Anregungen zur innerlichen Durchdringung des Lehr- und Erzieherberufes

Rudolf Steiner: Anregungen zur innerlichen Durchdringung  des Lehr- und Erzieherberufes. (Drei Vorträge aus: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA 302a, 15.-16.10.1923). | Zwischenüberschriften eingefügt.


1. Vortrag: Synthese von Gymnast, Rhetor und Doktor. Die weltfremde Denkbildung überwinden.
2. Vortrag:
Der Zusammenhang von Erziehen und Heilen. Belebende und krankmachende Prozesse.
3. Vortrag: Zyan- und Kohlensäureprozess im Willen und Denken. Der Drachenkampf mit der Intellektualität. 


1. Vortrag, 15.10.1923

Meine lieben Freunde, [...] die Fruchtbarkeit unserer gesamten Wirksamkeit an einer solchen Institution wie der Waldorfschule hängt ja, wie im Grunde genommen alles, was auf Erziehungskunst hinauslaufen soll, davon ab, daß der Lehrende, der Erziehende selber in sich die Möglichkeit findet, diejenige Stimmung zu erzeugen, die ihn aufrecht und auch in richtigem Sinne aktiv in seine ganze Betätigung hineinträgt. [...]

Es hängt sehr viel im Unterrichten und Erziehen von dieser Stimmung ab. Man kann außerordentlich gut die Grundsätze des Unterrichtens und der Erziehung in sich tragen, kann sie im einzelnen geistvoll, meinetwillen auch herzlich durcharbeiten, aber auf ganz fruchtbaren Boden wird, was wir zu wirken versuchen in der Schule, nur dann fallen können, wenn wir die gesamte Stimmung, die wir in die Schule hineintragen, zu einer geschlossenen, abgerundeten, harmonischen machen können. [...]

Synthese von Gymnast, Rhetor und Doktor

Der griechische Erzieher war Gymnast. Er erzog den Körper, und er erzog mit dem Körper Seele und Geist, weil er imstande war, in die körperliche Bewegung wie durch Zaubergewalt die seelische und geistige Welt hereinzuziehen. [...] Der Grieche brachte seine Zöglinge in Bewegung; er brachte sie so in Bewegung, daß diese Bewegung harmonisierte mit der Dynamik des geistigen und physischen Kosmos.

Man kann dann weitergehen in der Menschheitsentwickelung. Bei den Römern fängt es schon an; man hat die Kunst verlernt, Seele und Geist auf dem Umwege durch das Körperliche zu pflegen, man muß unmittelbar an die Seele heran. Man erzieht vorzugsweise durch dasjenige, was im Leben dem Seelischen naheliegt, man erzieht durch die Sprache. Aus der Sprache heraus wird in der römischen Erziehung in Wahrheit dasjenige geholt, was aus dem Zögling gemacht werden soll; und der Erzieher wird von dem Gymnasten zum Rhetor. [...] Der Römer ging auf die Mitte des Menschen, auf den sublimierten Ausdruck des rhythmischen Systems, auf die musische, musikalische Sprache der Dichtung, und er hatte das Vertrauen, daß, wenn die Sprache richtig gehandhabt wird, diese richtig musikalisch und plastisch-malerisch gehandhabte Sprache zurückwirkt auf das Körperliche und hinaufwirkt auf das Geistige. [...]

Nun kam es so, daß seit dem 15. Jahrhundert der Rhetor als Erzieher allmählich übergegangen ist in den Doktor als Erzieher. Selbst jene Erzieher, welche heute nur durch Seminare hindurchgegangen sind, sind eigentlich Doktoren. [...]  Und dieses Prinzip, dasjenige, was nun nicht vom rhythmischen System ausgeht, sondern was ausgeht vom Kopf, vom Sinnes-Nervensystem, zur Grundlage der Erziehung zu machen, das trat immer mehr und mehr hervor. [...] Es wird aber für die allgemeine Zivilisation erst dann wieder Heil erwachsen können, wenn man darauf kommt einzusehen, daß gelehrt zu sein in Wirklichkeit schädlich ist, daß das vom Menschen etwas wegnimmt, nicht zu ihm etwas hinzutut. [...]

Aber wir stehen gerade heute vor dem Punkt, daß wir die Synthesis dieser drei Elemente des Menschen – denn das ist auch eine Dreigliederung der menschlichen Natur: Gymnast, Rhetor, Doktor – ausbilden müssen, und am allernotwendigsten ist diese Ausbildung auf dem Gebiete des Erziehungswesens. Wenn daher wirklich alles dem Ideal gemäß verlaufen könnte, wäre es eben ein Ideal für eine Lehrerschaft, immer fort und fort pflegen zu können auf der einen Seite getrennt für sich im edelsten Sinne Gymnastik, im edelsten Sinne Rhetorik, mit alledem, was dazu gehört hat in der älteren Auffassung, und im edelsten Sinne das Element des Doktors, aber diese drei Elemente dann zusammenzufassen. [...] Es sollte schon darauf gesehen werden, daß der Lehrer einfach für seine Erziehungs- und Unterrichtskunst braucht die Zusammenfassung der äußeren Bewegung, des vergeistigten Gymnasten, des durchseelten Rhetors, drittens das lebendig gewordene Geistige, nicht das tote, abstrakt gewordene Geistige.

