Rudolf Steiner: Die Lebensbedingungen des Erziehens

Rudolf Steiner: Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens. (GA 308, 8.-11.4.1924). Rudolf-Steiner-Verlag, 2007. O o  [Zwischenüberschriften eingefügt].


1. Vortrag:
Beziehung zwischen Lehrer- und Kindesseele. Temperament des Lehrers und seine Wirkungen.
2. Vortrag: Vertrauen in die sich untereinander tragenden geistigen Wahrheiten. Naturhaft-religiöse Grundstimmung im ersten Jahrsiebt, Bildhaftes im zweiten Jahrsiebt und die notwendige Gesinnung des Lehrers.
3. Vortrag: Lesenlernen im Menschenwesen. Harmonie zwischen Atmung und Blutzirkulation. Durchseelen und Durchgeistigen der ganzen Bildung.
4. Vortrag: Notwendigkeit einer innerlich erlebten, begeisternden Weltanschauung. Lebendige Durchdringung im Unterricht. Das Erlebnis der Freiheit im dritten Jahrsiebt.
5. Vortrag: Notwendigkeit geistiger Erkraftung. Rückblick auf die Jahrsiebte. Der Lehrer als verkörperte Güte, Wahrheit, Schönheit. Das Göttlich-Geistige muss bis in den Willen hinunterwirken. Wirkliche Weltanschauung.


Erster Vortrag, 8.4.1924

[...] Menschenerkenntnis man kann sagen [...], Außerordentliches ist errungen worden in bezug auf die Erkenntnis des körperlichen Menschen; aber der Mensch ist in sich gegliedert nach Körper, Seele und Geist. Und diejenige Lebensauffassung, die der Methode, dem Erziehungswesen der Waldorfschule zugrunde liegt, die anthroposophische Geisteswissenschaft, sie ist durchaus aufgebaut auf einer gleichmäßigen Erkenntnis des Körpers, der Seele und des Geistes des Menschen, und sie will durch eine solche gleichmäßige Erkenntnis der drei Glieder der Menschennatur jede Einseitigkeit vermeiden.

Ich werde in den nächsten Vorträgen, zu denen ich heute mehr eine Einleitung geben möchte, über diese Menschenerkenntnis mancherlei zu sprechen haben. Zunächst aber möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wahre, echte Menschenerkenntnis nicht bloß damit sich befassen kann, den einzelnen Menschen nach Leib, Seele und Geist, wie er sich vor uns stellt, aufzufassen, sondern daß sie vor allen Dingen dasjenige ins Seelenauge fassen will, was sich zwischen den Menschen im irdischen Leben abspielt. Indem Mensch dem Menschen begegnet, kann sich nicht – das wäre widersinnig – eine zum vollen Bewußtsein heraufgebrachte Menschenerkenntnis entwickeln. Wir würden uns als Menschen im sozialen Leben nie begegnen können, wenn wir uns so anschauen würden, daß wir fragen: Was sitzt, was ist in dem anderen? – Aber in den unbewußten Empfindungen und Gefühlen, vor allen Dingen in jenen Impulsen, die dem Willen zugrunde liegen, trägt der Mensch eine unbewußte Erkenntnis des anderen, der ihm im Leben begegnet. Diese Menschenerkenntnis, wir werden das noch sehen, hat allerdings in der neueren Zeit vielfach gelitten, und unsere sozialen Schäden beruhen darauf, daß sie gelitten hat. [...]

Nun, so wie wir im Leben als Erwachsener dem Erwachsenen gegenüberstehen und eigentlich die Menschenerkenntnis in solch unbewußter Weise üben, daß wir sie nicht bemerken, sondern nach ihr handeln, so müssen wir in einer viel bewußteren Weise als Menschenseele des Lehrers der Menschenseele des Kindes gegenüberstehen, um dieses heranzubilden, aber auch um in unserer eigenen Lehrerseele das erleben zu können, was erlebt werden muß, damit wir die rechte Stimmung, das rechte pädagogische Künstlertum, das richtige Mitfühlen mit der Seele des Kindes haben können, die notwendig sind, um Erziehung und Unterricht in entsprechender Weise zu leisten. Wir werden unmittelbar darauf gewiesen, daß eigentlich das Wichtigste sich abspielt im Erziehen und Unterrichten zwischen der Lehrerseele und der Kindesseele. [...] Es ist unter Umständen schwierig zu fassen, was sich da in wirklich imponderabler Weise hinzieht von Lehrerseele zu Kindesseele und umgekehrt. Denn dasjenige, was da strömt, es verändert sich im Grunde genommen in jedem Augenblicke, während wir unterrichten und erziehen. Man muß sich einen Blick dafür aneignen, einen Seelenblick, der das Flüchtige, Feine, das von Seele zu Seele spielt, erfaßt. Vielleicht kann man erst dann, wenn man dasjenige, was so zwischen den Menschen intim geistig spielt, zu erfassen in der Lage ist, den einzelnen Menschen für sich erfassen.

Wollen wir daher an einzelnen Beispielen heute einleitungsweise sehen, wie sich in bestimmten Fällen diese Strömungen gestalten. Dabei muß allerdings eines berücksichtigt werden: Menschenerkenntnis, insbesondere dem werdenden Menschen, dem Kinde gegenüber, nur allzuoft wird sie so geübt, daß wir das Kind in einem bestimmten Zeitpunkte seines Lebens haben, uns mit ihm beschäftigen, fragen nach seinen Entwickelungskräften, fragen, wie gerade in einem bestimmten Lebensalter die Kräfte wirken und so weiter, und was wir tun sollen, um diesen Entwickelungskräften in einem bestimmten Lebensalter in der richtigen Weise entgegenzukommen. Aber Menschenerkenntnis, wie sie hier gemeint ist, geht nicht nur auf diese einzelnen Erlebnisaugenblicke; solche Menschenerkenntnis geht auf das ganze Erdenleben des Menschen. Das ist nicht so bequem, als einen engbegrenzten Zeitraum im Menschenleben zu beobachten. Aber für den Erziehenden und Unterrichtenden ist es notwendig, das ganze menschliche Erdenleben ins Auge zu fassen; denn was wir im achten oder neunten Lebensjahre im Kinde veranlagen, hat seine Wirkungen im fünfundvierzigsten, fünfzigsten Lebensjahre des erwachsenen Menschen, wie wir es noch besprechen werden. Und was ich als Lehrer in dem volksschulpflichtigen Alter an dem Kinde tue, das zieht sich tief hinein in die physische, in die psychische, in die spirituelle Menschennatur. Das west und webt gewissermaßen oft jahrzehntelang unter der Oberfläche, tritt in merkwürdiger Weise nach Jahrzehnten, manchmal am Lebensende des Menschen, zutage, während es als Keim am Lebensanfange in ihn versetzt worden ist. In der richtigen Weise kann man auf das kindliche Alter nur wirken, wenn man nicht nur dieses kindliche Alter, sondern wenn man das ganze menschliche Leben in wahrer Menschenerkenntnis vor Augen hat. [...]

Das Temperament des Lehrers

Fassen wir [...] zunächst einmal, um unsere Aufgabe zu umgrenzen, das Lehrertemperament ins Auge. Mit einem ganz bestimmten Temperamente, einem cholerischen, phlegmatischen, sanguinischen oder melancholischen Temperamente betritt der Lehrer die Schule, stellt sich der Lehrer dem Kinde gegenüber. Die Frage, was sollen wir als Erziehende tun zur Bändigung, zur Selbsterziehung vielleicht gegenüber unserem eigenen Temperamente, sie kann ja erst beantwortet werden, wenn wir die Grundfrage ins Auge fassen können: Was tut das Temperament des Lehrers an dem Kinde, einfach dadurch, daß es da ist?

