Rudolf Steiner: Pädagogischer Jugendkurs

Rudolf Steiner: Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (GA 217, 3.-15.10.1922). Rudolf-Steiner-Verlag, 2007.


  1. Vortrag:
Herrschaft der Phrase. Verlust der Seele und des anderen Menschen.
  2. Vortrag: Das Unmenschliche der objektiven Wissenschaft. Der Mensch steht vor dem Nichts. Die Waldorfpädagogik will den Geist im Menschen erwecken!
  3. Vortrag: Das heutige Denken ist Gehirnprodukt. Nicht auf Theorien kommt es an, sondern darauf, mit dem Erleben des Geistes ernst zu machen.
  4. Vortrag: Der Intellekt als Leichnam. Geisterleben wird überall Individualismus. Moralische Intuitionen. Individuelle Menschenbegegnung.
  5. Vortrag: Erst die neuen Intuitionen sind wirklich individuell. Die Jugend fühlt die tote Wissenschaft wie einen Pfahl im Herzen.
  6. Vortrag: Aus tiefen Untergründen der Seele ziehen die Impulse von Liebe und Vertrauen herauf - Grundlage für alle Zivilisation und Pädagogik der Zukunft.
  7. Vortrag: Die Jugend wird enttäuscht von der kalten Wissenschaft und vom abstrakten Lehrer.
  8. Vortrag: --
  9. Vortrag: Die Jugend muß erleben, daß der Lehrer etwas kann. Der ganze Unterricht muß künstlerisch durchglüht sein!
10. Vortrag: Ohne innere Entwicklung rostet der Mensch heute von den Zwanziger Jahren an ein. Geisteswissenschaft ist wirkliche innere Aktivität. Reines Denken wird zum reinen Willen. Erst so wird der Pädagoge Künstler.
11. Vortrag: Die Individualität des Lehrers, sein vorirdisches Dasein muß wirken. Dann erzieht sich das Kind selber an ihm. Nur wachstumsfähige Bilder machen empfindsam für das aus früheren Erdenleben Hineinspielende, das alle Begegnung prägt.
12. Vortrag: Heute steht hüllenlos Ich dem Ich gegenüber. Nur richtige Menschenkenntnis macht zum Erzieher, keine Theorie.
13. Vortrag: Die Natur-Wissenschaft wurde zum Drachen, der den Menschen verschlingt. Pflegt man durch das Künstlerische die Kraft des vorirdischen Lebens, bereitet man Michael den Weg. Fühlt man sich als sein Bundesgenosse, entwickelt man die notwendige Regsamkeit.

Erster Vortrag, 3.10.1922

[...] Ich denke, Sie alle verspüren, daß Sie sich mit dem, was eine ältere Generation der Welt heute zu sagen hat, nicht mehr zusam­menfinden können. Sehen Sie, man hat schon in den siebziger, achtziger, neunziger Jahren, in einer stärkeren Weise, als das jemals früher der Fall war, künstlerisch oder auch theoretisch auf die tiefe Kluft hingewiesen, welche zwischen der damals älteren und damals jüngeren Generation lag. Aber alles, was dazumal von Dichtern und anderen Leuten über diese Kluft und diesen Abgrund gesagt worden ist, ist etwas Blasses im Vergleich zu dem, was heute in Betracht kommt. Heute ist es doch so, daß im Grunde genommen die jüngere und die ältere Generation ganz verschiedene Seelensprachen führen, viel verschiedener noch, als man sich dessen bewußt ist. [...] (S. 15f).

Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts können Sie durch eine intime geschichtliche Betrachtung Merkwürdiges finden. Wenn wir betrachten, was in jener Literatur, in jenem Schrifttum erscheint, das von allen denen gelesen wird, die an der Gestaltung des Geisteslebens teilnehmen, so finden wir, daß im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, bis in die Mitte der achtziger, neunziger Jahre hinein, innerhalb des deutschen Sprachgebietes ein ganz anderer Stil in den Journalen, sogar in den Zeitungen geherrscht hat als heute. [...] (S. 18).

Gerade damals sehen wir etwas heraufziehen, und diejenigen, die heute zu den älteren Jahrgän­gen gehören, ohne im Sinne des heutigen Geisteslebens selber alt geworden zu sein, die haben es auch erlebt: Was dazumal so furchtbar einzog in alles Geistesleben, das ist, was ich, symbolisch charakterisiert, die Phrase nennen möchte. [...] (S. 18).

Und wo die Phrase zu herrschen beginnt, da erstirbt die innerlich seelisch erlebte Wahrheit. Und mit der Phrase geht einher ein anderes: Der Mensch kann den Menschen nicht mehr finden im sozialen Leben. [...] (S. 19).

Einen Satz hören Sie heute immer wieder die Leute sagen: Das ist mein Standpunkt. - Jeder hat einen Standpunkt. Als ob es darauf ankäme, was man für einen Standpunkt hat! Der Standpunkt im geistigen Leben ist nämlich ebenso vorübergehend wie der Standpunkt im physischen Leben. Gestern stand ich in Dornach, heute stehe ich hier. Das sind zwei verschiedene Standpunkte im physischen Leben. Es kommt dar­auf an, daß man einen gesunden Willen und ein gesundes Herz hat, um die Welt von jedem Standpunkte aus betrachten zu kön­nen. [...] Eine gemeinsame Welt für den Menschen findet sich nur im Geiste. Und der fehlt. [...] (S. 20).