Und so sollte eigentlich mit dem, was im edelsten Sinne als Gymnast wirkt, was wir im Turnen und in der Eurythmie haben, die ganze Lehrerschaft fortwährend im Zusammenhang wirken, alle diese Dinge zu etwas Eigenem zu machen. Und Sie werden sehen, wenn es Ihnen gelingt, Eurythmie wirklich innerlich zu durchdringen, daß Sie es selber erleben, daß in jeder eurythmischen Bewegung ein seelisches und geistig wirkendes Element liegt. Jede eurythmische Bewegung ruft aus den tiefsten Grundlagen der menschlichen Wesenheit heraus Seelisches, und jede turnerische Bewegung, wenn sie nur in der richtigen Weise angewendet wird, ist so, daß sie im Menschen hervorruft gewissermaßen eine geistige Atmosphäre, in die dann das Geistige nicht abstrakt tot, sondern lebendig eindringen kann.

Von einer ganz besonderen Bedeutung ist heute für den Erzieher noch das rhetorische Element im edelsten Sinne des Wortes. Kein Erzieher, auf welchem Erziehungsgebiet er sich auch betätigen will, kein Erzieher sollte es unterlassen, darauf zu sehen, daß sein Sprechen sich dem Ideal eines künstlerischen Sprechens nähert. Man sollte fortwährend eigentlich darauf bedacht sein, die Sprache als solche zu kultivieren. [...]

Die weltfremde Denkbildung überwinden

Aber das alles kann ja nur erreicht werden, wenn wir dahin kommen, gründlich – und der Erzieher und der Unterrichter sollte das vor allem können – das Wirklichkeitsfremde, ja das Weltfremde der heutigen Denkbildung zu empfinden. Wir haben es ja zu einer großartigen Wissenschaft gebracht; aber diese Wissenschaft hat nur leider das Eigentümliche, daß sie nichts weiß, und daß sie durch ihr Nichtwissen alles Lebendige aus der Menschheitskultur und Zivilisation heraustreibt. Wir brauchen deshalb keine Radikallinge zu werden, denn wir brauchen nicht wieder unbedacht solche Dinge in die Welt hinauszuschreien; aber wir brauchen das, daß wir aus diesem Bewußtsein heraus in der Schule wirken. [...]

Heute wird der Mensch zum Beispiel irgendwo, wo vielleicht physiologische Ernährungskunde vorgetragen wird, hören: Die Kartoffel hat so und so viel Kohlenstoff, Sauerstoff und so weiter [...] Von der Ernährung weiß man erst etwas, wenn man in lebendiger Weise eingehen kann darauf, daß zum Beispiel bei der Kartoffel das, was man von ihr ißt, der Wurzel nahe verwandt ist, ein sogenannter Wurzelstock ist. Das ist etwas ganz anderes, wenn ich von einer Pflanze das Wurzelverwandte esse, als wenn ich bei einer anderen Pflanze, beim Roggen, beim Korn, im Mehl, das Samenhafte genieße. [...]

Man redet heute schon so über die Dinge der Natur, daß dieses Reden darüber eigentlich nicht nur irreführend ist, sondern direkt hineinführt ins Gedankenleere, ins Gefühlsleere.

Im Menschen, Sie wissen es alle, ist ein bekannter Prozeß der, daß sich der Kohlenstoff in ihm mit dem Sauerstoff verbindet, daß Kohlensäure entsteht, die ausgeatmet wird, eine Verbindung des Kohlenstoffes mit dem Sauerstoff. Ja, die Leute reden so davon, wie wenn das eine Verbrennung wäre, so wie sie draußen ist, wenn die Kerze verbrennt. [...] Was der Kohlenstoff mit dem Sauerstoff im menschlichen Organismus tut, das verhält sich so zu draußen, wie sich die lebendige Lunge zu zwei Steinen verhält. Es kommt weniger darauf an, daß man solche Dinge sich einmal überlegt, sondern daß man sein ganzes Fühlen so einrichtet, daß es darauf hinorientiert ist. Dann kommt man in allen Gebieten des Seelenlebens in ein solches Miterleben mit der Natur, daß man von der Natur wirklich zum Menschen kommt. Heute bleiben die Menschen bei der Natur draußen, sie kommen gar nicht zum Menschen.

Nun werden Sie immer bemerken, wenn Sie selber mit einer solchen Gesinnung mit den Kindern sprechen, verstehen die Kinder das Schwerste, so wie sie es ihrem Lebensalter gemäß verstehen sollen. Wenn Sie diese vermaledeiten Schulbücher zugrunde legen, die gang und gäbe sind, verstehen die Kinder in Wirklichkeit gar nichts. Man quält die Kinder und langweilt sie und fordert ihren Spott heraus. Dasjenige aber, was man tun muß, ist, in sich selber das Verhältnis zur Welt lebendig und zugleich wirklichkeitsgemäß zu machen. Das ist, was gerade der Lehrer, der Erzieher braucht. [...]

Gerade in diesem Punkt müssen wir bei uns selber anfangen, müssen uns einmal bemühen, die Natur selbst in dieser Richtung anzuschauen. Dazu gehört heute ein gewisser Mut, weil vieles von dem, was wahr ist, heute einfach als verrückt angesehen wird. Man muß sich nicht abhalten lassen, diesen Mut zu entwickeln. [...]

Das ist etwas, was uns innerlich belebt, und das müssen wir vor allen Dingen als Lehrer und Erzieher haben. Wir müssen zum unmittelbaren Leben übergehen, und es muß alles in uns innerlich uns tragen, stützen, eben wirklich beleben, was wir erst in die Schule hineintragen wollen. Daher kann eigentlich kein wirklicher Unterricht langweilig werden. Ich möchte wirklich wissen, woher er langweilig werden sollte; da müßte dem Kinde Essen und Trinken auch langweilig werden. Das ist meistens nicht der Fall. Dazu muß das Kind krank sein. Wenn ein Unterricht langweilig ist, muß er krank sein, und eigentlich müßten wir uns in jedem Falle fragen [...]: Was haben wir eigentlich nicht in uns, wenn der Unterricht das Kind langweilt?