Gehen wir aus von dem cholerischen Temperamente. Das cholerische Temperament des Lehrers, es kann sich darin äußern, daß der Lehrer diesem Temperament die Zügel schießen läßt, daß er sich diesem cholerischen Temperamente hingibt. [...] Vielleicht macht er allerlei in der Umgebung des Kindes, was das Kind – wir werden sehen, wie zart die Seele des Kindes wirkt – in Schreck versetzt; der Schreck kann bloß kurz vorübergehend sein, aber sich doch fortpflanzen bis in die physische Organisation des Kindes hinein. Ein cholerischer Lehrer kann auch in dem Kinde bewirken, daß es unter fortwährenden Angstgefühlen schon an den Lehrer herankommt, oder aber es kann das Kind ganz unbewußt, unterbewußt sich bedrückt fühlen. [...]

Das Geistige, das Seelische wirkt im Körper, indem es dessen Zirkulations- und Nahrungsvorgänge unmittelbar beeinflußt. Oh, wie ist beim Kinde die Seele in ihrer Empfindung nahe dem ganzen Stoffwechselsystem, wie wirken die zusammen! Erst später, beim Zahnwechsel, sondert sich das Seelische von dem Stoffwechsel mehr ab. Jede seelische Erregung geht beim Kinde über in die Zirkulation, in die Atmung, in die Verdauung. Leib, Seele, Geist sind noch eine Einheit. Dadurch setzt sich aber auch jeder Reiz, der von der Umgebung ausgeübt wird, bis in das Leibliche des Kindes fort [...] und wir sehen die Folgen des cholerischen Temperamentes des Lehrers, der sich gehen läßt, in den Stoffwechselkrankheiten nicht nur des erwachsenen, sondern des alt gewordenen Menschen zutage treten. [...]

Betrachten wir einen phlegmatischen Lehrer, der wieder sich gehen läßt und nicht durch Selbsterkenntnis, durch Selbsterziehung das phlegmatische Temperament in die Hand nimmt. Es wird bei dem Phlegmatiker, der dem Kinde gegenübertritt, so sein, daß, man möchte sagen, der inneren Regsamkeit des Kindes kein Genüge geschieht. Die inneren Impulse wollen heraus, sie strömen auch heraus, das Kind will sich betätigen. Der Lehrer ist ein Phlegmatiker, er läßt sich gehen. Er fängt dasjenige nicht auf, was aus dem Kinde herausströmt. Es begegnet das, was aus dem Kinde herauswill, nicht äußeren Eindrücken und Einflüssen. Es ist, wie wenn man in verdünnter Luft atmen soll, wenn ich einen physischen Vergleich gebrauchen soll. Die Seele des Kindes fühlt seelisch Atemnot, wenn der Lehrer phlegmatisch ist. Und wenn wir nachschauen im Leben, warum gewisse Menschen an Nervosität, an Neurasthenie und dergleichen leiden, dann finden wir wiederum, wenn wir zurückgehen in dem menschlichen Lebenslauf bis zum kindlichen Lebensalter, wie das nicht der Selbsterziehung unterworfene Phlegma eines Lehrers, der Wichtiges hätte tun sollen an dem Kinde, solchen Krankheitsneigungen zugrunde liegt. Ganze Kulturerscheinungen krankhafter Art werden so erklärlich. Warum ist denn Nervosität, Neurasthenie so ungeheuer verbreitet in der neueren Zeit? Sie werden sagen: Da müßte man ja glauben, daß die gesamte Lehrerschaft in der Zeit, in der die Menschen, die heute nervös, neurasthenisch sind, erzogen worden sind, aus Phlegmatikern bestanden hat! – Ich aber sage Ihnen, sie hat aus Phlegmatikern bestanden, nicht in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber in einem viel wahreren Sinne des Wortes. Denn es kommt in einem bestimmten Zeitalter des neunzehnten Jahrhunderts die materialistische Weltauffassung herauf. Die materialistische Weltauffassung hat Interessen, die vom Menschen ablenken, die eine ungeheure Gleichgültigkeit entwickeln bei dem Erziehenden gegenüber den eigentlichen intimeren Seelenregungen des zu erziehenden Menschen. [...]

Wenn sich der Lehrer dem melancholischen Temperamente hingibt, wenn er durch seine Melancholie zuviel mit sich selbst beschäftigt ist, so daß, man möchte sagen, der Faden des Geistig-Seelischen des Kindes fortwährend abzureißen droht, der Faden des Empfindungslebens sich erkältet, dann wirkt der melancholische Lehrer neben dem Kinde eigentlich so, daß das Kind seine Seelenregungen in sich verbirgt und statt sie nach außen auszuleben, in sich hineinsenkt. Dadurch wird das Sichgehenlassen des melancholischen Temperamentes des Lehrers für das spätere Lebensalter eines Kindes, dem der melancholische Lehrer gegenübersteht, so, daß Atmung und Blutzirkulation unregelmäßig werden. [...]

Betrachten wir noch den Sanguiniker, der als Lehrer seinem sanguinischen Temperamente die Zügel schießen läßt. Er ist empfänglich für alle möglichen Eindrücke. Wenn irgendein Schüler einen Klecks macht, so wendet er sich hin – er wird nicht heftig –, er wendet den Blick hin. Wenn irgendein Schüler seinem Nachbar etwas ins Ohr flüstert, wendet er den Blick hin. Er ist ein Sanguiniker, die Eindrücke kommen rasch an ihn heran und machen keinen tiefen Eindruck. Er läßt irgendeine Schülerin herauskommen, fragt nur ganz kurz etwas, sie interessiert ihn nicht lange, er schickt sie gleich wieder hinein. Der Lehrer ist eben Sanguiniker. Wenn man wieder dieselben Methoden anwendet, die das ganze Menschenleben betrachten, wird man bei manchem, der an einem Mangel an Vitalität, an einem Mangel an Lebensfreude leidet – das ist ja eine krankhafte Anlage manches Menschen –, diesen Mangel als auf seine Ursache zurückzuführen haben auf die Wirkung des sanguinischen Temperamentes des Lehrers, dem dieser die Zügel schießen läßt. Das sanguinische Temperament des Lehrers ohne Selbsterziehung bewirkt eine Unterdrückung der Vitalität, eine Unterdrückung von Lebensfreude, von kraftvollem Willen, der aus der Individualität auf quillt.

Wenn man diese Zusammenhänge ins Auge faßt, die eine wirkliche Geisteswissenschaft gibt, welche auf wahre Menschenerkenntnis ausgeht, dann wird man sehen, wie umfassend im Anschauen der Menschennatur und Menschenwesenheit wirkliche Erziehungskunst, wirkliches Unterrichtswesen sein muß, wie kleinlich sich daneben ausnimmt, was oftmals nur auf das Allernächste sieht, was man gerade bequem beobachten kann.

[...]

Nun wird man sagen: Man muß auch anfangen zu erziehen. – Und da ist man halt der Anschauung, daß derjenige jemandem etwas beibringen kann, der das Beizubringende gelernt hat. Habe ich selber etwas gelernt, so bin ich sozusagen berechtigt, das einem anderen beizubringen. [...] Genügt es, das dem Kinde in der Art beizubringen, in der man das Beizubringende selber aufgenommen hat? – Es genügt nicht. Ich sage eine empirische Tatsache, die sich nur ergibt, wenn man den Menschen wirklich nach Leib, Seele und Geist durch das ganze Leben hindurch beobachtet.

