikalischen Eigen­schaften die Gefühle ehrfurchtsvollen Dankes erwecken, die Jahrtausende der Sonne entgegengebracht haben und die man nur Wesenhaftem darbringt.

Und wenn wir trotzdem auch heute noch in innigster Ehrfurcht und war­mer Liebe zur Sonne aufsehen, so müssen wir uns gestehen, daß unsere Ge­fühle mit unserem Wissen vielfach nicht mehr übereinstimmen. Daß wir oft unserem Herzen Stimmungen erlauben, zu denen die Wahrnehmungen der Sinne, in der Deutung, die die Gedanken unseres Kopfes ihnen geben, uns nicht berechtigen!

Dies, ganz tief gefühlt, führt uns in ein ernstes Problem hinein: Dürfen wir auf Kinder, in Märchen, Erzählungen und Gesprächen, unsere Ehrfurcht, un­sere Anbetung der göttlichen Sonne, der erhabenen Sterne usw. übertragen, wenn unsere Erkenntnis uns nicht den Boden bereitet, auf dem solche Empfin­dungen aufsprießen können? Verlassen wir uns aber auf unser Herz und be­zweifeln unser Wissen, so ist nur von der anderen Seite her wiederum der Zwiespalt da, um den wohl keiner herum kommt, der im Unterricht aufge­rufen ist, von dem, was in der Welt ist, zu heranwachsenden Menschen zu sprechen.

Und so kommen wir um die Frage nicht herum: Haben wir das Recht, in Märchen, Mythologien, religiösen und künstlerischen Darstellungen Inhalte an das Kind heranzubringen, die die Gesamtschöpfung gottdurchdrungen zeigen, trotzdem das, was heute exakt wissenschaftliche Forschung ist, keine Anhaltspunkte für eine religiös‑künstlerische Weltanschauung ergibt? [...]

Schauen wir die Sache noch von einer anderen Seite an! Warum erlebten noch die Griechen die Welt erfüllt von schaffenden Wesenheiten, jeden Baum, jede Quelle, jeden Windhauch belebt und beseelt? Und warum ging diese Art einer selbstverständlich künstlerischen Anschauung den Menschen ver­loren? Warum wurde die Natur nicht nur von allen guten Göttern entblößt, sondern sogar dem Teufel in die Hände gespielt, so daß sie weitesten Krei­sen der mittelalterlichen Menschen als sündhaft galt? [...]

Die Frage ist berechtigt: Was hat sich abgespielt in der Menschheitsentwicklung? Haben sich wirklich göttlich schaffende, heilige, weil heilende Kräfte von der Natur zurückgezogen – oder ist es so, daß wir die Fähigkeit verloren haben, sie zu schauen?

Rudolf Steiner weist in seinem Buche „Goethes Weltanschauung“ auf einen bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Mensch und Welt hin. Es ist „der verhängnisvolle Augenblick, in dem sich eines griechi­schen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen Sinnesorgane bemächtigte..., in dem er das Vertrauen zu dem, was die naive, unbefangene Beobachtung darbietet, verlor... Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus“.

Es hat also einen Zeitpunkt gegeben, in dem die Menschen, wenn sie in die Natur hinausblickten, in ihrer Wahrnehmung nicht mehr ein Göttlich‑Wesen­haftes, auch nicht mehr ein Bild der göttlichen Schöpferkräfte miterlebt haben. Wo sie in sich selber Gedanken erlebten, die ihnen gegenüber der Erfahrung als das „Wahrere“, ja als das einzige Wahre erschienen. Wo sie sich von dem abwandten, was die Sinne ihnen zeigten und sich dem zuwand­ten, was in ihrer eigenen Seeleninnerlichkeit als Gedanke auftauchte. [...]