Auf diese Dinge kommt es an, und deshalb sollten wir eigentlich uns bewußt werden, daß wir keine Gelegenheit vorübergehen lassen sollen, uns geistig, seelisch, innerlich zu beleben, sonst können wir nicht unterrichten. Sonst können wir noch so viel Gescheites wissen, wir können nicht unterrichten; und das hängt damit zusammen, daß wir gerade auf diese Weise die Synthesis bewirken zwischen dem, was in der Weltentwickelung hintereinander getrennt war im Gymnasten, im Rhetor und im Doktor. [...]

Dasjenige, was heute am schlimmsten in aller Erziehung wirkt, den Doktor, müssen wir überwinden; das Wissen, das gelehrte Wissen, das intellektuelle Wissen; denn wir können bei den Kindern doch nur dadurch etwas erreichen, daß wir Menschen sind, nicht dadurch, daß wir denken können. [...]

2. Vortrag, 16.10.1923, nachmittags

Ich versuchte Sie darauf hinzuweisen, wie es möglich ist, durch ein Durchdringen unseres Wissens mit Anthroposophie in ein lebendiges Seelenleben hineinzukommen. Wir brauchen dieses lebendige Seelenleben, gerade wenn wir die Kraft haben wollen für unseren Unterricht und unsere Erziehung. Ich möchte Ihnen jetzt von etwas sprechen, was wirklich im eminentesten Sinne ein pädagogisches Ziel hat, was aber eigentlich nichts anderes will, als durch eine besondere Art der Orientierung im pädagogischen Wirken Kräfte, innere Kräfte zu sammeln, um im pädagogischen Sinne das Herz anzufeuern.

Ich möchte dazu heute über die Frage sprechen: Mit welchen Kräften arbeiten wir denn eigentlich, wenn wir pädagogisch arbeiten? Es ist im Grunde genommen so, daß aus der heutigen Zeitbildung heraus diese Frage in einem irgendwie einschneidenden Sinne gar nicht beantwortet werden kann. [...]

Die Beantwortung der Frage: Wie macht man dies, wie macht man jenes? – ist doch nur von geringem Wert. Von größtem Wert aber ist es, daß der Mensch Enthusiasmus hat in seiner Tätigkeit, und diesen Enthusiasmus in seiner Tätigkeit auch voll entwickeln kann, wenn er Pädagoge sein soll. Dieser Enthusiasmus hat eine ansteckende Gewalt; und er ist es allein, der Wunder wirken kann in der Erziehung. Das Kind geht mit dem Enthusiasmus gerne mit, und wenn es nicht mitgeht, so ist das meistens ein Zeugnis dafür, daß dieser Enthusiasmus nicht vorhanden ist.

Nun möchte ich es als eine Art selbstverständliches Geheimnis aussprechen, daß ich, obwohl hier schon viel von Enthusiasmus gesprochen worden ist, trotzdem immer noch, wenn ich durch die Klassen gehe, bei der Lehrerschaft etwas von allerlei Bedrücktheit, von allerlei Schwere sehe. Die Schwere geht im Grunde genommen dennoch in vieler, vieler Beziehung durch die Klassenführung. Diese Schwere, die muß weg, und die Schwere kann sich auch ausdrücken in künstlichem Enthusiasmus. Der künstliche Enthusiasmus, der ist es auch nicht, der irgend etwas bewirken kann, sondern allein derjenige Enthusiasmus, der sich entzündet an unserem eigenen Darinnenstehen in der Sache, die wir bei der Klassenführung zu handhaben haben.

Nun, sehen Sie, da ist es vor allen Dingen notwendig, daß Sie alle gründlich einsehen, wir brauchen hier als Lehrer wirklich ein eigenes Bewußtsein. Wir haben nötig, an der Ausbildung dieses unseres eigenen Bewußtseins zu arbeiten. Nun gewiß, diese Arbeit an dem eigenen Bewußtsein wird uns ungeheuer erschwert durch jene Rücksichten, die wir in der letzten Klasse zu nehmen gezwungen sind, auf die ganz unmöglichen Forderungen, die draußen gestellt werden an unsere Kinder, wenn diese zum Abiturientenexamen sich vorbereiten. Das legt sich wirklich wie Bleischwere auf die Führung unserer letzten Klassen. Wir dürfen aber doch nicht unser eigentliches Ziel aus den Augen verlieren, und dazu ist es notwendig, daß wir an diesem Bewußtsein arbeiten. Ich möchte sagen, an dem Waldorfschul-Lehrerbewußtsein müssen wir arbeiten.

Das können wir aber nur, meine lieben Freunde, wenn wir gerade auf dem Gebiete der Pädagogik zu einem wirklichen Erleben des Geistigen kommen. Ein solches Erleben des Geistigen ist der neueren Menschheit schwierig, und das sollten wir gründlich einsehen, daß das der neueren Menschheit schwierig ist. Wir sollten gründlich einsehen, daß wir wirklich etwas ganz Besonderes, etwas sonst in der Welt kaum Vorhandenes brauchen, um die Aufgabe der Waldorfschule wirklich bewältigen zu können. Wir sollten in aller Bescheidenheit, ohne Stolz, ohne Hochmut, uns dieser Besonderheit bewußt werden, aber wirklich tief innerlich, herzlich bewußt werden können, nicht bloß in dem Aussprechen einer Art von Phrase; innerlich, herzlich sollten wir uns dessen bewußt werden können. Das können wir aber nur, wenn wir ein klares Verständnis dafür haben, was in dieser Beziehung der Menschheit verlorengegangen ist; verloren erst in den letzten drei bis vier Jahrhunderten. Das müssen wir wieder finden.