Eine solche Beobachtung ergibt für die erste Lebensepoche vor dem Zahnwechsel, von der Geburt bis zum Zahnwechsel, folgendes. [...] Für diese Lebensepoche hat das, was ich gelernt habe, in bezug auf Lehren und Erziehen an dem Kinde die allergeringste Bedeutung. Da hat die allergrößte Bedeutung, was ich für ein Mensch bin, welche Eindrücke es durch mich bekommt, ob es mich nachahmen kann. [...]

Was ich gelernt habe, hat gar keine Bedeutung für das, was ich dem Kinde bis zum Zahnwechsel als Erzieher bin. Nach dem Zahnwechsel beginnt es schon eine gewisse Bedeutung zu haben. Aber es verliert alle Bedeutung, wenn ich es so beibringe, wie ich es in mir trage. Man muß es künstlerisch umsetzen, alles ins Bild bringen, wie wir noch sehen werden. Ich muß wiederum imponderable Kräfte zwischen mir und dem Kinde wachrufen. Und für die zweite Lebensepoche, für die Lebensepoche vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, hat viel mehr als die Fülle des Stoffes, die ich gelernt habe, viel mehr als das, was ich in mir, in meinem Kopfe trage, Bedeutung, ob ich in anschauliche Bildlichkeit, in lebendiges Gestalten umsetzen kann, was ich um das Kind entwickle und in das Kind hineinwellen lassen soll. [...] Für das Kind vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist das Wichtigste im Erziehen der in lebendige Lebenskünstlerschaft übergehende Mensch. [...]

Und so handelt es sich darum, daß als eine Grundlage der Pädagogik und Didaktik auftritt die Lehrerfrage. Und was eigentlich leben muß in einer Kinderschar, fortvibrieren, fortwellen bis in das Herz, bis in die Willensregungen und zuletzt in den Verstand, das ist dasjenige, was zunächst im Lehrer lebt, zunächst in ihm lebt einfach dadurch, daß er mit einer bestimmten Menschennatur, mit einem bestimmten Temperamente, einem bestimmten Charakter, mit einer bestimmten Seelenverfassung vor dem Kinde steht; dann erst, daß er sich selber in einer gewissen Weise gebildet hat, und daß er das in sich Erbildete wieder an die Kinder heranbringen kann.

So sehen wir, wie Menschenerkenntnis, umfassend betrieben, einzig und allein sein kann die Grundlage zum Erfassen einer wirklichen Didaktik des Lehrens und der Lebensbedingungen des Erziehens. [...]

Zweiter Vortrag, 9.4.1924

[...] Wonach fragt einen denn heute eigentlich jemand, der da sagt: Beweise mir eine Sache, die das Geistige betrifft? – Er fragt um folgendes: Hast du ein Experiment gemacht, hast du eine sinnliche Beobachtung gemacht, die das erweist? – Warum fragt er so? Er fragt so aus dem Grunde, weil er das Vertrauen verloren hat zu der eigenen inneren Aktivität des Menschen, zu dem Hervorbrechen können von Einsichten, die aus dem Menschen selber kommen, gegenüber dem, was man erhält, wenn man auf das äußere Leben, auf den Sinnenschein und die Verstandeserkenntnis hinschaut. Man möchte sagen: Im Inneren schwach ist die Menschheit geworden; sie fühlt nicht mehr die starke Stütze eines innerlich produktiven Lebens. Und tief beeinflußt alle praktischen Tätigkeiten, vor allen Dingen die Erziehertätigkeit, hat dasjenige, was ich eben gesagt habe. [...]

Wenn man irgend etwas behauptet über das Sinnliche von Pflanze, Tier, Mineral oder den physischen Menschen, so muß man es durch Experiment und Sinnesbeobachtung beweisen. Das heißt in diesem Fall, man muß den Gegenstand unterstützen. Wenn man sich begibt in das freie Reich des Geistes, da müssen sich die Wahrheiten untereinander tragen. Da kann man nur dadurch einen Beweis für die Dinge finden, daß die Wahrheiten sich untereinander tragen. Daher handelt es sich bei der Darstellung des Geistigen ebenso um die klare Hineinstellung irgendeiner Einsicht in den ganzen Zusammenhang, wie die Erde oder ein anderer Himmelskörper frei in den Weltenraum hineingestellt ist. Da müssen sich die Wahrheiten untereinander tragen. [...] Das muß gründliche innere Gesinnung werden, so über das Geistige denken zu können, sonst wird man im Menschen zwar das Seelische, nicht aber den Geist, der in ihm ebenso lebt und west wie das Seelische, ergreifen, erziehen und unterrichten können. [...]

Deshalb, weil dasjenige, was heruntersteigt aus der geistigen Welt als ein geistig-seelisches Wesen und ebenso real ist, als was wir mit Augen aus dem Mutterkörper hervorgehend schauen, weil das noch loser mit der physischen Körperlichkeit verbunden ist, als es später beim Menschen der Fall ist, deshalb lebt das Kind noch viel mehr als der spätere erwachsene Mensch außerhalb seines Leibes. Und damit ist nur in anderer Art ausgedrückt, was ich schon gestern sagte: Das Kind ist im allerhöchsten Grade seinem ganzen Wesen nach in dieser ersten Zeit ein Sinneswesen. Es ist wie ein Sinnesorgan. Durch den ganzen Organismus rieselt dasjenige, was an Eindrücken aus der Umgebung kommt, klingt nach, tönt nach, weil das Kind noch nicht so innig wie später der Mensch mit seinem Körper verbunden ist, sondern in der Umgebung lebt mit dem loseren Geistigseelischen. Daher wird alles aufgenommen, was an Eindrücken aus dieser Umgebung kommt. [...] Der ganze Mensch ist nämlich von der Geburt bis zum Zahnwechsel, indem in seinem Physischen die Vererbungskräfte walten, wie eine Art Modell, an dem das Geistig-Seelische arbeitet nach den Eindrücken der Umgebung als rein nachahmendes Wesen. [...]

Nur ist dieser zweite Mensch, der ganz den ersten ersetzt, den wir durch die physische Vererbung erhalten, nunmehr gebildet unter dem Einfluß derjenigen Kräfte, die sich der Mensch mitbringt aus seinem vorirdischen Leben. Und so kämpfen eigentlich in der Lebensepoche, die zwischen der Geburt und dem Zahnwechsel liegt, die Vererbungskräfte, die der physischen Entwickelungsströmung der Menschheit angehören, mit den Kräften, die sich die Individualität eines jeden einzelnen Menschen herunterbringt aus dem vorirdischen Leben als die Ergebnisse seiner früheren individuellen Erdenleben.

Nun handelt es sich darum, eine solche Tatsache nicht allein aufzufassen mit dem theoretischen Verstande, wie die meisten nach den heutigen Denkgewohnheiten das tun, sondern es handelt sich darum, eine solche Tatsache mit der ganzen inneren menschlichen Wesenheit auch zu erfassen, zu erfassen von Seite des Kindes, zu erfassen von Seite des Erziehenden aus. Wenn wir es von Seite des Kindes erfassen, was da vorliegt, dann finden wir, wie das Kind mit seinem innerlichen Seelenwesen, mit dem, was es sich heruntergebracht hat aus dem vorirdischen Leben, aus der geistig-seelischen Welt, ganz hingegeben ist an das Physische der Auswirkungen der anderen Menschen, die es umgeben. Und dieses Verhältnis ist, ins Naturhafte herunterversetzt, ins Äußere hineinversetzt, ein Verhältnis, das wir nicht anders bezeichnen können denn als ein religiöses. [...] Das Kind lebt religiös, aber eben naturhaft religiös. Es ist nicht die Seele hingegeben, sondern die Zirkulation seines Blutes, sein Atmungsprozeß, die Art und Weise, wie es sich ernährt durch die aufgenommene Nahrung. Alle diese Dinge sind hingegeben an die Umgebung. Die Blutzirkulation, die Atmungstätigkeit, die Ernährungstätigkeit beten an die Umgebung.