Und hatten im Laufe der Entwicklung die Götter ihre Schöpfung verlassen – denn sie haben sie verlassen und sich von ihren Werken zurückgezogen –, so wurde ihr nun auch noch vom Menschen selber ihr Wahrheitsgehalt genommen und in die eigene Seele hinein verlegt. Die keltisch‑germanischen Völker aller­dings wehrten sich dagegen, in der aus gewaltigen Schöpfungsvorgängen ent­sprossenen Welt die Sünde, die verführerische „Frau Welt“ zu sehen, in der von Elementargeistern durchwobenen Natur nur gottlos täuschendes Wesen. Für sie war die Natur nicht sündhaft, sie war die vom lichten Gotte Baldur verlassene, trauernde Witwe, die herumirrt, um das Geisteswesen wiederzu­finden, das durch seine Auferstehung die Schöpfung wieder göttlich durch­leuchtet sein lassen würde. Und lange erhielt sich im irischen Christentum jenes innige Durchdrungensein der alten Liebe zu allen Geschöpfen Gottes mit der neuen Liebe zu dem Christuswesen, dessen Logoskraft ja allem Ge­schaffenen zugrunde liegt.

Was ist aber Goethes Naturanschauung anderes als die Überwindung jener unheilvollen Zweiheit: Des täuschenden Reiches der Sinne und des Reiches der Wahrheit in der Vernunft! Er sah ja mit Sinnen‑ und Geistesaugen zugleich. Er sah in der sinnlich wahrnehmbaren Pflanze zugleich die übersinnliche Ur­pflanze. Er sah seine Ideen mit Augen. Er schlug den gewaltigen Bogen über Neuzeit und Mittelalter zurück zu Aristoteles, „indem er in seinen Urbildern die treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen sah“. Und nur dadurch konnte er auch zu der erlösenden Anschauung von dem, was Kunst ist, vordringen. Rudolf Steiner hat in seiner Schrift „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“ ausgesprochen, was in Goethe lebte, aber von ihm nicht ins philosophierende Bewußtsein gehoben wurde. [...]

Wenn wir verstehen wollen, inwiefern Erziehung Kunst sein kann, müssen wir versuchen, zu begreifen, wie im Kunstwerk Geistiges und Stoffliches zu­sammenwirken. Der Stoff, das Material des Erziehers aber ist das lebendige, im Werden begriffene Menschenwesen. Aus der geschilderten Trennung von Idee und Wahrnehmung heraus konnte nichts anderes für die Auffassung des Künstlerischen sich ergeben, als daß der Künstler seinen Stoff zu ergreifen habe, um ihm die Idee, die er gefaßt hat, einzuprägen, damit der Stoff zum Ausdruck der Idee werde. Es liegt darin die Mißachtung der einen Seite der Wirklichkeit, die uns durch die Sinne gegeben ist.

Was würde eine solche Auffassung vom Künstlerischen in der Erziehung bedeuten? Es würde bedeuten, daß der Erzieher sich ein Ideal bildet von dem, wozu er den Zögling bringen will, und dieses Ideal in ihm zu verwirklichen sucht. Es könnte das Ideal des Staatsbürgers, des Praktikers, des sozialen, des proletarischen Menschen, des gesunden Rassenmenschen usw. sein. Er würde sein Material vergewaltigen, um ihm sein Ideal aufzuprägen.

Täuschen wir uns nicht, daß das heute sehr vielfach, vielleicht mehr als man zugeben will, geschieht. [...] Aber wahre Kunst entsteht nur dort, wo der umgekehrte Weg gegangen wird. Wo man nämlich sich vertieft in das, was einem durch die Sinne als Wahrnehmung gegeben ist, dann sich die dieser Wahrnehmung zugehörige Idee erarbeitet und schließlich diese Idee vollkommener, als es in der Wirklichkeit möglich ist, im Kunstwerk darstellt, so daß ein Kunstwerk immer Wahrheit in erhöhtem Maße zeigt, jene Wahrheit, die zwar mit der Natur verbunden ist und in ihr wirkt, aber sich doch nie ganz durchsetzen, nie ganz in ihr in die Erscheinung treten kann.

Und so sagt Rudolf Steiner in der angeführten Schrift: „Goethe als Vater einer neuen Ästhetik“: „Das Schöne ist nicht das Göttliche in einem sinnlich­-wirklichen Gewande; nein, es ist das Sinnlich‑Wirkliche in einem göttlichen Gewande. Der Künstler bringt das Göttliche nicht dadurch auf die Erde, daß er es in die Welt einfließen läßt, sondern dadurch, daß er die Welt in die Sphäre der Göttlichkeit erhebt.“

So besteht meine Aufgabe dem Kinde gegenüber darin, daß ich es in allen seinen Lebensäußerungen studiere, aber nicht auf experimentell‑psychologi­schem Wege, sondern auf die zartere Weise der künstlerischen Anschauung. Und künstlerisch betrachte ich das Kind, wenn ich in seinem natürlichen Wesen ein Geistig‑Seelisches walten sehe.