Der Zusammenhang von Erziehen und Heilen

Was verlorengegangen ist, das ist dieses, daß eigentlich der Mensch, wenn er aus seinem vorirdischen Dasein heraus in die Welt tritt, gegenüber den eigentlichen Wesenskräften des Menschen ein Wesen ist, das zu heilen ist. Dieses Verbinden des Erziehens mit dem Heilen des Menschen, das ist verlorengegangen. Gewiß, durch eine gewisse Zeit des Mittelalters hindurch war es radikal geglaubt worden, daß der Mensch eigentlich als Erdenmensch ein krankes Wesen ist, und daß man seine Gesundheit ihm erst wiederbringen muß, daß der Mensch eigentlich als heutiger Erdenmensch unter seinem Niveau steht und daß man real etwas zu tun hat, um den Menschen zum Menschen zu machen. Es wird dies sehr häufig nur zu formal aufgefaßt. Man redet davon, der Mensch muß entwickelt, muß auf ein höheres Niveau gebracht werden; aber man meint es abstrakt, nicht konkret. Konkret wird man es erst meinen, wenn man die Tätigkeit des Erziehens wirklich in Zusammenhang bringt mit der Tätigkeit des Heilens. [...]

Es ist fast in allen alten Zeiten von denen, die Kundige waren in den Weltgeheimnissen, das Geborenwerden mit einem Erkranken als eins angesehen worden, weil der Mensch in der Tat, wenn er geboren wird, in einem gewissen Sinne unter sein Niveau herunterkommt, nicht das ist, was er im vorirdischen Leben war. Eigentlich ist es etwas durchaus Anormales gegenüber der höheren Menschennatur, daß der Mensch Ingredienzien seines Leibes in sich trägt, die er in einer gewissen Schwere tragen muß. Man wird heute gar nicht mehr als ein vernünftiger Mensch angesehen, wenn man etwa sagt: Gegenüber der höheren Menschennatur ist es etwas Krankhaftes, fortwährend mit den physischen Kräften des Leibes kämpfen zu müssen bis zum Tode. – Aber ohne solche radikalen Vorstellungen kommt man nicht hindurch zu der Realität dessen, was Erziehen heißt. Erziehen muß etwas haben vom Heilen. [...]

Sobald der Mensch nicht mehr in Beziehung zur Außenwelt ist, hören die physischen Kräfte auf, ihre Bedeutung zu haben. Sie sind nicht mehr tätig, nicht mehr wirksam. In der Ernährungstätigkeit haben wir eine Verarbeitung der physischen Substanzen mit Astralischem und Ätherischem. [...] Gehen wir weiter jetzt, dann kommen wir zu den Tätigkeiten, die im Rhythmischen sich abspielen, im Blutrhythmus, im Atmungsrhythmus. Sie sind ähnlich in bezug auf die innere Konstitution den Kräften, die sich abspielen im Ernährungssystem. Sie spielen sich ab durch das Zusammenwirken des Ätherischen mit dem Astralischen, nur daß bei der Verdauungstätigkeit das Astralische in einer gewissen Beziehung noch schwächer ist als das Ätherische, und bei der rhythmischen Tätigkeit das Astralische stärker wird als das Ätherische. Das Ätherische tritt mehr in den Hintergrund bei dem Tätigsein im rhythmischen System; aber eigentlich nur das Ätherische, das im Menschen ist, während bei der Tätigkeit, die im rhythmischen System des Menschen ausgeübt wird, das Ätherische außerhalb des Menschen wieder anfängt mitzuwirken, so daß man eigentlich bei der Atmungstätigkeit hat: die Kraft des inneren menschlichen Ätherleibes, die Kraft des äußeren Äthers der Welt und die astralische Tätigkeit des Menschen. [...]

Das sind aber die Kräfte, die man kennen muß für irgendeine Substanz, wenn man von der heilenden Wirkung der Substanz reden will. Man kommt nicht darauf, inwiefern eine Substanz ein Heilmittel ist, wenn man nicht weiß, wie die Substanz, in den Körper hineingebracht, ergriffen wird von diesen drei Kräftesystemen. Die ganze Therapie in der Medizin beruht darauf, daß man diese drei Kräfte in bezug auf die Substanzen kennt. Das ist überhaupt Therapie: die heilende Wirkung im äußeren und inneren Äther und im Astralischen zu kennen. [...]

Nun ist aber das Eigentümliche, während der Arzt die therapeutischen Kräfte im unterbewußten, im rhythmischen System der Blutzirkulation oder der Atmung in Wirksamkeit bringt, müssen wir als Lehrer oder Erzieher die nächsthöhere Stufe in Wirksamkeit bringen: das, was zusammenhängt mit der Betätigung in den Nerven, in den Sinnen. Das ist die nächste Metamorphose der Heilmittel. Was wir als Lehrer und Erzieher tun, heißt für den physischen Menschen, mit den Substanzen, die er aufnimmt, so zu hantieren, daß sie nun unterworfen sind der ätherischen Tätigkeit und der äußeren physischen Tätigkeit – im Wahrnehmen nämlich, wenn wahrgenommen, aufgefaßt wird –, und der inneren physischen Tätigkeit, das heißt dem, was im Menschen an innerer Ortsveränderung mechanisch bewirkt wird dadurch, daß er sich bewegt. [...] Wir haben also: Äußeres Physisches, inneres Physisches, das heißt physische Veränderungen im Nervensystem, Abbau im Nervensystem, richtige physische Prozesse, wie sie eigentlich nur im Menschen im Nervensystem vorhanden sind, und ätherische Tätigkeit. Mit diesen drei Systemen haben wir es im wesentlichen zu tun, wenn wir als Erzieher das Kind behandeln; es ist die höhere Metamorphose dessen, was wir im Heilen tun. [...]