Mit der Phrase, mit dem antisozialen Konventionalismus und mit der bloßen Lebensroutine statt der Herzens-Lebensgemein­schaft konnte man so lange sich halten, als noch die Erbschaft der vorigen Generationen vorhanden war. Diese Erbschaft war unge­fähr am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dahin. So war für Sie nichts da, was zu der eigenen Seele sprechen konnte. Sie fühlten aber, daß in den Tiefen gerade in Mitteleuropa etwas vorhanden ist, was das tiefste Bedürfnis hat, wiederum zu dem zurückzufin­den, was einmal jenseits der Phrase gelebt hat, jenseits der Kon­vention, jenseits der Routine: das Bedürfnis, wiederum Wahrheit zu erleben, wiederum menschliche Gemeinschaft zu erleben, wie­derum Herzhaftigkeit des ganzen Geisteslebens zu empfinden. Wo ist denn das? So sagt eine Stimme in Ihrem Innern. [...] (S. 21).

Die Menschen müssen wiederum dazu kommen, stark fühlen zu können: schön häßlich, gut  böse, wahrhaftig  verlogen. Sie müssen dazu kommen, das nicht schwächlich zu fühlen, sondern stark zu fühlen, so daß sie mit ihrem ganzen Menschen darin ste­hen, daß wiederum Herzblut in den Worten ist. Dann zerstiebt die Phrase und man fühlt wieder den anderen Menschen in sich, nicht bloß sich selbst; dann zerstiebt die Konvention, und man kann wiederum das, was man im Kopfe hat, durchpulsen lassen von seinem Herzblut. Dann zerstiebt das bloße Routineleben, und das Leben wird wieder menschlich. [...] (S. 24f).

Zweiter Vortrag, 4.10.1922

[...] Die Universitäten und Hochschulen etablierten sich als Forscheranstalten. Sie waren gar nicht mehr für die Menschen da. Sie waren nur für die Wissenschaft da, und die Wissenschaft führte ein Dasein unter den Menschen, das sie als objektiv bezeichnete. Sie bleute den Menschen in allen Ton­arten ein, daß sie zu respektieren sei als objektive Wissenschaft. Man muß solche Dinge manchmal etwas bildlich aussprechen. Die objektive Wissenschaft ging also jetzt unter den Menschen herum; aber die objektive Wissenschaft war ganz sicher kein Mensch, sondern es ging etwas Unmenschliches unter den Men­schen herum und nannte sich objektive Wissenschaft.

Das konnte man in den Einzelheiten immer wieder erleben. Wie oft heißt es: Das ist schon gefunden, das gehört schon der Wissen­schaft an. Ein anderes wird zur Wissenschaft hinzugefunden, und diese sogenannten Schätze der Wissenschaft sind dann ein Aufgespeichertes, das sich allmählich dieses schreckliche, objek­tive Dasein in der Menschheit errungen hat. Aber die Menschen passen nicht zu dieser objektiven unter ihnen herumstolzierenden Wesenheit, denn es gibt kein eigentliches Verhältnis des wahren, echten Menschen zu dieser objektiv-kalten Wesenheit, die in der verschiedensten Weise aufgespeichert ist. Wir haben nach und nach zwar die Bibliotheken und wissenschaftlichen Forschungs­institute bekommen. Aber insbesondere der junge Mensch sucht doch nicht die Bibliotheken, auch nicht die wissenschaftlichen Forschungsinstitute, sondern er sucht in den Bibliotheken – man bringt das Wort fast gar nicht heraus – die Menschen und er findet dort: Bibliothekare! Er sucht in den wissenschaftlichen For­schungsinstituten die für die Weisheit, für die wirkliche Erkennt­nis begeisterten Menschen und findet diejenigen, die man halt in den Laboratorien, in den wissenschaftlichen Forschungsinstituten, Kliniken und so weiter findet. [...] (S. 27f).

Wenn die Alten über die Natur sprechen, so ist das so, als ob sie dadurch die Natur verdunkelten, als ob die Namen, die sie den Pflanzen geben, nicht mehr zu den Pflanzen paßten. Es stimmte nichts mehr. Man hatte auf der einen Seite das Rätsel "Pflanze" vor sich; dann hörte man den Namen von den Alten, aber das stimmte nicht, weil eben der Mensch ausgeschaltet war, weil die objektive Wesenheit "Wissenschaft" auf der Erde herumwandelte. [...] (S. 29).

Und wenn man diese Bekanntschaft gemacht hatte, wenn einem immer wieder diese objektive Wissenschaft vorgestellt worden war, dann hatte man die Einsicht, daß sich eine andere Wesenheit verschämt seit­wärts hinwegschlich, weil sie sich nicht mehr geduldet fühlte. Die sagte einem dann doch, wenn man aufgestachelt wurde, hinten im Verborgenen mit ihr zu reden: Ich habe einen Namen, der sich vor der objektiven Wissenschaft nicht mehr nennen darf. Ich heiße Philosophie, heiße Sophia, Weisheit. Ich habe halt den schändlichen Vornamen von der Liebe und habe etwas, das schon durch seinen Namen angenagelt ist, daß es etwas zu tun hat mit menschlicher Innerlichkeit, mit der Liebe. Ich kann mich nicht mehr sehen lassen, ich muß verschämt herumgehen. [...] (S. 29).