Vertiefe ich mich so in das Kind mit all der Andacht und inneren Ruhe, die der Anblick eines Kunstwerkes uns einflößt, so geht mir ihm gegenüber die Idee auf, die dieser Wahrnehmung entspricht. Sie ist im gegenwärtigen Kinde noch nicht voll in die Erscheinung getreten, arbeitet aber an ihm und will sich nach und nach in ihm zur Offenbarung bringen. Ich darf also das Ideal finden, das nicht ein allgemeines ist, sondern ein individuelles, ein einer bestimmten Individualität entsprechendes. Ich bilde mir das Menschenbild, das individuelle Züge trägt, und mir wird Erlebnis, was Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung ausspricht: „Jeder individuelle Mensch trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“ [...]

Man darf es vielleicht so aussprechen: nicht das Göttliche hat Mensch zu werden – das war die Aufgabe des vorchristlichen Menschen und hat sich im Beginne unserer Zeitrechnung in der Vollkommenheit erfüllt –, sondern der Mensch hat sich zum Göttlichen zu erheben, sich zu vergeistigen durch die Kraft, die ihm seit der Menschwerdung des Göttlichen innewohnen kann.

Man sieht hieraus auch klar, wie der Erzieher niemals die Aufgabe haben kann, die Individualität des Menschen zu erziehen. Denn dessen wahres Selbst wird nicht erzogen, sondern ist selber erziehend. Der Erzieher ist sein Diener. Er hilft mit, das leibliche Wesen des Kindes, das, was an ihm „Nicht‑Ich“ ist, zu wandeln, zu läutern, vor allem von Hemmungen zu befreien, damit es dem ihm zugehörigen Menschenbilde zu entsprechen lernt. [...]

Ein Wesen, bei dem das Geistige noch selber als Künstler wirkt, indem es sich Leib und Seele erst bildet, fordert auch, daß ihm im Unterricht die Welt zunächst in künstlerischen Bildern vermittelt werde. Die Forderung nach einer künstlerischen Unterrichtsgestaltung kommt aus der tieferen Natur des Menschen selber. Die künstlerische Art der Darstellung, die dem Kinde entspricht, darf aber nicht in Widerspruch geraten mit dem wissenschaftlichen Unterricht, den der junge Mensch in den Oberklassen und selbst noch auf der Hochschule empfängt. Eine wahre Wissenschaft kann nur in begrifflicher Form dasselbe aussprechen, was in bildhafter Form Nahrung der kindlichen Seele gewesen ist.

Wenn im Märchen Blumen und Tiere verzauberte Geistwesen sind, die erlöst werden wollen, wenn die Tiere in der Fabel einseitige Ausbildungen menschlicher Eigenschaften verkörpern, so muß der Unterricht in Botanik und Zoologie bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit von dem Hauche dieses Gei­stigen noch umweht sein, und was sinnlich wahrnehmbar ist, muß in der Form der Idee seine Geistnatur mit sich vereint offenbaren.

Vor allem aber für den Menschen selber sollte es gelten, daß jenes Bild, das aus Märchen, Mythologie, Legende und Heiliger Schrift sich dem Kinde in die Seele geprägt hat, auch dann aufleuchtet, wenn im Menschenkunde‑Un­terricht die leibliche Gestalt des Menschen und ihre physiologischen Prozesse durchgenommen werden. Eine vergeistigte Darstellung des Natürlich‑Geisti­gen müßte herausarbeiten, inwiefern die aufrechte menschliche Gestalt mit all ihren Lebensvorgängen „Tempel des Gottes“ ist.

Wie schwer, wie rätselvoll ist aber diese Aufgabe für den Erzieher. Er darf, wenn er von den ersten Kinderjahren an bis zur Reifezeit den heranwachsen­den Menschen in Welt und Natur einführt, keinen Abgrund in der Seele auf­reißen zwischen dem, was in das kindliche Wesen als Bild, in den erwachten Geist als Begriff eingeht.