Natürlich klingt ein solcher Ausdruck paradox, aber in seiner Paradoxie stellt er gerade die Wahrheit dar. Wenn wir eben nicht mit dem theoretischen Verstande, sondern mit unserer ganzen Menschlichkeit ein solches erfassen, hinschauen auf den Kampf, den in dieser religiös naturhaften Grundstimmung das Kind vor uns entwickelt, den Kampf zwischen den Vererbungskräften und demjenigen, was für einen zweiten Menschen die individuellen Kräfte erbilden durch die Macht, die sie heruntergetragen hat aus dem vorirdischen Leben, dann verfällt man als der Erziehende auch in eine religiöse Stimmung. Aber ich möchte sagen: Während das Kind mit seinem physischen Körper in die religiöse Stimmung des Gläubigen verfällt, verfällt derjenige, der erziehen soll, indem er hinblickt auf dasjenige, was in so wunderbarer Weise zwischen Geburt und Zahnwechsel sich abspielt, in die religiöse Gesinnung des Priesters. Und es wird der Erzieherdienst zu einem priesterlichen Dienst, wie zu einer Art von Kultus, der sich am Weihealtar des allgemeinen Menschenlebens nicht mit dem zum Tode zu führenden Opfer, sondern mit dem zum Leben zu erweckenden Opfer der Menschlichkeit selbst vollzieht. Denn dem irdischen Leben haben wir zu übergeben, was aus der göttlich-geistigen Welt uns zugekommen ist in dem Kinde, das sich durch seine Kräfte einen zweiten menschlichen Organismus bildet aus einer Wesenheit, die durch eine Gabe des göttlich-geistigen Lebens zu uns gekommen ist.

Wenn wir diese Verhältnisse bedenken, dann erwacht in uns etwas wie das priesterliche Erziehergefühl. Und so lange dieses priesterliche Erziehergefühl für die ersten Lebensjahre nicht aufgenommen wird in alles dasjenige, was Erziehung heißt, so lange hat die Erziehung nicht ihre Lebensbedingungen gefunden. Mit dem Verstande beherrschen wollen, was zum Erziehen notwendig ist, Pädagogiken gestalten mit dem Verstande aus äußerer Anschauung der kindlichen Natur, das gibt höchstens Viertelpädagogiken. Ganze Pädagogiken dürfen nicht aus dem Verstande heraus geschrieben sein, ganze Pädagogiken müssen der Ausfluß sein auch der ganzen Menschennatur; nicht nur der äußerlich verstandesmäßig beobachtenden, sondern der innerlich die Geheimnisse des Weltenalls tief erlebenden ganzen Menschennatur. [...]

Diese Stimmung dem werdenden Menschen gegenüber, die brauchen wir als etwas, was zu aller erzieherischen Methodik dazugehört. Ohne diese Gemütsstimmung, ohne dieses – im Weltensinne sei es gesagt – Priesterliche im Erzieher läßt sich Erziehung überhaupt nicht durchführen. Daher wird alles, was angestrebt werden soll an Umwandlung der Methodik, gerade darin bestehen müssen, das seit dem vierzehnten Jahrhundert zu stark intellektuell, zu stark verstandesmäßig Gewordene wieder zurückzuführen in das Gemüthafte, in dasjenige, was aus der ganzen Menschennatur, nicht bloß aus dem Kopf hervorquillt. [...]

Man hat dazumal in einer ebenso einseitigen Art das Geistige betrachtet, wie man heute in einseitiger Weise das Naturhafte betrachtet. Aber es mußte einmal die Betrachtung des rein Naturhaften beim Menschengeschlecht hinzukommen zu dem, was die frühere Menschheit in ihrer Hingabe an das naturlose Geistig-Seelische hatte. Die Vermaterialisierung, der Umschwung war notwendig. Aber erkennen muß man, daß im gegenwärtigen Zeitpunkte, wenn die Menschheit der zivilisierten Welt nicht in Unkultur hinuntersinken will, ein neuerlicher Umschwung, eine Hinwendung zu dem Geistig-Seelischen notwendig ist. In dem Bewußtsein dieser Tatsache liegt eigentlich das Wesentliche aller solcher Bestrebungen, wie die Waldorfschulpädagogik eine ist. Eine solche Bestrebung will wurzeln in demjenigen, was sich für eine tiefere Beobachtung der Menschheitsentwickelung in unserer Zeit als das Notwendige offenbart. Wir müssen wiederum zurück zum Geistig-Seelischen. Dazu müssen wir erst ein deutliches Bewußtsein davon haben, wie wir aus ihm herausgekommen sind. Das haben heute viele eben noch nicht. Daher betrachten sie dasjenige, was wiederum zurückführen will zum Geistigen, wie ein, ja, nicht ganz Gescheites, könnte man sagen. [...]

Es werden sich viele Menschen eben gar nicht bewußt, daß sie nicht aus dem ursprünglichen Quell der Menschennatur heraus urteilen, sondern aus demjenigen, was der äußeren Kultur seit dem vierzehnten Jahrhundert eingeprägt worden ist durch die äußere materialistische Lebensgestaltung und Bildung. Tiefer in den Menschen hineinzuschauen, das ist vor allen Dingen die Aufgabe des Pädagogen, des Erziehers, und damit eigentlich aller Menschen, die irgendwie mit Kindern etwas zu tun haben. [...]

Das Kind im zweiten Jahrsiebt

Während unsere erste Lebensauffassung eine religiöse ist, in der wir als naturhaft religiöse Geschöpfe der Natur gegenüberstehen, hingegeben sind an die Umgebung, wird es jetzt zu unserem inneren Bedürfnis, alles dasjenige, was uns in der Umgebung entgegentritt, nun nicht mehr bloß hinzunehmen und es passiv fortvibrieren zu lassen in der Leiblichkeit, sondern es bildhaft umzugestalten. [...] Da das Kind jetzt fordert, alles in bildhaft-künstlerischer Weise zu bekommen, hat ihm der Lehrende, Erziehende gegenüberzustehen als ein solcher, der alles, was er an das Kind heranbringt, als ein künstlerisch Formender an das Kind heranbringt. Das ist dasjenige, was als eine Forderung an den Erziehenden und Unterrichtenden unserer heutigen Kultur gestellt werden muß, was in die Erziehungskunst einfließen muß. [...]

Lesen Sie heute Bücher über Embryologie, über Botanik, Zoologie: es ist ja zum Verzweifeln, wie man sofort in intellektualistische Kälte untertauchen muß, und wie alles Künstlerische – denn es gibt nichts Intellektualistisches, was im Werden der Natur lebt – da ganz bewußt methodisch ausgetrieben wird. Wenn wir als Lehrer ein heutiges Botanikbuch zur Hand nehmen, das nach ganz exakten Regeln der Wissenschaft geformt ist, so haben wir als Lehrer die Aufgabe, zunächst alles das aus uns auszuschalten, was wir in diesem Buche finden. Wir müssen es natürlich aufnehmen, weil wir sonst auf keine andere Weise zur Kenntnis dessen kommen, was in der Pflanzenwelt vorgeht. Wir müssen uns schon opfern, durch die heutigen Bücher das kennenzulernen. Aber wir müssen sie ausschalten, sobald wir als Lehrende oder Erziehende an das Kind zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife herantreten. Da muß sich durch uns selber, durch unsere künstlerische Lebendigkeit, durch unseren künstlerischen Sinn alles ins Künstlerisch-Bildhafte umgestalten. Da muß sich das, was in meinen Gedanken lebt über die Natur, in dasjenige verwandeln, was auf den Flügeln menschlicher artistischer Begeisterungsfähigkeit zum Bilde wird und als Bild vor die kindliche Seele hintritt. [...]