Man schreit nach Erziehungsprogrammen, weil man keine Sicherheit in sich fühlt. Man könnte immer darauf aufmerksam machen, wie eigentlich überall ein starkes Wollen da ist, aber nirgends ein Inhalt dieses Wollens. Gerade das fühlt die Jugend, daß kein Inhalt dieses Wollens da ist. Warum ist kein Inhalt da? Weil es eigentlich in der ganzen Erdenentwickelung erst seit kurzer Zeit etwas wirklich Neues gibt.

Da muß ich allerdings auf etwas verweisen, was ich nur in gro­ßen Umrissen andeuten kann. Es wird ihnen aber immer mehr vor die Seele treten, wenn Sie sich einmal meine "Geheimwis­senschaft" anschauen. Da werden Sie finden, daß das Erdenwesen gezeigt wird als eine Erbschaft von anderem Weltendasein. Wie die Namen sind, ist gleichgültig. Ich habe sie Saturn-, Sonnen-, Monddasein genannt; aber das erste Erdendasein war ja nur eine Wiederholung der früheren Weltendaseine. Man kann sagen: Drei Wiederholungsperioden hat es für die Erde gegeben, eine Saturn-, eine Sonnen- und eine Mondenzeit. Dann kam die eigentliche Erdperiode. Aber diese eigentliche Erdperiode, diese atlantische Zeit, war wieder nur eine Wiederholung – auf höherer Stufe – von dem, was früher schon dagewesen war.

Dann kam die nachatlantische Zeit. Man stieg zu einer noch höheren Stufe. Aber wieder war es eine Wiederholung dessen, was schon dagewesen war. Es war die nachatlantische Zeit eine Repetition der Repetition. Die Menschheit hat tatsächlich bis in das fünfzehnte nachchristliche Jahrhundert gelebt von lauter Repetitionen, von lauter Erbschaften. Bis ins fünfzehnte Jahrhun­dert hinein war man seelisch kein unbeschriebenes Blatt. Es stie­gen in den Seelen allerlei Dinge wie von selbst auf. Erst vom fünf­zehnten Jahrhundert ab waren die Seelen unbeschriebene Blätter. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert ist erst die Erde neu. Vorher hat man von lauter Erbschaften auf der Erde gelebt. Das beachtet man gewöhnlich nicht, daß erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert die Erde neu ist. Früher hat man immer vom alten gezehrt. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert steht der Mensch vis-a-vis dem Nichts. Seine Seele ist ein unbeschriebenes Blatt. Und wie lebt man seit dem fünfzehnten Jahrhundert? Zunächst hat man vom Vater auf den Sohn durch Tradition fortgeerbt, was man früher auf andere Weise fortgeerbt hat, so daß vom fünfzehnten Jahrhundert bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein immer noch Tradition da war. Aber es ist allmählich immer schlimmer geworden mit der Tradition. Sie können das an Einzelheiten sehen.

Nehmen Sie das Recht. So über Recht zu sprechen wie die heutige Menschheit über Recht spricht, wäre zum Beispiel einem Scotus Erigena nicht eingefallen, weil man damals noch etwas in der Seele hatte, was einen anleitete, dazu führte, von Mensch zu Mensch zu sprechen. Das gibt es nicht mehr, weil nichts mehr in der Seele da ist, das zum Menschen führt, weil man noch nichts gefunden hat, was aus dem Nichts herausführt. Damals konnte es wenigstens der Vater noch dem Sohne sagen. Am Ende des achtzehnten Jahr­hunderts ist es aber so weit gekommen, daß der Vater dem Sohne nichts Ordentliches mehr zu sagen hatte. Dann haben die Men­schen zunächst krampfhaft nach dem sogenannten Vernunftrecht gesucht. Aus der Vernunft sollte herausgepreßt werden, wie man zu Vorstellungen und Empfindungen über das Recht kommt. Und dann haben andere, zum Beispiel Savigny, gefunden, daß man aus der Vernunft nichts mehr herauspressen könne. So kam man zu dem historischen Recht. Man hat sich hingesetzt und studiert, was früher war, sich vollgepfropft mit den Gefühlen, die die längst Gestorbenen gehabt haben, weil man selber nichts mehr hatte. Das Vernunftrecht war ein krampfhaftes Festhalten an dem, was man schon verloren hatte. Das historische Recht war ein Eingeständnis, daß man aus dem Menschen der Gegenwart überhaupt nichts mehr herausbekommt. So trat man ins zwanzigste Jahrhundert hinein, und da wurde das Gefühl immer ärger: Man steht gegenüber dem Nichts, und man muß aus dem Menschen heraus etwas finden. [...] (S. 31ff).

Man nehme an, das Christus-Ereignis wäre nicht gekommen. Dann wäre die Erde in dem seelisch-geistigen Leben der Menschheit allmählich vertrocknet. Das Christus-Ereig­nis konnte nicht bis heute warten, es mußte etwas früher fallen als der Zeitpunkt, in dem alle alten Erbschaften verbraucht waren, damit man mit den alten Erbschaften wenigstens noch das Chri­stus-Ereignis empfinden konnte. Sie brauchen sich nur vorzustel­len: Wenn am Ende des neunzehnten oder im zwanzigsten Jahr­hundert so etwas gekommen wäre wie ein Christus-Ereignis, wie es im Beginne unserer Zeitrechnung gekommen ist, was hätten da die Menschen unserer Zeit für ein Hohngelächter angestimmt gegenüber der Prätention, daß irgendein Ereignis eine Bedeutung haben sollte wie das Christus-Ereignis! [...] (S. 34).