Der Mensch ist im Märchen im selbstverständlichen Zusammenhange mit der ganzen Natur, er spricht mit Blume, Tier, Wind, Stern, Mond und Sonne, empfängt ihre Gaben und dient ihnen. Ein künstlerisch gestaltender Men­schenkunde‑Unterricht würde dem Menschen diese kosmischen Zusammen­hänge nicht nehmen, sondern sie vergeistigen und ins Bewußtsein heben.

Rudolf Steiners Lebenswerk war der Aufgabe gewidmet, die Geistverbin­dung des Menschen mit der Welt durch die Methoden einer geistigen Erkennt­nis aufzuzeigen. Gerade als Lehrer und Erzieher kann man nicht tief genug empfinden, was es bedeutet, ehrlich, mit reinem Gewissen diese Verbindung mit der Natur und dem Sternenall wiederum suchen und erleben zu dürfen. So hoffnungsvoll suchen zu dürfen, gibt allein die Kraft, im Unterricht den Geist im künstlerischen Bilde erscheinen zu lassen.

Zur Begründung künstlerischer Unterrichtsgestaltung

[...] Wir bringen uns die Sinnes­wahrnehmungen im gewöhnlichen Leben kaum zum Bewußtsein, wir verbin­den sie nicht mit lebendigen Seelenerlebnissen. Die Sinne als solche haben etwas Absterbendes an sich. Man bringt z.B. in der Physik das Auge in Ana­logie mit der Camera obskura. Man sieht gerade durch die Herstellung sol­cher Beziehungen zum Physikalischen, daß die Sinne beim erwachsenen Men­schen im normalen Bewußtseinszustand nicht stark von Leben durchdrungen sind. Der erwachsene Mensch gewinnt aus Sinneswahrnehmungen Vorstellun­gen, die Vorstellungen verwandelt er in Erkenntnisse. Das vollzieht sich in abgeklärtem, ruhigem Erleben. Der ältere Mensch lebt dabei in vollständiger Ruhe. Ganz anders ist es beim Kinde. Wenn man das kleine Kind betrachtet, sieht man, wie seine Sinneswahrnehmungen viel lebendiger sind. Es verbindet sie stark mit seinem Fühlen und Wollen. Wenn das Kind etwas anschaut, so spürt man, wie es gar nicht ruhig bleiben kann, wie es die Gliedmaßen be­wegen muß, sich dazu irgendwie körperlich äußern muß. Man spürt, daß alles, was das Kind durch seine Sinne aufnimmt, wirksam ist und in die Tiefen des Organismus hineingeht, während der erwachsene Mensch das, was er durch die Sinneswahrnehmungen erlebt, in seinem Gedankengang abfängt, dort zu Erkenntnissen umgestaltet, es also nicht hineinläßt in den Organismus, in die Willensbezirke seines Wesens. Bei dem kleinen Kinde geht alles, was es wahr­nimmt, bis in die tiefsten Tiefen seines Organismus und wirkt gestaltend an ihm. Man sieht also, daß das Kind eine andere Art der Sinneswahrnehmung hat. Man kann das Kind und den Erwachsenen in bezug auf die Sinneswahr­nehmungen nicht in der gleichen Weise betrachten.

In der Geschichte der Menschheit zurückgehend, könnte man zeigen, wie auch unsere Vorfahren lebendiger empfanden, was sie durch ihre Sinne wahr­nahmen; wie ihre Sinneswahrnehmungen viel stärker von Gefühlen durch­drungen, von Empfindungen begleitet waren. Heute sehen wir noch etwas da­von beim südlichen Menschen. Der Mensch der alten Zeiten erlebte das Leben seiner Sinne durchbluteter als der heutige Mensch. Ein Grieche z.B., der sei­nen Gleichgewichtssinn und seinen Eigenbewegungssinn erlebte, fühlte, wie die dumpfen Wahrnehmungen dieser Sinne in sein Bewußtsein als Leben des Organismus heraufkamen. Weiß man das, dann kann man sich ein Bild davon machen, wie die griechische Architektur und Plastik aus dem tiefen, warmen Sinneserleben der alten Menschen entstanden ist. [...]