Das ganze rhythmische System ist ein Arzt. [...] Dann ist aber Gehen, Greifen, Ernähren ein fortwährendes Kranksein und Atmung und Blutzirkulation ein fortwährendes Heilen. [...] Wir heilen fortwährend unser Krankwerden von dem rhythmischen System aus. Das menschliche Leben auf der Erde ist ein Krankwerden und fortwährendes Heilen. [...] Erziehungskräfte sind die Metamorphose der Arzteskräfte, sind die umgewandelten Arzteskräfte. Daher muß eigentlich all unser erzieherisches Denken wirklich darauf hinauslaufen, daß wir auch dieses Denken so umbilden, wie das Denken sich umbilden muß, wenn es fruchtbar aus dem physischen Denken in das Denken des Geistigen aufsteigt.

Im physischen Denken haben wir ja die zwei Kategorien, die in allen denen, die dem Doktorenzeitalter angehören, jenen so furchtbar wirkenden, trockensten Enthusiasmus verursachen, die beiden Begriffe und Ideen: Richtig-Unrichtig, Wahr-Falsch. Wahr und Falsch ist höchstes Ideal derjenigen, die im Doktorenzeitalter mit ihrem ganzen Leben in die Welt sich hineingestellt haben. Aber es ist eigentlich so furchtbar wenig Realität in diesem Wahr und Falsch. Es ist etwas Formales. [...] Man sagt erst etwas Reales, wenn man nachweist, daß es krankmachend ist. Richtig oder Unrichtig ist etwas Äußerliches, Formales, wenn es sich auf Physisches bezieht. Wir müssen in der Tat bei allem, was die geistige Welt betrifft, dieses Wahr und Falsch ablegen. Wir müssen darauf kommen, diese Begriffe Wahr und Falsch zu ersetzen, sobald wir in die geistige Welt hinaufkommen, durch Gesund und Krank [...]

Und so sind die Dinge für die geistige Welt: gesund oder krank, fruchtbar oder unfruchtbar. [...] Das müssen wir gerade lernen in bezug auf das pädagogische Wirken. Wir müssen uns aneignen, irgend etwas durch die Art, wie wir drinnenstehen, als gesund in der pädagogischen Anwendung zu halten oder als krank oder kränkend. Das ist von besonderer Bedeutung, wenn man ein richtiges Bewußtsein von sich als Pädagoge erzeugen will. [...]

Belebende und krankmachende Prozesse

In der Sphäre des Menschen, die einen Teil der rhythmischen Tätigkeit und einen Teil der Stoffwechsel-Gliedmaßentätigkeit umfaßt, in der Sphäre ist vorzugsweise die Neigung da, eine Tätigkeit zu entfalten zwischen Kohlenstoff und Stickstoff; und in der Sphäre, die sich von der rhythmischen hinauf zur Nerven-Sinnestätigkeit erstreckt, ist vorzugsweise die Neigung da, eine Tätigkeit zu entfalten zwischen Kohlenstoff und Sauerstoff. Und es ist schon interessant, wenn man mit einer durch trockene Gelehrsamkeit unverbrauchten Seelenverfassung etwa prickelndes Selterswasser sich anschaut, wo die Kohlensäure im Flüssigen durch wechselnde Tätigkeit von Kohlenstoff und Sauerstoff auftritt, wenn man dieses Prickeln anschaut, hat man unmittelbar imaginativ eine Anschauung von dem, was im Verlauf der rhythmischen Atmungstätigkeit von dem Lungensystem gegen den Kopf zu sich vollzieht. [...] Diese Tätigkeit der aufsteigenden Kohlensäure ist eigentlich zum Verwechseln ähnlich, nur gröber, einer fortwährenden, intimen Tätigkeit, die von der Lunge zum menschlichen Kopf hinaufspielt. Da muß immer etwas angefeuert werden durch eine feine, intime Kohlensäure-Wassertätigkeit, sonst wird der Mensch dumm oder dumpf. Wenn wir versäumen, dem Menschen dieses Moussierende eines Kohlensäure-Wäßrigen nach dem Kopf hinaufzubringen, dann zeigt in seinem Inneren der Kohlenstoff plötzlich eine Neigung zum Wasserstoff statt zum Sauerstoff. Und dann geht der zum Gehirn hinauf, und das gibt Sumpfgas, das Sie ja auch aus gewissen unterirdischen Gewölben kennen, und dann wird der Mensch dumpf, schläfrig, verstockt.

Ja, diese Dinge treten einem erst entgegen als innere, man möchte jetzt sagen physische Tätigkeiten, nur sind sie keine physischen; denn die Erzeugung von Sumpfgas oder Kohlensäuregas wird in diesem Falle ein inneres geistiges Leben. Wir kommen da nicht in den Materialismus hinein, sondern in das feine Weben des Geistigen in der Materie.

Nun, wenn wir etwa in den Sprachen viel Vokabeln lernen lassen, wenn wir so das Kind durch dieses Auswendiglernen hindurchführen durch ein unbewußtes Mechanisches, dann ist das ein Prozeß, der nach der Sumpfgasentwickelung im Kopf zu hingeht. Wenn wir dem Kind durch möglichst lebendige Bilder beikommen, wirkt das so, daß das Atmungssystem die Kohlensäure nach dem Kopf hin moussieren läßt. Also wir kommen tatsächlich in etwas hinein, was gesundend oder kränkend ist. Wir merken an einer solchen Sache, wie wir eine höhere Metamorphose der heilenden Kräfte in Anspruch nehmen müssen; und es ist im höchsten Grade enthusiasmierend, in diese geheimen Verhältnisse des menschlichen Organismus hineinzuschauen. [...]