Was ich sage, sind alles nur die Symptome, denn diese Dinge gehen in den tieferen Schichten des menschlichen Seelenlebens vor sich. Diese tieferen Schichten zaubern in die Seelen derjeni­gen Menschheit, die in den letzten Jahrzehnten jung geworden ist, etwas herein, das man etwa so ausdrücken kann: Der Mensch fühlt sich wie abgekoppelt von dem Strome des Weltgeschehens. Es ist schon etwas in der seelischen Entwickelung des Menschen eingetreten, das mit einem furchtbaren Ruck zu vergleichen ist. Stellen Sie sich vor, meine Hand könnte selbständig fühlen, und sie würde mir abgehackt. Was würde sie fühlen? Sie würde sich abgehackt, verdorrend fühlen, sie würde sich nicht mehr als etwas Lebendiges fühlen. So fühlt sich seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Seele jenem allgemeinen Strome des Weltgeschehens gegenüber wie abgehauen, wie abgekoppelt, und die bange Frage steht vor dem Menschen: Wie werde ich wie­der lebendig in der Seele? (S. 35).

Versucht man dann, aus den Impulsen heraus zu sprechen, die wieder Leben bringen können, dann verstehen die Menschen, die im Sinne des alten Geisteslebens so weiterhudeln wollen, das gar nicht. Wie wenig wird eigentlich verstanden, was aus dem Leben heraus gesprochen wird über so etwas wie die Begründung der Waldorfschule! Da hören die Leute zumeist etwas ganz ande­res über die Waldorfschule, als was sie hören sollten. Sie hören nur, daß man zu ihnen so redet, wie man vor Jahrzehnten auch schon geredet hat. Sie können ja die Worte, die man heute über die Waldorfschule redet, in Büchern nachschlagen. Sie finden alle diese Worte schon in den Büchern von früher. Und wenn einer andere Worte gebrauchen wollte oder nicht einmal andere Worte, sondern nur andere Satzfügungen, so sagen die Leute, es sei eine schlechte Sprache. Sie haben keine Ahnung von dem, was jetzt geschehen muß, wo die Menschheit, die noch Seele im Leibe hat, dem Nichts gegenübersteht.

Was über Waldorfschul-Pädagogik gesprochen wird, muß man mit anderen Ohren anhören, als was man sonst über Erziehung hört, auch über Reform-Erziehung. Denn auf die Fragen, die die Menschen jetzt beantwortet haben wollen und die in den anderen Erziehungssystemen gestellt und scheinbar beantwortet werden, gibt die Waldorfschul-Pädagogik überhaupt keine Antwort! Wor­auf zielen diese Fragen? Gewöhnlich auf recht viel Vernunft, und Vernunft hat die Gegenwart unermeßlich viel. Vernunft, Intellekt und Gescheitheit sind ganz ungeheuer verbreitete Artikel in der Gegenwart. Fragen wie die: Was man aus dem Kinde machen soll? Wie man das oder jenes ins Kind hineinbringen soll? – werden furchtbar vernünftig beantwortet. Und das läuft alles darauf hin­aus: Was gefällt einem am Kinde und wie kriegt man es zurecht, daß es so wird, wie man es haben möchte? Aber das hat für den tieferen Entwickelungsgang der Menschheit keine Bedeutung mehr! Auf solche Fragen gibt die Waldorfschul-Pädagogik über­haupt keine Antwort. (S. 35f).

Wenn man zunächst bildlich charakterisieren will, wie die Waldorfschul-Pädagogik spricht, so muß man sagen, daß sie ganz anders spricht, als man sonst in bezug auf Erziehung zu sprechen pflegt. Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädago­gisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Wal­dorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken. Denn heute handelt es sich um das Aufwecken. Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken. Es handelt sich tatsächlich um ein Aufwecken, nachdem die Menschheit abgekoppelt, abgeschnürt worden ist von dem fortlaufenden Strome der Weltentwickelung. Wie eine Hand einschläft, wenn sie abgeschnürt wird, so schlief die Menschheit seelisch-geistig ein. [...] (S. 36f).

Es ist ja richtig: im Intellekt sind die Menschen seit dem fünf­zehnten Jahrhundert furchtbar weit gekommen. Dieser Intellekt hat etwas schauderhaft Verführerisches, denn im Intellekt halten sich alle Menschen für wach. Aber der Intellekt lehrt uns gar nichts über die Welt. [...] Man steht durch den Intellekt in keiner objektiven Verbindung mehr mit der Welt. Der Intellekt ist das automatische Fortdenken, nachdem man von der Welt längst abgeschnürt ist. [...] (S. 37).

Der Intellekt wurde überschätzt, und ein Bewußtsein, eine Emp­findung vom Ereignis von Golgatha ist verlorengegangen. Das religiöse Empfinden ist im Bewußtsein verlorengegangen. Im tiefsten Innern hat aber die Seele dieses Empfinden nicht verloren, und die Jugend will wissen: Wie war es mit dem Mysterium von Golgatha? – Die Alten wußten nichts darüber zu sagen. [...]