Wie wir ein Priesterliches brauchen für die erste kindliche Lebensepoche, so brauchen wir ein Artistisches, ein Künstlerisches für die zweite Lebensepoche des Menschen, für die Epoche zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Denn was tun wir denn eigentlich, wenn wir an dem Menschen bilden in dieser Lebensepoche? Da will die Individualität, die aus früheren Erdenleben und aus der geistigen Welt heraus kommt, sich einen zweiten Menschen allmählich gestalten und will ihn durchdringen, und wir stehen Pate bei diesem Durchdringen, wir einverleiben dasjenige, was wir neben dem Kinde lehrend, erziehend tun, den Kräften, die sich in das Geistig-Seelische hineinweben sollen, um den zweiten Menschen, den Menschen gerade in seiner Eigenart zu gestalten. Wiederum muß es das Bewußtsein von dieser Weltstellung sein, was wie ein innerlich belebender Impuls dasjenige durchdringt, was Unterrichtsmethodik und Lebensbedingungen des Erziehens sein sollen. Nachdenken kann man gar nicht über das, was man da tun soll; man kann es nur werden lassen unter dem lebendigen Eindruck, den das Kind auf den Lehrenden und Erziehenden macht. [...]

Was notwendig ist, das ist, durch ein künstlerisch Biegsames, das wachsen kann, dem Kinde solche Empfindungen und Vorstellungen und Vorstellungsempfindungen im Bilde zu geben, die Metamorphosen durchlaufen können, die einfach dadurch, daß die Seele wächst, mitwachsen können. Dazu gehört aber ein lebendiges Verhältnis des Lehrers, des Erziehers zu dem Kinde, nicht ein totes, das man aus toten pädagogischen Begriffen sich aneignet. [...]

Dritter Vortrag, 10.4.1924, vormittags

[...] Nun ist in der neueren Kulturentwickelung die Sache so gegangen, daß in der Tat die Menschen allmählich abgekommen sind davon, in der Natur und namentlich in der menschlichen Natur zu lesen. Unsere Naturwissenschaft ist kein Lesen, unsere Naturwissenschaft ist ein Buchstabieren. Und solange man das nicht mit aller Schärfe in sich aufgenommen hat, wird man nicht eine wirkliche pädagogische Kunst, eine wirkliche Didaktik aus wahrer Menschenerkenntnis heraus entwickeln können. Es muß eine lesende, nicht eine buchstabierende Menschenerkenntnis sein. [...]

Wie man in dem Verhältnis, das man zu einem Buche hat, ganz darinnensteckt in dem, was die Buchstaben sagen, aber etwas ganz anderes herausnimmt, als die Buchstaben sagen [...], so muß man aus der menschlichen Natur herausnehmen können dasjenige, was nun nicht die heutige Naturwissenschaft an sich sagen kann, sondern was entsteht, wenn man die Angaben der heutigen Naturwissenschaft als Buchstaben betrachtet und dann lesen lernt in der menschlichen Wesenheit.

Deshalb ist es auch so unberechtigt zu sagen, anthroposophische Erkenntnis mißachte die Naturwissenschaft. Das ist gar nicht der Fall; sie achtet sie ganz stark, aber wie derjenige das Buch achtet, der es lesen will, nicht wie der das Buch achtet, der bloß die Buchstabenformen photographieren will. [...]

Man denkt, man habe heute schon etwas Höheres, als man es gehabt hat vor dem vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert. Man hat es nicht. Aber man muß wieder dazu kommen, dasjenige was man hat, in derselben Weise bewußt, willkürlich, besonnen handhaben zu lernen, wie man früher unbewußt in instinktiven Intuitionen zu Anschauungen von der Menschennatur gekommen ist. Diese Bildung innerhalb der Zeitkultur, das ist dasjenige, was sozusagen wie ein Zauberhauch durch alle Lehrerseminarbildung hindurchgehen müßte, was Gesinnungsbildung für die Lehrerschaft werden müßte, was eigentlich erst den Lehrer bringen würde in den Mittelpunkt desjenigen Horizontes der Weltanschauung, den er übersehen, überblicken müßte. Daher ist es heute nicht so notwendig, daß man sich hinsetzt und experimentelle Gedächtnis- und Willensuntersuchungen, Verstandesuntersuchungen macht, sondern wichtig ist, daß die didaktische, die methodische, die pädagogische Bildung in Seminaren dahin orientiert wird, daß eine Gesinnung Platz greift in den Lehrerseelen, die in der Richtung geht, wie ich sie eben charakterisiert habe. Auf das Zentrale des Menschenwesens müßte eigentlich gerade in der Lehrerbildung losgegangen werden.

Und wenn das der Fall ist, dann wird dasjenige, was der Lehrer erfahren kann, erleben kann durch seine eigene Bildung, in ihm nicht ein totes Anwenden von Erziehungsregeln sein, nicht ein Nachdenken darüber, wenn irgendein Kind da ist: Wie wendet man diese oder jene Regel an? – Das ist etwas, was im Grunde genommen gar nicht sein darf, sondern es muß im ganzen Menschenwesen des Lehrers ein intensiver Eindruck entstehen von dem Kinde wiederum als Ganzes, und dasjenige, was da erblickt wird in dem Kinde, muß Freude und Leben erweckend sein. Und jenes Wesen, das als Freude und Leben erweckend im Lehrer wirkt, das muß wachsen können und unmittelbar eingeben dasjenige, was in der Frage liegt: Was machst du mit dem Kinde? [...]

Während in den ersten Jahren bis zum Zahnwechsel alles eigentlich abhängt von der Kopfbildung und ihren Kräften, wird für das zweite Lebensalter, für das Lebensalter vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, besonders wichtig, wie der Atmungsprozeß mit seinem Rhythmus entgegenkommt der Blutzirkulation, und besonders wichtig wird diese Umwandlung der Kräfte, die da stattfindet an der Grenze zwischen dem Atmungsprozeß und dem Blutzirkulationssystem. So daß für das volksschulpflichtige Alter des Kindes das Wesentliche darin liegt, daß immer eine gewisse Harmonie da sein und durch die Erziehung gefördert werden muß, eine Harmonie zwischen dem Rhythmus, der sich im Atmungssystem herausbildet, und dem Rhythmus, mit dem er sich im Inneren des Organismus berührt, dem Rhythmus, der im Blutzirkulationssystem liegt und der aufschießt aus den äußerlich aufgenommenen Nahrungsmitteln. Der Ausgleich, die Harmonisierung zwischen Blutzirkulationssystem und Atmungssystem, das ist dasjenige, was sich vollzieht zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. [...]