Heute wird eigentlich erzogen, indem man die Leute losschickt in der Erziehung, ganz so, als wenn man einen Stockblinden losließe und ihn mit Farben malen ließe. Niemand weiß, was geschieht in der Erziehung. Kein Wunder dann, daß der Blinde auch keinen besonderen Enthusiasmus aufbringen wird für das Malen mit Farben. Kein Wunder, daß kein Erziehungsenthusiasmus in der Welt ist. [...] Dieser Enthusiasmus und auf der anderen Seite das Verantwortungsgefühl, die müssen herauskommen!

3. Vortrag, 16.10.1923, abends

[...] Sehen Sie, wir müssen die Menschenerkenntnis so weit treiben, daß wir wirklich im einzelnen wissen können, was mit dem Menschen geschieht, wenn er sich in der Welt umtut. Ich habe Ihnen gesagt, die erste Tätigkeit, die wir am Menschen wahrnehmen, ist die, wenn er seine Gliedmaßen bewegt. Nun müssen wir die Frage aufwerfen: Was bewegt denn eigentlich die Gliedmaßen? [...] Dann kommen wir dazu, uns zu sagen: Es muß das Geistige selbst physische Kräfte, Kräfte, die wir sonst als physische Kräfte bezeichnen, in Aktion bringen. [...]

Aber da kommen wir auf etwas ganz Merkwürdiges, das eigentlich gewöhnlich nicht bedacht wird, weil darüber eine große Illusion herrscht. Unsere menschliche Bewegung ist eigentlich eine magische Wirkung, die darin besteht, daß durch den Geist etwas in Bewegung gesetzt wird. Tatsächlich ist unsere Bewegung als Mensch eine magische Wirkung, und wir sehen den Menschen ganz und gar nicht richtig an, wenn wir ihn als bewegten Menschen nicht auf magische Art bewegt denken. Es muß der Wille, ein rein Geistiges, eingreifen in die physische Aktivität. [...] Die materialistische Wissenschaft macht es sich leicht, wenn sie die Theorie aufstellt: das sind die motorischen Nerven und so weiter. Das ist Unsinn. In Wirklichkeit liegt hier in der menschlichen Bewegung eine magische Wirkung vor, ein unmittelbares Eingreifen des Geistes in die körperlichen Bewegungen. Wie ist das möglich? Das wird auf folgende Weise herbeigeführt.

Zyan- und Kohlensäureprozess

Ich habe schon heute Nachmittag angedeutet: Wenn der Mensch lebt vom rhythmischen System hin zum Gliedmaßen-Stoffwechselsystem, dann erweist dasjenige, was aus dem Kohlenstoff wird, seine Verwandtschaft mit dem, was aus dem Stickstoff wird, und es entsteht fortwährend die Tendenz, in der menschlichen Wesenheit nach unten hin Verbindungen zu schaffen von Kohlenstoff und Stickstoff. [...] Diese Tendenz zur Verbindung von Kohlenstoff und Stickstoff führt zuletzt zur Bildung von Zyansäure, und tatsächlich besteht im Menschen nach unten fortwährend die Tendenz, Zyansäure zu erzeugen oder zyansaure Salze zu erzeugen. Wir haben nicht einmal einen ordentlichen Ausdruck für das, was da entsteht. – Was da entsteht, wird nur so weit getrieben, daß es gerade bis zu dem Punkt kommt, anzufangen zu entstehen, dann wird es, durch die Absonderungen der Galle namentlich, sofort aufgehoben. [...]

Fortwährend will der menschliche Organismus Zyanverbindungen schaffen, die gleich wieder zerstört werden. Aber in diesem Moment zwischen dem Entstehen und dem sogleich Aufgelöstwerden der Zyansäureverbindungen ergreift der Wille das Muskelsystem. – Im Paralysieren dieses Prozesses liegt die Möglichkeit für den Willen, einzugreifen, so daß der Mensch sich bewegen kann. Es liegt fortwährend im Menschen nach unten gehend die Tendenz, die organische Substanz zu zerstören durch eine Vergiftung. Sie ist fortwährend im Anfang und wir könnten uns nicht bewegen, wir könnten nicht zum Freiwerden des Willens gelangen, wenn wir nicht fortwährend die Tendenz hätten, uns zu zerstören. [...]

Wir haben daher die Aufgabe, auf der anderen Seite auch wieder zu wissen, daß diesem Erkrankungsprozeß gegenübersteht der Gesundungsprozeß, und der liegt in dem, was ich schon heute nachmittag erwähnt habe: Es muß jederzeit einem Vorgang im unteren Menschen ein entsprechender Prozeß im oberen gegenüberstehen. Hat der Kohlenstoff die Tendenz, nach unten Stickstoffverbindungen zu bilden, so hat er nach oben die Tendenz, Sauerstoffverbindungen zu bilden. Die früheren Alchimisten nannten ihn den „Stein der Weisen“, das ist nichts anderes als der voll verstandene Kohlenstoff. Er hat nach oben die Tendenz, Sauerstoffverbindungen zu erzeugen, Sauerstoffsäuren oder sauerstoffsaure Salze. Die aber regen den Gedanken an, und jedesmal wenn wir bildhaft lebendig das Kind beschäftigen, regen wir die Kohlensäurebildung und damit das Denken an. Jedesmal, wenn wir das Kind anleiten, gleichzeitig während des Denkens etwas zu tun, rufen wir einen Gleichgewichtszustand herbei zwischen der Kohlensäurebildung und der Zyanerzeugung; und darauf kommt im menschlichen Leben eigentlich alles an, daß diese zwei Dinge im Gleichmaß erzeugt werden.