Wenn man das, was sich chaotisch in den Tiefen der Seelen abspielt, in klare Worte faßt, so ist es so: Im Innern der Seelen ist ein Streben, das Mysterium von Golgatha wieder zu verstehen. Es wird ein neues Christus-Erlebnis gesucht. Wir stehen notwen­digerweise vor dem neuen Erleben des Christus-Ereignisses. In seiner ersten Gestalt ist es noch erlebt worden mit den Resten der alten Seelenerbschaften, und da diese seit dem fünfzehnten Jahrhundert verbraucht sind, pflanzte es sich durch Tradition fort. Erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts war die Ver­finsterung vollständig. Keine alten Erbschaften waren mehr da. Es muß aus der menschlichen Seelenverfinsterung heraus wieder ein Licht gesucht werden. Es muß schon die geistige Welt neu erlebt werden. (S. 38f).

Das ist das bedeutsame Erlebnis, das den tieferen Naturen der gegenwärtigen Jugendbewegung in der Seele steckt. Es ist durch­aus nicht in einem oberflächlichen, sondern in einem tieferen Sinne klar, daß zum ersten Male in der weltgeschichtlichen Ent­wickelung der Menschheit jetzt etwas erlebt werden muß, was ganz und gar aus den Menschen selber heraus kommt. Solange man das nicht weiß, kann man auch nicht über Pädagogik reden. Man muß sich klar sein darüber, daß aus der tiefsten Wurzel her­aus gefragt werden muß: Wie kommt man zum ursprünglichsten geistigen Erleben in der Menschenseele? [...] Wie bringt der Mensch sein Tiefstes, das er in sich hat, zum Aufwa­chen, wie kann der Mensch sich erwecken? [...] (S. 39).

Das ist es auch, was von Anfang an durch alles das, was in der Waldorfschul-Pädagogik lebt, durchgeleuchtet hat. Sie sollte nicht ein System von Grundsätzen, sondern ein Impuls zum Aufwecken sein. Sie sollte Leben sein, nicht Wissen; nicht Geschicklichkeit, sondern Kunst sollte sie sein, lebensvolles Tun, weckende Tat. Darauf kommt es an, wenn geweckt werden soll, da die Menschen nun schon einmal durch die Weltentwickelung in einen Schlaf hineingekommen sind, der erfüllt ist von intellektualistischem Träumen. Schon im gewöhnlichen Traum wird der Mensch oft größenwahnsinnig. Aber dieses gewöhnliche Träumen ist ein Waisenknabe gegenüber dem intellektualistischen Träumen.

Wenn es sich um ein Aufwecken handelt, geht es wirklich nicht, daß man den Intellektualismus weitertreibt. Diese objek­tive Wissenschaft, die da herumgeht und alle alten Kleider abge­legt hat, weil sie sich fürchtet, daß man durch irgendein altes Kleid noch etwas Menschliches finden könnte, hat sich umgeben mit der dichtesten Nebelhülle: mit der Hülle der Objektivität; und so merkt man eigentlich gar nichts von dem, was in dieser Objek­tivität der Wissenschaft herumgeht. Man braucht wieder etwas Menschliches, man muß aufgeweckt werden. (S. 40).

Ja, meine lieben Freunde, wenn aufgeweckt werden soll, dann muß eben das Mysterium von Golgatha noch einmal erlebt werden. Aber bei dem Mysterium von Golgatha ist außer dem irdischen Jesus noch eine Geistwesenheit in die Erde hereingekommen. Das hat man früher noch erfaßt, mit alten Kräften. Vom zwanzigsten Jahrhundert wird gefordert, daß man es mit neuen Kräften erfaßt. Die heutige Jugend verlangt, wenn sie sich richtig versteht, im Bewußtsein nicht in den alten schlummern­den Kräften wie damals  erweckt zu werden. Und das kann nur geschehen durch den Geist, kann nur geschehen, wenn in die Gemeinschaften, die gesucht werden, tatsächlich der Geist seinen Funken hereinschlägt. Der Geist muß der Wecker sein, der Auf­erweckende. Nur dann kommen wir weiter, wenn wir uns diese tragische Gestalt des Weltgeschehens in unserer Zeit klarmachen: daß wir eigentlich gegenüber dem Nichts stehen, an das wir in der Erdenentwickelung notwendigerweise einmal herankommen mußten zur Begründung der menschlichen Freiheit. Und gegen­über dem Nichts brauchen wir das Aufwecken im Geiste. [...] (S. 41).

Dritter Vortrag, 5.10.1922

Heute werde ich, um für manches, was ich Ihnen gern in den nächsten Tagen sagen möchte, die Grundlagen zu gewinnen, im allerkonkretesten Sinne vom Geist sprechen müssen. ich möchte zunächst von einer gewissen Seite her appellieren daran, daß Sie von dem, was hier als Geist gemeint ist, wenigstens ein gründli­ches Gefühl entwickeln. [...] (S. 43).

Wir wollen uns nicht darüber streiten, warum das heute ängstlich ausgeschlossen wird. Aber wir müssen uns klar sein, daß die Menschen früher dasjenige, was sie zum Beispiel in dem Phosphor anschauten, noch dazu empfunden haben zu dem sinnlich gegebe­nen Phosphor, ebenso wie die heutigen Menschen die Farbe sehen. Er war umglänzt von einem Geistig-Ätherischen, wie überhaupt die ganze Natur damals für die Menschen umsprüht war von Geistig­-Ätherischem, wenn es auch seit dem vierten, fünften nachchristli­chen Jahrhundert sehr verblaßt war. Aber immerhin war es für die Menschen noch da; es kam nicht aus ihrer Phantasie, so wenig wie die rote Farbe aus unserer Phantasie kommt; sie sahen es.