Sehe ich ein aufschießendes, zur Schlankheit hintendierendes Kind an, so weiß ich: Da muß ein Atmungsrhythmus sein, der in einer gewissen Beziehung schwächer wirkt auf die Blutzirkulation, als wenn ich einen kleinen Dickling vor mir habe. Bei dem Dickling muß ich den Atmungsrhythmus durch die ganze Erziehung, durch alles das, was ich geistig-seelisch in ihm hervorbringe, zu stärkerem Druck bringen, zu größerer Schnelligkeit bringen, damit für den Dickling das rechte Verhältnis da ist. Das alles muß aber so selbstverständlich und wiederum unbewußt in dem Lehrer wirken wie das Anschauen der Buchstabenformen bei dem Lesen. Man muß ein Gefühl dafür kriegen können, was man bei dem Dickling tun muß, und was man bei dem Dünnling tun muß und bei allem ähnlichen. Ob ein Kind einen großen Kopf hat im Verhältnis zum übrigen Körper, ob ein Kind einen kleinen Kopf hat, darauf kommt unendlich viel an. Aber das alles ergibt sich, wenn man mit innerer Erziehungsfreude und richtiger Erzieherindividualität in der Klasse darinnensteht und in den Individualitäten der zur Pflege übergebenen Kinder lesen kann. [...]

Wir gliedern in unsere Waldorfschulerziehung die Eurythmie dem Unterrichte ein. Was tun wir damit? Die Eurythmie zerfällt bei uns in eine Toneurythmie und in eine Spracheurythmie. Wir rufen in der Toneurythmie in dem Kinde diejenigen Bewegungen hervor, die entsprechen der Gestaltung des astralischen Leibes; wir rufen in der Spracheurythmie diejenigen Gestaltungen hervor, die entsprechen der Ich-Organisation. Wir arbeiten damit bewußt an der Ausgestaltung des seelischen Menschen, indem wir das Physische tun und Toneurythmie treiben; wir arbeiten bewußt an der Ausgestaltung des geistigen Menschen, indem wir das Physische dafür tun in der Spracheurythmie. [...] So muß auch das Erkennen nicht stehenbleiben bei den abstrakten logischen Regeln, sondern es muß das Erkennen so zum Erfassen des Menschenlebens aufsteigen, daß es nicht nur die tote Natur begreift oder das Lebendige, wenn es tot geworden ist oder man es tot vorstellt. Wenn man von diesen abstrakten Regeln aufsteigt zu dem, was sich plastisch gestaltet, wie sich jedes Naturgesetz bildhauerisch gestaltet, dann lernt man den Menschen nach seinem Ätherleib kennen. Wenn man aber anfängt, innerlich geistig zu hören, wie sich der Weltenrhythmus ausspricht aus dem wunderbarsten Musikinstrument, das aus dem Menschen gemacht wird durch den astralischen Leib, dann lernt man die astralische Natur des Menschen kennen. [...] Und lernt man nicht nur äußerlich gedächtnismäßig mit den Worten verbunden leben, sondern lernt man den Genius in den Worten wirksam kennen, so lernt man die Ich-Organisation des Menschen kennen.

Nun, heute würde man einem schön heimleuchten, wenn man bei einer Universitätsreform etwa des medizinischen Studiums sagen würde: Die Erkenntnis muß aufsteigen vom Lernen zum Plastizieren, zum Musikalischen, zum Sprachlichen. Die Menschen würden sagen: Ja, wie lange würde dann eine Ausbildung sein? Sie dauert ohnedies schon lange genug! Dann soll man noch zum Plastizieren, dann zum Musikalischen und dann noch zum Sprachlichen aufsteigen! – Sie würde aber kürzer sein in Wirklichkeit. Denn die heutige Länge rührt von etwas ganz Besonderem her. Die rührt nämlich davon her, daß man ganz stehenbleibt beim Abstrakt-Logischen und beim empirisch-sinnlichen Anschauen. Da fängt man zwar an beim physischen Leib, aber der ist nicht erklärlich dadurch – und jetzt kommt man an kein Ende. Man kann da alles Mögliche studieren und kann das bis an sein Erdenende fortsetzen: es braucht gar kein Ende zu haben, während es innerlich geschlossen wird, wenn es selber organisch aufgebaut wird für den leiblich-seelisch-geistigen Organismus. Es handelt sich also nicht darum, daß wir etwa durch Anthroposophie noch neue Kapitel aufnehmen in das, was wir schon haben. Oh, wir können schon zufrieden sein mit demjenigen, was die äußere Wissenschaft gibt. Wir bekämpfen sie nicht, wir sind ihr nur dankbar, aber so, wie wir dem Geigenmacher dankbar sind, daß er uns die Geige liefert. Aber was notwendig ist aus unserer Zeitbildung und Zeitkultur heraus, das ist, diese ganze heutige Bildung in die Hand zu nehmen und sie zu durchseelen, zu durchgeistigen, wie der Mensch selber durchseelt und durchgeistigt ist. Es ist notwendig, das künstlerische Element in der Kultur überhaupt nicht so bestehen zu lassen, daß es wie eine Luxusunterhaltung neben dem ernsten Leben einhergeht, wie eine Luxusunterhaltung [...], sondern es so zu nehmen, daß es überall als eine göttlich-geistige Gesetzmäßigkeit Welt und Mensch durchdringt.

Vierter Vortrag, 10.4.1924, abends

[...] Es ist sogar das Allerwichtigste, was beim Lehrer, beim Erzieher vorhanden sein muß, die Lebensauffassung, die Weltanschauung; nicht dasjenige, was man gewöhnlich heute unter Weltanschauung versteht, denn das ist etwas durch und durch Theoretisches, sondern etwas, was wie eine Seelenkraft in das ganze tätige Wesen des Menschen, also auch des erziehenden Menschen übergehen kann. [...] Dagegen wird eine wirkliche, in das Wesen der Welt und des Menschen eindringende Einsicht durch ihr eigenes Dasein im Herzen des Menschen in Begeisterung ausbrechen und den Erzieher und Unterrichter so hineinstellen in seinen Beruf, daß er aus dem, was er in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst fühlt, selber Begeisterung schöpfen kann, wie der Künstler, wenn ihm das Kunstwerk in den Gliedern liegt. [...] Und jene Begeisterung, die beim Lehrenden und Erziehenden aus einer innerlich erlebten und immer neu zu erlebenden Weltanschauung kommt, jene innerliche Begeisterung, die wird sich übertragen auf die Seelenverfassung der Kinder, die dem Lehrer anvertraut sind. Diese Begeisterung wird leben in alledem, was der Lehrer in der Schule erzieherisch machen kann. [...]

Sie sehen, worauf es ankommt, ist dieses, daß man wirklich sachgemäß Woche für Woche, Monat für Monat den werdenden Menschen so in Betätigung versetzt, wie das die in ihm sich entwickelnden Kräfte der menschlichen Organisation verlangen. Es kommt also darauf an, daß man abliest aus der Art und Weise, wie sich die menschliche Wesenheit entwickeln will, was man in jedem Lebensalter mit dem Kinde zu machen hat. [...]

Ich will das an einem Beispiele erläutern, an dem ich zeigen möchte, wie sehr es darauf ankommt, daß der Lehrer wirklich ein lebendiges Verhältnis zur Welt gewinnt, um aus diesem den Enthusiasmus zu trinken, den er braucht, wenn er das, was allerdings als ein anderes in der Seele des Erziehers liegend leben soll, umsetzen soll in die einfach anschaulichen Bilder für das Kind. Aber ist er selber eingeweiht in sein Verhältnis zur Welt, so setzt es sich im Anblick des Kindes und der kindlichen Betätigung um in jene Bilderwelt, die notwendig ist, um das Kind wirklich so vorwärtszubringen, wie es die Menschheitsentwickelung erfordert. [...]

Braucht man Begeisterung, um über das menschliche Verhältnis zur Welt etwas an den werdenden Menschen heranzubringen, dann kann das nicht fließen aus dem bloß abstrakten Verfolgen dessen, daß sich ein Blatt gezackt oder ungezackt in seinen Rändern darbietet oder daß die Blätter sich so oder so geformt zeigen. Das gibt nicht Begeisterung. Begeisterung gibt es aber dann, wenn sich uns die Widerspiegelung von Sonne und Mond in dem Wachstum dieser oder jener Pflanze zeigt. [...]