Wenn zum Beispiel der Mensch nur intellektuell beschäftigt wird, so wird eigentlich sein Kohlensäurebildungsprozeß zu stark angetrieben. Es entsteht eine Übersättigung des oberen Organismus mit Kohlensäure. Nun wirkt eine richtige, taktvoll geleitete musikalische Erziehung gegen das übermäßige Erzeugen dieses Kohlensäureprozesses, macht den Menschen wieder geeignet, Tätigkeit, wenigstens innere Tätigkeit einzufügen in den Kohlensäureprozeß. Wir greifen in der Tat, wenn wir einen Lehrplan machen und zum Beispiel Musikunterricht und anderen Unterricht verteilen, wir greifen in Erkrankungs- und Gesundungsprozesse des menschlichen Organismus unmittelbar ein. [...] Im menschlichen Organismus findet fortwährend Kränkung und Heilung statt, und alles, was er tut, wozu er angeleitet wird, greift ein in diesen Prozeß der Kränkung und Heilung. So muß man aus diesem Wissen heraus das Verantwortungsgefühl und das rechte Bewußtsein dessen, was man ist als Lehrer und Erzieher, schöpfen, muß [...] wissen, daß man sich hineinstellt in die Orientierung eines im eminentesten Sinne kosmischen Prozesses, [...] indem man Erzieher wird.

Natürlich können Sie im einzelnen in den Methoden diese Dinge nicht anwenden; aber Sie selbst können, getragen von dieser Menschenerkenntnis, das Schulzimmer betreten und in dem einen oder anderen Gebiete des Unterrichtes das eine oder das andere wiederum benützen, und es kann dann benützt werden; denn wer ein solches Wissen hat, bei dem tritt schon eine bestimmte Folge ein. Man kann unterscheiden, ob einer ein innerlich bewegliches Wissen hat oder ein innerlich unbewegliches Wissen. Wer [...] nicht nur davon redet, daß die Metamorphosen des Kohlenstoffes da sind, die durch die verschiedenen Lebensalter der Erde bedingt sind als Diamant, Kohle, Graphit, wer einen Sinn dafür hat, daß da noch ganz andere Metamorphosen da sind für den Kohlenstoff im Menschen, daß er innerlich lebendig wird, ja sich vergeistigt, daß er zwischen Tod und Leben vermitteln kann – wer das verstehen kann, der hat in diesem Verständnis einen unmittelbaren Quell der Inspiration. Wenn Sie das verstehen können, fällt Ihnen in der Schule die richtige Methode ein, und darauf kommt es an, daß einem die richtige Methode einfällt, nicht daß man durchsäuert im Schulzimmer drinnensteht, daß man es den Augen des Lehrers ansieht, daß er durchsäuert ist, daß er griesgrämig vor den Kindern steht. Das ist nicht möglich, wenn man ein innerlich bewegliches Wissen, schaffendes Wissen hat. [...]

Jedes Gesicht wird unter dem Einfluß eines tätigen, eines vitalen Wissens doppelt so schön, als es sonst ist. Jedes Gesicht wird doppelt so schön, es ist so; aber es muß das Wissen wirken, es muß das Wissen leben, und Lehrergesichter sollten namentlich während des Unterrichtes immer leben, sollten von innen heraus viel sagen. Es kommt mir bei alledem, was ich Ihnen jetzt sage, nicht darauf an, daß Sie alle diese Dinge wissen, die ich Ihnen sage, sondern daß dies auf Ihr Gemüt wirkt und Sie stärkt und kräftigt in der Durchgeistigung Ihres Berufes, den Sie haben.

Der Drachenkampf mit der ertötenden Intellektualität

Der Lehrer sollte besonders heute sich seiner großen sozialen Aufgabe bewußt werden, sollte eigentlich über diese soziale Aufgabe viel meditieren. Denn wer anders als der Lehrer sollte es denn sein, der sich ganz durchdringt mit dem, was der heutigen Zivilisation notwendig ist?

Ich will Ihnen heute ein naheliegendes Beispiel sagen von dem, was man braucht, um sich in der richtigen Weise in die Gegenwartszivilisation hineinzustellen. [...] Mahatma Gandhi war angeklagt, das indische Volk aufzuwiegeln gegen die englische Weltherrschaft, Indien unabhängig zu machen. [...]

Wir haben unten das Niveau der Wahrheit in der Aussage des Richters, daß er den bewundere, den er aus der Pflicht gegen seine Regierung zu sechs Jahren schweren Kerkers verurteilt. [...] Während Sie unten die Bewunderung des Richters für einen großen Menschen haben, haben Sie oben die Fällung des Urteilsspruches und dessen äußere Rechtfertigung. [...]

Ja, meine lieben Freunde, da tritt an einem eklatanten Punkt das zutage, daß wir heute das Niveau der Wahrheit haben und das Niveau der Unwahrheit. Aber das Niveau der Unwahrheit im öffentlichen Geschehen. Und beide berühren sich in keinem Punkte. Das müssen wir uns vor Augen stellen; denn das hängt innig zusammen mit dem, was das ganze Geistesleben unserer Zeit bedeutet. An einem solchen eklatanten Punkte zeigt sich, was sonst überall weniger eklatant, weniger auffallend da ist. Aber wir müssen erst ein richtiges Bewußtsein von dem erzielen, was zu geschehen hat in der Gegenwart, um die Wahrheit an die Stelle desjenigen zu setzen, was gegenwärtig geschieht. [...] Man muß die Möglichkeit finden, eine klare Einsicht zu haben, und dann an demjenigen Punkt wirken, wo in fruchtbarer Weise gewirkt werden kann.