Warum sahen sie es? Sie sahen es, weil für sie noch etwas ausströmte aus dem, was der Mensch zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen erlebte. Im Wachzustande konnte der Mensch der damaligen Zeit an Salz, Schwefel oder Phosphor auch nicht mehr erleben, als was ein heutiger Mensch daran erlebt. Aber wenn die Menschen damals aufwachten, so war der Schlaf see­lisch nicht unfruchtbar gewesen; es schlug der Schlaf noch in den Tag herüber und der Mensch nahm reicher wahr, erlebte in einer intensiveren Weise alles, was da außer ihm war. Ohne daß man dieses zugrunde legt, versteht man die früheren Zeiten gar nicht. [...] (S. 44).

Es ist schon so: Der Mensch kann in seinem Wachbewußtsein sehr wohl an der äußerlichen Kultur arbeiten; an sich selber kann er nur im Schlafbewußtsein arbeiten. Und aus diesem Schlafbe­wußtsein strömte früher viel in den Wachzustand hinein. Das ist der große Umschwung in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, daß dieses Hereinträufeln des Schlafbewußtseins in das Wachbewußtsein aufhörte. [...] (S. 45).

Man betrachtet oftmals gerade heute dasjenige, was sich in der Kulturentwickelung abgespielt hat, nicht so, daß man einfach frägt: Wie ist es erzieherisch geworden in der Menschheit? –, weil man gar nicht den ganzen Menschen, sondern immer nur einen Teil des Menschen ins Auge faßt. [...] Man zieht eine scharfe Grenze zwischen dem, was man heute erreicht hat, und den Vorstellungen über die Natur, die sich die Menschen im kindlichen Zeitalter gebildet haben. Man denkt nicht daran, die Frage zu stellen, wie denn das, was man heute wissenschaftlich aufnimmt, in weltgeschichtlich-erzieherischer Weise auf den Menschen wirkt. (S. 46).

Sehen wir einmal von allem Erzieherischen ab und betrachten wir vom heutigen Gesichtspunkt aus ein älteres naturwissenschaftliches Buch, so erscheint es uns kindlich. Aber lassen wir diesen Gesichtspunkt, diesen Standpunkt beiseite und fragen wir: Wie hat ein damaliges Buch den Menschen erzogen, und wie erzieht ihn ein jetziges? – Das jetzige Buch mag sehr gescheit, das damalige sehr phantastisch sein. Fragen wir aber nach dem Erzie­hungswert im großen, so müssen wir uns sagen: Wenn die Men­schen dazumal Gelegenheit hatten, Bücher zu lesen – es war nicht so leicht, Bücher zu lesen, es war das etwas Feierliches –, dann zog ein Buch aus den Tiefen ihrer Seelen etwas heraus. Wahrhaftig, das Lesen eines Buches war etwas wie das Wachsen: produktive Kräfte wurden losgelöst im menschlichen Organismus. Man fühlte diese produktiven Kräfte. Man fühlte, daß da etwas Reales war. Heute ist alles logisch-formal. Man nimmt alles formal und intellek­tualistisch, aber willenlos, mit dem Kopfe auf. Aber weil es bloß mit dem Kopfe aufgenommen und lediglich von der physischen Kopforganisation abhängig ist, deshalb bleibt es für das wahre Menschentum unfruchtbar. (S. 46).

Man kämpft heute gegen den Materialismus. Meine lieben Freunde, es wäre fast gescheiter, gar nicht gegen den Materia­lismus zu kämpfen. Denn was behauptet der Materialismus? Er behauptet, daß das Denken ein Produkt des Gehirns ist. Das heutige Denken ist ein Produkt des Gehirns! Das ist gerade das Geheimnis, daß das heutige Denken ein Produkt des Gehirns ist. In bezug auf das heutige Denken hat der Materialismus ganz recht. Nicht recht hat er für das Denken vor der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Da dachte man nicht nur mit dem Gehirn, sondern mit dem, was im Gehirn lebte. Man hatte lebendige Begriffe. Die Begriffe jener Zeit machten eigentlich, weil sie lebten, den Ein­druck, als wenn man einen Ameisenhaufen sieht. Die heutigen Begriffe sind tot. Das Denken ist heute gescheit, aber furchtbar bequem. Man spürt ja das Denken nicht und liebt es um so mehr, je weniger man es spürt. Früher kribbelte es, wenn man dachte, weil das eine Realität der Seele war. Heute will man der Menschheit weismachen, daß das Denken immer so war wie heute. Aber das heutige Denken ist ein Gehirnprodukt, das frühere Denken war kein Gehirnprodukt.

Man sollte den Materialisten dankbar sein, daß sie darauf auf­merksam gemacht haben, daß das heutige Denken vom Gehirn abhängig ist. Denn so ist es; die Sache ist viel ernster als man denkt. Man hält den Materialismus für eine falsche Weltanschauung. Das ist gar nicht richtig. Er ist ein Produkt der Weltentwickelung, aber ein totes, ein Produkt, das das Leben in einem Zustande charakte­risiert, wo es schon abgestorben ist. [...] (S. 47).