Wir können uns aber fragen: Gibt es nicht Zustände der menschlichen Seele, wo sie das, was in alten Zeiten in normaler Weise erlebt worden ist, das Lebendigwerden der Sinnesbezirke und das Durchseeltsein der Lebensprozesse, in einer berech­tigten und normalen Weise erlebt? Wo das, was in alten Zeiten traumhaft da war, auf höherer Bewußtseinslage heute wieder erlebt werden kann? Gibt es nicht Zustände des menschlichen Bewußtseins, wo man fühlt, wie die Sinnes­prozesse sich aus dem Gleichgültigen, Neutralen, das sie heute im allgemeinen für uns haben, herausheben, und sich ins Lebendige umsetzen, wie sie aus der Ruhe in die Bewegung übergehen? [...] Wenn wir uns genau überlegen, wann wir so erleben, finden wir: so erleben wir z.B., wenn wir künstlerisch etwas gestalten, wenn wir Schaffende sind, oder auch, wenn wir nur künstlerisch, ästhetisch Genie­ßende sind. Wenn man im Alltag durch die Welt geht, sieht man gelb, blau, rot, es berührt einen wenig. Steht man vor einem Gemälde und erlebt dabei künstlerisch, dann empfindet man, wie der Sinnesprozeß, der Gesichtssinn sich belebt, wie Gefühlselemente hereinschlagen, wie man mit Sympathie oder Antipathie die Farben betrachtet, wie das Erleben der Farben uns nicht kühl läßt. Man erfühlt etwas Strahlendes in der Seele beim Gelb. Das Blau wird mit Frömmigkeit und Andacht erlebt, das Grün erfüllt einen mit Beruhigung, mit Frieden. Das Rot stimmt feierlich, weckt erhabene Gefühle. Man kann so eine starke, innerliche Durchkraftung des Sinnesprozesses mit Sympathien und Antipathien empfinden. Wenn man entweder selber künstlerisch Schaffender oder künstlerisch Genießender ist, dann werden die Sinne wiederum leben­diger, so wie sie es beim Kinde in einer natürlichen Weise noch sind. Sie ge­raten dann in Bewegung, und man wird beobachten können, wie getrennte Sinnesbezirke sich begegnen. Das Auge des Künstlers sieht die Farben, aber zu gleicher Zeit schmeckt der Künstler auch die Farbe, riecht sie, nicht indem er mit der Zunge daran leckt oder die Nase in die Farbe steckt, sondern feinere Prozesse spielen sich ab, die diesen Sinnesprozessen entsprechen. Wie z.B. auch der Wärmesinn am künstlerischen Erleben der Farben beteiligt ist, das sieht man eben daraus, daß man sagt: kalte Farben, warme Farben. Be­sonders ist das vereinigte Erleben der Sinnesbezirke auch vorhanden, wenn man ein Gedicht künstlerisch erfaßt. Denn jeder wird sich klar machen kön­nen: nicht der Gehörsinn ist das Wichtigste, auch nicht der Wort‑ und Gedan­kensinn, durch den man den Inhalt des Gedichtes wahrnimmt, sondern wichtig ist das, was man innerlich in seinem Gleichgewichtssinn, seinem Bewegungs­sinn erlebt. Das, wodurch man künstlerische Formen, Takt und Rhythmus wahrnimmt, ist ja das Wesentliche, wenn man ein Gedicht künstlerisch auf­nehmen will. Da kommen diejenigen Sinne in Betracht, deren Wahrnehmun­gen so fein sind, daß sie gewöhnlich nicht ins Bewußtsein des Menschen hinaufschlagen. Alles wird beim künstlerischen Anschauen bewegt und verlebendigt gesehen. Und wenn man so wahrnehmen kann, wie die Sinne in einen Zustand des Lebendigen zurückkehren, den sie noch beim kleinen Kinde haben, so kann man auch in bedeutungsvoller Weise beobachten, wie beim künstlerischen Genießen oder beim künstlerischen Schaffen die Lebensprozesse sich ändern. Ein Mensch, der ein Kunstwerk anschaut oder anhört, bleibt nicht so, wie er ist. Er verändert sich nicht nur in seinem Seelenleben, sondern er wandelt sich bis in die Tiefen seines Organismus hinein. [...]