Auf diese Art verwebt man sein eigenes Wesen mit der lebendigen Erde, so daß man sich nicht nur auf ihr herumgehen fühlt, unterworfen den Kräften, die aus ihr hervorkommen, sondern man schaut auch in der Umgebung dasjenige, was aus Ätherfernen hereinwirkt. [...] Damit weitet sich immer mehr und mehr der Blick des Menschen, so daß seine Erkenntnis innerliches Leben wird, daß er durch seine Erkenntnis sich wirklich etwas erringt. [...] Diese kosmischen Einsichten werden in uns so leben, daß wir sie zu künstlerischen Bildern formen können, die wir brauchen. Ein Mensch, der walten sieht Sonne und Mond in allem Pflanzenwachstum, der fühlt, was an Begeisterung für das Weltenall aus solcher lebendiger Einsicht hervorgehen kann, der vermittelt wahrhaft anders, was Pflanzen sind, als einer, der die abstrakten Anschauungen der heutigen Botanikbücher aufnimmt und verarbeitet. Da wird alles so, daß der Begriff reich an Gefühl und künstlerisch vermittelt werden kann an den werdenden Menschen, an das Kind. Und das Kind wird reif für dasjenige, was dann der Erzieher machen kann aus einer solchen in die Weite gehenden Einsicht, etwa gegen das zehnte Lebensjahr hin. Und vermittelt man ihm da in anschaulich lebendigen Bildern, wie die ganze Erde ein Lebewesen ist, wie sie die Pflanzen nur in komplizierterer Art trägt wie der Mensch die Haare, macht man in der Anschauung eine Einheit, aber eine lebendige Einheit zwischen dem Lebewesen Erde und dem oder jenem Gebiet der aufwachsenden Pflanzen, dann geht etwas auf wie ein Weiten in der Seele des Kindes. [...]

Und aus solchen Hintergründen muß alles dasjenige fließen, was vom Lehrenden und Erziehenden an das Kind herangebracht wird. Dann begründet sich wirklich ein Verhältnis des werdenden Menschen zur Welt. Und dann wird man geradezu wie von selbst darauf geführt, alles in lebendige Bilder zu bringen, denn es läßt sich das nicht abstrakt erklären, was ich Ihnen jetzt vorgebracht habe über die Pflanzenwelt, es läßt sich das nur an das Kind heranbringen, indem man es in anschaulichen Bildern entwickelt, indem man nicht bloß das intellektualistische Erkenntnisvermögen in Anspruch nimmt, sondern den ganzen Menschen. [...]

Und das Schönste und Edelste, was man sich im Erlernen erringen kann, ist, daß man das Gefühl, die Empfindung hat: Es ist schwierig, mühevoll, an eine Sache heranzukommen. – Wer da glaubt, daß er immer nur mit gescheiten Worten das Wesen einer Sache treffen kann, soweit es notwendig ist, der hat überhaupt keine Ehrfurcht vor den Dingen der Welt, und Ehrfurcht vor den Dingen der Welt ist dasjenige, was zum ganzen, vollendeten Menschen gehört, soweit der Mensch vollendet und ganz werden kann innerhalb des irdischen Daseins. Etwas empfinden davon, wie hilflos man ist, wenn man an das Wesen der Dinge heranwill, wie man da alles zusammennehmen muß, was man in seinem ganzen Menschen hat, das gibt erst die wahre Stellung des Menschen zur Welt. Die kann man dem Kinde nur vermitteln, wenn man sie selber hat. [...]

Das sind die Dinge, die einem belegen können, wie Unterrichten und Erziehen nicht auszugehen haben von irgendeinem Erlernen, das man dann anwendet, sondern wie Unterricht und Erziehung auszugehen haben von einem lebendigen Durchdrungensein, das einen so hineinstellt in die Klasse, wie wenn man etwas wäre, das in diesem Wirken auf die Kinder, ich möchte sagen, nach vorne sich äußert, indem von hinten her die Weltengeheimnisse pulsierend den Menschen durchströmen; wie wenn man das bloße Werkzeug dafür wäre, daß die Welt zu dem Kinde sprechen könne. [...] Daß nicht eine Begeisterung erkünstelt werde, sondern eine Begeisterung erblühe, wie die Blüte erblüht aus der ganzen Pflanze, aus dem, was der Lehrer in sich trägt als sein Verhältnis zur Welt, darauf kommt es an. [...]

Das Erlebnis der Freiheit

Dann, wenn man in diesem Stil herantritt an das Kind zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife, dann führt man es in der richtigen Art bis zur Geschlechtsreife. Und in dem Moment des Lebens, wo die Geschlechtsreife eintritt, da entwickelt sich dann der astralische Leib im Menschen in seiner Selbständigkeit. Dasjenige, was zuerst gewissermaßen als die Musik der Welt aufgenommen worden ist, das entwickelt sich im Inneren weiter. Das Merkwürdige tritt ein, daß das, was in Bildern entwickelt worden ist im kindlichen Alter zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife, was in lebendigen Bildern innerlich musikalisch-plastisches Eigentum der Seele geworden ist, dann erfaßt wird von dem Intellekt. Und der Mensch nimmt mit seinem Intellekt nicht etwas auf von dem, was man ihm zwangsmäßig von außen intellektualistisch beibringt, sondern der Mensch nimmt dasjenige auf mit dem Intellekt, was erst selber in ihm auf andere Art gewachsen ist als durch den Intellekt. Und dann tritt das Bedeutsame ein: Man hat vorbereitet, was hinter der Geschlechtsreife bei den gesund sich entwickelnden Menschen liegen muß, das Selbst-Begreifen dessen, was man schon hat. Alles, was man in Bildern begriffen hat, lebt aus dem eigenen inneren Hervorquellen verständnisvoll jetzt auf. Der Mensch schaut in sich, indem er zum Intellekt übergehen will. Das ist ein Ergreifen des Menschenwesens in sich selber durch sich selber. [...]

Das Größte, was man vorbereiten kann in dem werdenden Menschen, in dem Kinde, das ist, daß es im rechten Momente des Lebens durch das Verstehen seiner selbst zu dem Erleben der Freiheit kommt. Wahre Freiheit ist inneres Erleben, und wahre Freiheit kann nur dadurch im Menschen entwickelt werden, daß man als Erzieher und Unterrichter so auf den Menschen hinschaut. Da sagt man sich: Freiheit kann ich dem Menschen nicht geben, er muß sie an sich selbst erleben. Dann muß ich aber etwas in ihn verpflanzen, zu dem sein eigenes Wesen, das ich unangetastet lasse, nachher einen Zug verspürt, so daß es untertaucht in das Verpflanzte. Und ich habe das Schöne erreicht, daß ich im Menschen erzogen habe, was zu erziehen ist, und unangetastet habe ich gelassen in scheuer Ehrfurcht vor der göttlichen Wesenheit in jedem einzelnen individuellen Menschen, was dann selber zum Begreifen seiner selbst kommen muß. Ich warte, indem ich alles das im Menschen erziehe, was nicht sein Eigenes ist, bis sein Eigenes ergreift, was ich in ihm erzogen habe. [...]