Sie müssen Ihren Kopf wieder so stark kriegen, daß Sie nicht nur das logische, abstrakte Denken, sondern auch das lebendige Denken zu ver­tragen vermögen. Sie müssen nicht gleich einen Brummschädel bekommen, wenn Sie lebendig denken sollen. [...] (S. 48).

Das frühere Denken hat man in den Schlaf hinein mitnehmen können. Da war man noch etwas im Schlafe. Man war ein Wesen unter anderen Wesen. Man war etwas im Schlafe, weil man das lebendige Denken in den Schlaf hinein mitgenommen hat. Man hat es beim Aufwachen herausgebracht und hat es beim Einschlafen wieder mit hineingenommen. Das heutige Denken ist an das Gehirn gebunden. Das kann uns aber beim Schlafen nichts helfen. So können wir heute nach der gegenwärtigen wissenschaftlichen Mode die allergescheitesten und allergelehrtesten Leute sein, aber wir sind es nur für den Tag. Wir hören auf, es zu sein in der Nacht, gegenüber derjenigen Welt, durch die wir an uns selber arbeiten können. Deshalb gewöhnten es sich die Menschen ab, an sich sel­ber zu arbeiten. Mit den Begriffen, die wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen entwickeln, kann man auch nur vom Aufwachen bis zum Einschlafen etwas erreichen. [...] (S. 49).

Der Intellekt nährt den Geist nicht. Er bläst ihn nur auf. Daher nimmt der Mensch nichts von Geistigkeit in den Schlaf hinein mit, und er wird fast aufgesogen, wenn er zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen als ein ganz dünnes Seelengerippe in die geistige Natur hineinragt. (S. 50).

Daher ist die Frage nach dem Materialismus heute wirklich keine theoretische. Nichts ist weniger wichtig als der theoretische Streit zwischen Materialismus, Spiritualismus und Idealismus. Das sind heute ganz wesenlose Dinge, denn mit dem Widerlegen des Materialismus ist gar nichts getan. Wir können heute noch so oft den Materialismus widerlegen, es kommt gar nichts dabei heraus. ­Denn schließlich sind die Gründe, die man zur Widerlegung des Materialismus anführt, ebenso materialistisch wie die, welche man gegen oder für den Idealismus anführt. Mit theoretischen Widerlegungen ist heute weder nach der einen, noch nach der anderen Richtung etwas getan, sondern darauf kommt es an, daß man in der ganzen Art, wie man die Welt betrachtet, wiederum Geist hat. Dadurch kriegen unsere Begriffe wiederum nährende Kraft für den Menschen. Ich möchte Ihnen, um Ihnen das ganz klarzumachen, noch das Folgende sagen.

Ich finde eigentlich zwischen Leuten, die sich oftmals Materialisten nennen, und solchen Leuten, die sich in gewissen kleinen, sektiererischen Kreisen, sagen wir, Theosophen nennen, keinen so hervorragenden Unterschied. Denn die Art und Weise, wie die einen den Materialismus und die anderen die Theosophie bewei­sen, unterscheidet sich gar nicht so wesentlich. Denn wenn man mit einem Denken, das ganz vom Gehirn abhängt, die Theosophie beweisen will, dann ist eben die Theosophie materialistisch. [...] Es kommt eben nicht darauf an, daß man über den Geist redet, sondern daß man mit Geist redet. Man kann auch geistvoll über das Materielle reden, das heißt, man kann auch mit beweglichen Begriffen über das Materielle reden. Das ist noch immer viel spiritueller, als geistlos über den Geist reden. [...] (S. 50f).

Die Leute kämpfen heute kontra Anthroposophie und manchmal auch pro recht materialistisch, das heißt geistlos, während es sich darum handelt, daß man mit dem Erleben des Geistes ernst macht. [...] Also das möchte ich einmal ganz deutlich ausgesprochen haben, meine lieben Freunde: bei dem, was ich hier meine und jemals gemeint habe, handelt es sich nicht darum, vom Geist zu reden, sondern darum, aus dem Geiste heraus zu reden, im Reden selber den Geist zu entwickeln. Das ist dann der Geist, der erst wirklich erzieherisch wiederum in unser totes Kulturleben hereinschlagen kann. Das muß der Blitz werden, der in unser totes Kulturleben hereinschlagen muß, um es wiederum zum Leben zu entzünden. [...] (S. 52f).

Vierter Vortrag, 6.10.1922

[...] In diese Zeitstimmung hinein versuchte ich meine "Philoso­phie der Freiheit" zu schicken, die in der Anschauung gipfelt, daß jetzt, also am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, gerade die Zeit gekommen sei, die im eminentesten Sinne notwendig macht, daß die Menschen sich darauf besinnen, wie sie sittliche Impulse immer mehr und mehr dadurch finden können, daß sie auf das Wesen der menschlichen Seele selber zurückgehen. Selbst für die sittlichen Impulse des Alltags müssen sie immer mehr und mehr zu moralischen Impulsen ihre Zuflucht nehmen, weil andere Impulse als die unmittelbar in der menschlichen Seele bloßzulegenden moralischen Intuitionen immer weniger bestim­mend sein können. Diese Situation lag dazumal für mich vor. Ich fand mich genötigt, zu sagen: Alle Zukunft der menschlichen Ethik hängt davon ab, daß die Kraft der moralischen Intuition mit jedem Tage stärker werde. Damit war auch gesagt, daß wir mit Bezug auf die moralische Pädagogik überhaupt nur vorwärts­kommen, wenn wir die Kraft der moralischen Intuition in der menschlichen Seele immer mehr stärken, wenn wir das einzelne menschliche Individuum immer mehr und mehr dahin bringen, sich bewußt zu werden, was in seiner Seele an moralischen Intui­tionen ersprießen kann. [...] (S. 59).