Und am fruchtbarsten kann gewirkt werden gerade auf dem Gebiete des Unterrichts und der Erziehung. Da kann [...] der Lehrer einfließen lassen das, was ihm aus einem richtigen Erzieher- und Unterrichterberuf kommt; aber er muß Begeisterung haben aus einer Menschenerkenntnis, die totes Wissen belebt, und auf der anderen Seite Enthusiasmus, der hervorgeht aus einer wirklich unbefangenen Auffassung desjenigen, was heute im Leben eigentlich da ist. [...]

Wirklich, es ist manchmal etwas ungeheuer Schmerzliches, wenn man heute zum Beispiel zu Anthroposophen redet und eigentlich gezwungen ist, den Leuten lauter Dinge zu sagen, die, ich meine das nicht im schlimmen Sinne, doch die Welt auf den Kopf stellen in bezug auf das, was die Menschen gelernt haben, und es wird gar nicht aufgepaßt. Wenn man das ganze Schwergewicht dessen erfaßt, was es heißt, über so etwas wie, sagen wir zum Beispiel, das meteorische Eisen so zu reden, wie das gestern geschehen ist, so ist man erstaunt, mit welcher Gleichgültigkeit so etwas hingenommen wird. Von denjenigen, die nichts gelernt haben, begreife ich es; von denjenigen, die die wissenschaftlichen Begriffe über das Eisen aufgenommen haben, begreift man es nicht. Aber so ist die Welt einmal heute.

Aber so darf die Welt nicht sein im Kopf und namentlich im Herzen des Erziehers und Unterrichters. Der muß impulsiert sein von dem Bewußtsein: alles Wissen, in das wir hineingekommen sind durch das neuere Wissen, ist totes Wissen; und wir müssen aus dem Tod heraus ein Lebendiges schaffen, und nur dieses können wir in der Schule brauchen, was aus diesem Enthusiasmus heraus kommt. Wenn Sie durchdrungen sind auf der einen Seite von dem, was Ihnen aufgehen kann durch eine solche Menschenerkenntnis, auf der anderen Seite von dem Bewußtsein der Notwendigkeit, daß Wahrheit gesetzt werden muß anstelle der Lüge [...], wenn man durchdrungen ist von dieser Notwendigkeit und weiß, daß es vor allem Aufgabe des Lehrers ist, sich die Richtung zu geben aus einer Erkenntnis dieser Notwendigkeit heraus, aus einer Erkenntnis des Krassen, das darin liegt, wie heute im öffentlichen Leben Wahrheit aussieht, dann geht etwas im Menschen vor, was auf alle Gebiete abfärbt. Sie werden ein anderer Eurythmielehrer, anderer Kunsthistoriker, ein anderer Mathematiklehrer, auf jedem Gebiet werden Sie anders, wenn Sie in realem Sinn durchzogen sind von diesem Bewußtsein. Auf diesen Enthusiasmus kommt alles an. Es ist nicht die Zeit, wo man sich knifflig über Finessen dieser oder jener Methode zu unterhalten hat; wir müssen Leben in die Welt bringen, die vor der Gefahr steht, sich durch ihr Totes, Intellektualistisches weiter zu töten.

Man hat sich im Grunde genommen abgewöhnt, innerlich entsetzt zu sein über die Dinge, die da sind. Aber mit dem bloß ein gelangweiltes Gesicht machen gegenüber den Dingen, die abgewiesen werden müssen in unserer Zeit der Zivilisation, mit dem kann man ganz gewiß nicht erziehen. Das ist es, was so notwendig macht, eben von Zeit zu Zeit auch einmal Dinge zu besprechen, die aus einer solchen Ecke herauskommen, daß sie unser Gemüt ergreifen können. Wenn Sie nur von diesen Betrachtungen mit dem Gefühl weggehen heute: Es muß das, was geistig heute die Welt regiert, anders werden –, dann haben Sie das, was ich eigentlich mit diesen Vorträgen meine.

Der Drache hat die verschiedenste Gestalt; der Drache hat alle möglichen Gestalten. Die von menschlichen Emotionen kommenden sind schädlich genug, aber die sind nicht so schädlich wie diejenige Gestalt, die der Drache von dem toten, von dem ertötenden Wissen der Gegenwart bekommt. Da wird der Drache ganz besonders scheußlich, und eigentlich möchte man sagen, das eigentliche Symbolum der heutigen höheren Lehranstalten müßte sein: ein dickes schwarzes Tuch, und das müßte im Grunde genommen in jedem Hörsaal irgendwo an der Wand hängen. Man wüßte, dahinter ist etwas, aber das darf keinem Menschen gezeigt werden, weil damit ein merkwürdiges Licht geworfen würde auf das, was da getrieben wird. Und hinter dem schwarzen Tuch müßte das Bild des Kampfes des Michael mit dem Drachen sein. Der Kampf mit der ertötenden Intellektualität. Das, was heute gesagt ist, ist die Form, wie heute der Streit Michaels mit dem Drachen unter Lehrern und Erziehern leben soll. [...]

In der Wahrheit leben, heißt, sich mit dem Michael verbinden. Dem Michael müssen wir uns verbinden, wenn wir in das Schulzimmer eintreten; den nur dadurch können wir die nötige Stärke hineinbringen. Und Michael ist stark. Verstehen wir den Streit Michaels mit dem Drachen auf einem besonderen Gebiete, dann wirken wir zum Heile der Menschheit in der Zukunft. So daß ich, wenn ich diesen Betrachtungen hätte einen Titel geben sollen, hätte sagen müssen: Der Streit des Michael mit dem Drachen, dargestellt für die Waldorfschul-Lehrerschaft. [...]