Hier sind wir an einem Punkte, wo etwas Wesentliches der Wal­dorfschulpädagogik erkannt werden kann: das Zusammenschauen dessen, was im Geistig‑Seelischen sich vollzieht mit den physiologischen Vorgängen. [...] Kunst ist auch für das Kind Gesundung oder Kränkung; sie geht in die Tiefen seines Organismus ein. Durch dies Zusammenschauen des Physiologischen mit dem Geistig‑See­lischen weiß man z.B.: wenn man das Kind etwas lesen läßt, was unkünst­lerisch und langweilig ist, so bewirkt man Störungen in seinen Säfteprozessen und seinen Lebensvorgängen. [...]

Es ist nicht so, daß man als Lehrer die Aufgabe in sich fühlen müßte, das Kind in der Dumpfheit seiner ersten sieben Jahre zu halten, weil da göttliche Kräfte an seinem Leibe bauen. Die Griechen wollten das. Sie wollten das Schaffen dieser Götterkräfte fort­setzen. Deshalb hielten sie auch nach dem Zahnwechsel eine Erziehung des Leibes für so außerordentlich wichtig. Es wurde der Leib geformt, und man wartete, was aus der Leibesbildung für Geist und Seele herauswachsen werde. Der moderne Mensch sucht aber den Weg zum Wachbewußtsein der Intellektualität. Und es ist die Aufgabe des Lehrers, das Kind dahin zu führen, es vom Leben zum Tode allmählich zu geleiten. Er hat auch die Aufgabe, das, was sich leiblich vollzieht beim Zahnwechsel, seelisch‑geistig am Kinde zu tun. Das heißt: in sein dumpfes Erleben hinein ein Gerüst zu schaffen, gleich­sam einen seelischen Zahnwechsel hervorzurufen. Wenn man dies aber auf eine solche Weise macht, daß man im Unterricht rein intellektuell verfährt, dann bringt man die Todesprozesse zu schnell an das Kind heran. Die gleich­gültigen Prozesse des Erkennens und Wahrnehmens, wie sie im erwachsenen Menschen leben, bringt man heute zu schnell an das Kind heran. Der Lehrer muß versuchen, Leben und Tod im Kinde im Gleichgewicht zu halten. Jeder Unterricht muß so wirken, daß er Bewußtseinskräfte schafft, ohne die Lebens­prozesse des Kindes abzutöten. [...]

In der gleichen Zeit, in der diese Le­bensprozesse sich verstärken, verstärkt sich auch das intellektuelle Leben im Kinde. Es trennt sich, was früher eine Einheit war. Das Kind kommt allmäh­lich zu bewußten Gedankenkräften. Es wird nach der Geschlechtsreife in seiner Urteilsbildung reif, so daß man Schwierigkeiten hat, die Lebenspro­zesse und die Gedankenprozesse, die sich sondern und auch Eigenleben ent­falten wollen, in Übereinstimmung zu bringen. Hier liegt auch der Keim des Zerrissenseins im späteren Leben, wenn der junge Mensch nicht imstande ist, das, was lebt in seinem Gedankenprozeß, ins Gleichgewicht zu bringen mit den Lebensprozessen seines Organismus, wenn er überfallen wird von Kräften, die er nicht mehr beherrschen kann. In diesem Augenblick ist wiederum nichts wichtiger für das Kind als das künstlerische Element, das aber jetzt von einer anderen Seite her an es herankommt. In diesem Augenblick braucht das Kind das Kind das musikalisch‑lyrische Erleben und alles, was damit zusammenhängt. In keinem Alter braucht das Kind so stark die Durchseelung und Durchwärmung des Unterrichts, der seinen Intellekt heranbildet, durch künstlerische Phan­tasie, als gerade in der Zeit der Geschlechtsreife. In den ersten Schuljahren bringt man ja heute noch manches Phantasievolle an das Kind heran, weil es in seinem Spieltrieb den Lehrer dazu noch zwingt. Aber beim älteren Schü­ler ist es häufig so, daß der Lehrer die phantasievoll‑künstlerische Unter­richtsgestaltung vergißt, weil das Kind verbirgt, was in seinen Seelen‑ und Leibesprozessen vor sich geht. Aber gerade da ist der Augenblick, wo die Ein­sicht des Lehrers einsetzen muß, so daß alles, was er dem Kinde an intellek­tuellen Erkenntnissen, an technischen Fähigkeiten bringt, phantasievoll durch­glüht ist. Eine umfassende Liebe muß alles das durchdringen, was das Kind im Unterricht aufnimmt. Dann wird das Kind gerade dadurch, daß das künst­lerisch‑musikalische Element den Unterricht durchwärmt und durchseelt, ver­einigen können, was sich sonst trennt: das Intellektuelle auf der einen Seite, die Lebensprozesse auf der anderen Seite. [...]