Fünfter Vortrag, 11.4.1924

In diesen fünf Vorträgen mußte ich mir die Aufgabe setzen, die leitenden Gesichtspunkte der Waldorfschul-Pädagogik und -Methodik in einigen Strichen zu charakterisieren. Es kam mir diesmal weniger darauf an, auf Einzelheiten einzugehen, als vielmehr darauf, zu versuchen, den ganzen Geist der Pädagogik, die aus Anthroposophie herausströmen soll, zu kennzeichnen. Denn in der Tat bedürfen die Menschen heute vielleicht noch mehr als der Einzelheiten, deren Notwendigkeit nicht unterschätzt werden soll, einer durchgreifenden Erneuerung, einer durchgreifenden Erkraftung des ganzen geistigen Lebens. Und man kann sagen: In allen geistigen Berufen ist für die nächste Zukunft außer dem geistigen Inhalt, den sie brauchen, vor allen Dingen notwendig eine Erneuerung des Enthusiasmus, der aus einem im Geiste ergriffenen Welterkennen und einer solchen Weltanschauung sich entwickeln kann. [...] Dasjenige, was unserer Pädagogik zugrunde liegt, ist, eine Methodik des Lehrens zu finden, die Lebensbedingungen der Erziehung durch das Lesen in der Menschennatur zu finden, durch jenes Lesen in der Menschennatur, das die Wesenheit des Menschen allmählich enthüllt, so daß wir dieser Enthüllung folgen können mit dem, was wir vom Lehrplan bis zum Stundenplan in Unterricht und Erziehung hineintragen.

Versetzen wir uns einmal in den Geist eines solchen Lesens im Menschen. Haben wir doch gesehen, wie das Kind in naturhafter Art wie religiös hingegeben ist an seine unmittelbare menschliche Umgebung, wie es ein nachahmendes Wesen ist, wie es in sich wahrnehmend willensgemäß ausbildet, was es unbewußt und unterbewußt aus der Umgebung erlebt. [...] Da haben wir die Aufgabe, so zu wirken in der Umgebung des Kindes, daß bis in die Gedanken und Empfindungen hinein das Kind ein nachahmendes Wesen des Guten, des Wahren, des Schönen, des Weisen werden möge.

Denkt man so, so kommt Leben in den Verkehr mit dem Kinde, und in dieses Leben in dem Verkehr mit dem Kinde kommt in ganz selbstverständlicher Weise Erziehung hinein. Erziehung wird dann nicht nur angestrebt im einzelnen Tun, sondern Erziehung wird gelebt. Und nur wenn Erziehung gelebt wird um das Kind herum, so daß sie dem Kinde nicht aufgedrängt wird, dann entwickelt sich das Kind in der rechten Art im Leben zum Menschen.

Dasjenige aber, was so in naturhafter Weise als eine religiös zu nennende Hingabe in priesterlichem Erziehen, so wie ich es gemeint habe, heranerzogen wird, das muß man in Erziehen und Unterricht, die verfließen zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife, wiederzuerwecken verstehen, zu erwecken auf einer seelisch höheren Stufe in der zweiten Lebensepoche des Kindes zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. Wir erziehen das Kind, indem wir alles, was wir an es heranbringen, bildhaft gestalten, indem wir die Erziehung zu einem künstlerischen und trotzdem echt menschlich subjektiv-objektiven Tun machen. Wir erziehen das Kind so, daß es ästhetisch dem Schönen hingegeben, das Bildhafte in sich aufnehmend, dem Erzieher und Unterrichter gegenübersteht. Da handelt es sich darum, daß an die Stelle des Religiösen das naturhaft künstlerische Empfangen der Welt tritt. [...]

Verstehen wir das recht, dann lernen wir wissen, daß wir dem Kinde zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife noch nicht beikommen, wenn wir ihm Gebote geben. [...] Moralgebote sind für es ein leerer Schall. Beikommen können wir dem Kinde in diesem Lebensalter nur, wenn wir ihm gegenüberstehen als eine selbstverständliche Autorität, wenn das Kind, ohne daß es abstrakt weiß, was Schönheit, Wahrheit, Güte und so weiter ist, in seinem Gefühl entwickeln kann den Impuls: In dem Lehrenden und Erziehenden steht vor mir verkörperte Güte, verkörperte Wahrheit, verkörperte Schönheit. – Versteht man das Kind recht, so weiß man: Ein abstrakt erkennendes, intellektuelles Verständnis gibt es noch nicht beim Kinde für die Offenbarung von Weisheit, Schönheit, Güte, aber die Offenbarung gibt es, die das Kind schaut in dem Blick, der Handbewegung des Lehrers und Erziehers, in der Art und Weise, wie die Worte des Lehrers und Erziehers gesprochen werden. [...] Und wenn dann der Lehrer und Erzieher dem entspricht, was das Kind in diesem Lebensalter bedarf, dann erwächst in dem Kinde allmählich zweierlei. Erstens der Sinn, der innere ästhetische Sinn des Wohlgefallens und des Mißfallens auch für das Moralische. Das Gute gefällt dem Kinde, wenn wir es in der richtigen Weise durch unsere ganze Persönlichkeit im Beispiel an das Kind heranbringen. [...]

So erlebt das Kind am Erzieher die Welt, die Welt in ihrer Güte, die Welt in ihrem Bösen, die Welt in ihrer Schönheit, die Welt in ihrer Häßlichkeit, in ihrer Wahrheit, in ihrer Lüge. Und dieses Gegenüberstehen dem Lehrer und Erzieher, dieses Arbeiten in den verborgenen Kräften zwischen Kindesherz und Erzieherherz, das ist der wichtigste Teil der Methodik des Lehrens, und darin liegen die Lebensbedingungen des Erziehens. [...]

Eine Erziehung, wie diese auf Anthroposophie begründete – nicht Anthroposophie als Weltanschauung den Menschen aufdrängende, sondern auf Anthroposophie begründete, weil Anthroposophie echte Menschenerkenntnis nach Leib, Seele und Geist liefert –, sie will sich auch wirklich ganz sachgemäß, ganz real hineinstellen in dasjenige, was die tiefsten Notwendigkeiten und Bedingungen unserer gegenwärtigen Zivilisation sind, notwendig deshalb, weil der Menschheit in Mitteleuropa eine Zukunft nur dadurch noch winken kann, daß sie ihr Tun und Denken aus solchen Impulsen herausholt. [...]

Falsch ist es, wenn jemand sagt, die Welt könnte erfaßt werden in Ideen, Begriffen, Vorstellungen. Falsch ist es selbst noch, wenn man sagt, die Welt solle erfaßt werden mit dem Gefühl. Sie soll erfaßt werden mit Ideen und Gefühl, aber auch mit dem Willen! Denn nur, wenn das Göttlich-Geistige in den Willen hinuntergeht, dann ist die Welt vom Menschen erfaßt; dann ist aber auch der Mensch erfaßt, angeschaut nicht von einem Teil des Menschen, sondern vom ganzen Menschen. Wir brauchen Weltanschauung nicht für Verstand und Intellekt allein, wir brauchen Weltanschauung für den ganzen Menschen, für den denkenden, fühlenden und wollenden Menschen, eine Weltanschauung, welche im ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist die Welt im Menschen wiederentdeckt. Nur der, welcher so die Welt im Menschen wiederentdeckt, der im Menschen die Welt schaut, nur der kann eine wirkliche Weltanschauung haben. Denn so wie sich im Auge die sichtbare Welt spiegelt, so ist der ganze Mensch ein geistig-seelisch-leibliches Auge, in dem sich die ganze Welt spiegelt. Dieses Spiegelbild kann man nicht von außen anschauen, das muß man von innen erleben. Dann wird es aber auch nicht Schein bleiben wie ein äußeres Spiegelbild, dann wird es innerliche Realität. Dann wird in der Erziehung die Welt Mensch, und der Mensch entdeckt in sich die Welt. [...]