Gedanken und Empfindungen beim Abschluß der Volksschulzeit

[...] Tief wurzelt in mir die Überzeugung, daß ich nicht vermocht hätte, bei so schönen Entwicklungen einzelner Kinderseelen und der ganzen Klasse mitzu­helfen, wenn uns als Klassenlehrer in den Volksschulklassen der Waldorf­schule nicht das große Geschenk gemacht worden wäre, den gesamten Haupt­unterricht führen zu dürfen.

Der Dank für diese Gabe ist tief empfunden, denn sie macht eine allseitige, künstlerisch gestaltete Erziehung im Unterricht erst möglich. Sie gestattet ein Abwägen, ein Ausgleichen der Fähigkeiten, ein zartes Modellieren und For­men am Kinde. – In den naturwissenschaftlichen Unterrichtsepochen, die er besonders liebt, offenbart mir zum Beispiel ein Schüler seine starke Begabung zu geordneten, übersichtlich klaren Gedankengängen. In der Geschichtsepoche verhält er sich zunächst ziemlich teilnahmslos. Aber ich kenne seine Fähig­keiten, die ihn zu einem guten Mathematiker machen, und ich versuche, sie in umgewandelter Form für die Geschichte rege zu machen, indem ich ihn im Geschichtsunterricht immer dann heranziehe, wenn es sich darum handelt, Ideen in Zusammenhängen überschaubar darzustellen. Weil ich den Schüler als Mathematiker gut kenne, kann ich sein Herz für die Geschichte gewinnen.

Eine Schülerin hat dagegen eine ausgesprochene Neigung zu allem Histo­rischen, sie liebt Biographien und Geschichtsbilder; die naturwissenschaftlich­mathematischen Fächer betreibt sie nur, weil sie vom Schulbetrieb gleichsam dazu gezwungen wird. Um sie für diese, wenn nicht zu begeistern, so doch zu erwärmen, schlage ich einen Umweg ein. Ich lasse zum Beispiel die physikalischen Probleme vor ihr so entstehen, wie sie im Laufe der Menschheitsentwicklung im Geiste großer Männer aufgetaucht sind. Alles Physikalische und Mathematische versuche ich für ein so geartetes Mädchen zunächst heranzu­bringen nicht als ein von dem Erleben der Menschenseele Abgesondertes, son­dern als Fragen, mit denen geschichtliche Persönlichkeiten gerungen haben. [...]

So durfte ich die mir anvertrauten Zöglinge erziehen, so durfte ich die reiche Mannigfaltigkeit ihrer Seelenfähigkeiten entwickeln, indem ich ver­suchte, die lebenswarme, bildreiche Darstellung, wie Geschichte und Literatur sie fordern, zu ergänzen durch die kühle und klare Objektivität der mathe­matischen und naturwissenschaftlichen Fächer. Mit welcher ehrlichen Freude begrüßten die Kinder selbst nach einer längeren Geschichtsepoche etwa die sie ablösende Rechenperiode! Immer wieder empfanden Lehrer und Schüler dankbar den Rhythmus der sich abwechselnden Unterrichtsepochen, das Sich­ausweiten in den Raum in der Geographie zum Beispiel, das Sichhineinziehen in das menschliche Seelenleben zum Beispiel in der Literatur. Ein solches päd­agogisches Erleben, eine solche pädagogische Betätigung war mir aber nur dadurch. möglich, daß ich die Beteiligung und das Verhalten meiner Schüler auf allen Gebieten des Unterrichts überschauen und selbst in meiner Seele den unendlichen Reichtum eines so vielseitigen Wirkens empfinden durfte. Denn wahre Schätze, wahre Glücksgüter für sein Innenleben darf sich der Lehrer sammeln, wenn er, mit seinen Schülern durch die Schuljahre fortschreitend, in seiner Vorbereitung, die so umfassend sein darf und muß, die Schönheiten des Waldorfschullehrplans nach und nach begreifen und seinen künstlerischen Aufbau nach und nach anschauen lernt. Er empfängt eine nie geahnte Berei­cherung seines Wesens, nicht nur durch die Erweiterung seiner Bildung; vor allem dadurch, daß er den Lehrstoff sich selbst immer in einer liebevollen Gesinnung, in einer freudigen Stimmung erarbeiten darf, gedenkend der Kin­der, für die er arbeitet und gestaltet. Es erwacht in ihm die Kraft, schöpferisch zu sein, Eigenes zu empfinden, aus neuen und immer neuen Gesichtspunkten aufzubauen. Nichts, das darf man aus Erfahrung sagen, ist pädagogisch so wirksam, schafft so enge Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler, ist so dis­ziplinierend, als wenn der Lehrer die Klasse betritt in dem freudigen Ge­fühle, daß in seiner Seele sich der gegebene Lehrstoff zu einem künstlerischen Bilde aus der eigensten schöpferischen Kraft heraus gestaltet hat. [...]

Wege der Überwindung der materialistischen Weltanschauung durch die Menschenkunde Rudolf Steiners

[...] Wir Erzieher, am Ende des 19. Jahrhunderts oder Anfang des 20. Jahr­hunderts geboren, hatten mit unserer Bildung in Schule und Hochschule die materialistische Weltanschauung in uns aufgenommen. Gleichgültig, ob wir selbst mehr religiös eingestellt oder spirituell veranlagt waren. Keiner konnte sich der naturwissenschaftlich‑materialistischen Welle entziehen. [...]

Rudolf Steiner hat die deutschen Geister zurückgeführt zu ihrer wesent­lichen kulturpädagogischen Aufgabe: Den Materialismus des 19. Jahrhun­derts zu überwinden. Aber – und hier liegt bei vielen, die sich dieser Aufgabe heute durchaus bewußt sind, ein Irrtum vor, der deshalb entsteht, weil das Problem nicht ganz bis zu Ende durchgedacht wird – es handelt sich dabei durchaus nicht um eine bloße Erkenntnisfrage.

Oder besser gesagt: Die materialistische Weltanschauung ist nicht zu über­winden durch Erkenntnisse, die sich dem alltäglichen, heute gegebenen Be­wußtseinszustand erschließen. Sie ist nur zu überwinden durch den mutvollen Willen, eine bewußte Sinnesänderung zu vollziehen, die Umkehr zur geistigen Welt mit jeder nur möglichen Bewußtheit vorzunehmen – mit all den Er­kenntnisfrüchten, die der Materialismus über die physische Welt vermitteln konnte. [...]

Wir wissen: der Verstand kann ja nur das Gewordene erfassen, und damit ist er auch unvermögend, das sich aus einem geistigen Urquell heraus entwickelnde Menschenwesen zu begreifen. Rudolf Steiner lehrte die mannig­faltigen Erscheinungsformen der einheitlichen, übersinnlichen Menschen­wesenheit in ihren Wandlungen erkennen. Er gliederte die physiologischen Erscheinungen des Zahnwechsels, der Geschlechtsreife und weiterer körper­licher Entwicklungsstufen in den Lebensepochen des Menschen mit dem Wer­den zusammen, das ihnen in der geistig‑seelischen Entwicklung entspricht und mit dem sie ein Ganzes bilden.

Seine Menschenkunde ist weder materialistisch noch intellektualistisch, aber sie ist auch nicht „idealistisch“ im Sinne etwa von Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung“. Sie befreit den deutschen Idealismus aus seinen rein begrifflichen Gedankenformen, indem sie die geistigen und seelischen Ent­wicklungstatsachen immer zurückführt auf ihre physiologischen Grundlagen und andererseits Leibesgestaltung und leibliches Leben geistdurchdrungen zeigt. [...]