Sehen Sie, das wirkliche Erleben des Geistigen wird überall, wo man dieses Geistige trifft, Individualismus. Das Definieren wird überall Allgemeines. Wenn man durchs Leben geht, einzelnen Menschen gegenübertritt, muß man ein offenes Herz, einen offe­nen Sinn haben für diese einzelnen Menschen. Man muß sozusa­gen jedem einzelnen individuellen Menschen gegenüber in der Lage sein, ein ganz neues Menschengefühl zu entwickeln. Man wird nur dadurch dem Menschen gerecht, daß man in jedem ein­zelnen einen neuen Menschen sieht. Aus dem Grunde hat jeder Mensch uns gegenüber das Recht, daß wir ihm gegenüber ein neues Menschengefühl entwickeln. Denn wenn wir mit einem all­gemeinen Begriffe kommen und sagen, so sollte der Mensch sein in dieser oder jener Hinsicht, dann tun wir ihm unrecht. Mit jeder Definition des Menschen setzen wir uns eigentlich eine Brille auf, um den individuellen Menschen nicht sehen zu können. [...] (S. 62).

Schon gestern mußte ich ihnen sagen: Theoretische Wider­legungen des Materialismus als Weltanschauung sind für unser Zeitalter eigentlich Unsinn, denn der Materialismus hat für unser Zeitalter recht. [...] Die Menschheit ist eben an demjenigen Punkte der Entwickelung angelangt, wo sie keinen innerlichen, lebendigen Geist mehr hat, sondern nur jenen Geistes­reflex, der restlos vom physischen Gehirn abhängig ist. Für diesen Reflexgeist ist der Materialismus als theoretische Weltanschauung voll berechtigt. Es handelt sich nicht darum, ob man eine falsche Weltanschauung hat, oder sie widerlegt, sondern darum, daß man allmählich zu einer geistlosen inneren Lebens- und Seelenhaltung gekommen ist. [...] (S. 69).

Denn solange der Mensch heute sich nicht ehrlich gesteht: Ich muß zum lebendigen, zum regsamen Geiste, zu demjenigen Geist, der im Intellektualismus nicht mehr seine Wirklichkeit, sondern nur seinen Leichnam hat, solange ist keine Rettung aus der Wirrnis des Zeitalters möglich. Solange einer noch glaubt, daß er im Intellektualismus Geist finden kann, wo der Intellektualismus gerade nur noch so die Form des Geistes ist, wie der menschliche Leichnam die Form des Menschen, solange ist kein Sichfinden des Menschen möglich. [...]

Und so wie der menschliche Leichnam durchdrungen werden kann von Ingredien­zien, die seine Form konservieren, was die ägyptischen Mumien zei­gen, so kann man, indem man den Leichnam des Geistes mit Beob­achtungsresultaten, mit Experimentierresultaten ausstaffiert, auch ihn konservieren. Man bekommt aber dadurch kein lebendiges Gei­stiges, nichts, was man mit den lebendigen Impulsen der menschli­chen Seele in naturgemäßer Weise verbinden kann; man bekommt nichts anderes als ein Totes. [...] (S. 70).

Solange es sich darum handelt, gerade dasjenige zu konser­vieren, was durch die Ehe zwischen Beobachtung und Intellekt konserviert werden soll, solange kann man nur sagen: Die Leistun­gen der neueren Zeit sind großartig. In dem Augenblick, wo der Mensch sich selber die Aufgabe setzen muß, sich im Tiefsten seiner Seele nur mit dem, was sein Geist sich innerlich selber vorhält, zu verbinden, in dem Augenblicke gibt es keine Verbindung zwischen dem Intellektualismus und der Menschenseele. Dann gibt es nur das eine, daß der Mensch sich sagt: Ich dürste nach etwas, und alles, was mir aus intellektualistischen Untergründen aus der Welt ent­gegentritt, gibt mir nicht Wasser für diesen Durst. [...] (S. 70f).

Wir müssen im Tiefsten, im Innersten der Seele suchen nach Licht, vor allen Dingen müssen wir zu dem tiefinnersten Ehrlichkeits- und tiefinnerlichsten Wahrheitsgefühl zu kommen suchen. Wenn wir auf Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit bauen, dann werden wir weiterkommen, und weiterkommen muß die Menschheit. Dann werden wir dahin kommen, daß man wieder von Geist reden darf, der der menschlichen Natur doch am ähnlichsten ist. Die Seele ist am ähnlichsten dem Geiste, daher kann sie ihn finden, wenn sie will. In unserer Zeit aber muß sie hinausstreben über Phrase, Konvention und Routine; hinaus über die Phrase zu der Erfassung der Wahrheit, hinaus über die Konvention zu dem unmittelbaren, elementaren herzlichen Verhältnis von Mensch zu Mensch, und hinaus über die Routine zu dem, wodurch in jeder einzelnen Handlung des Lebens wieder Geist liegt, so daß wir nicht aus einem Automatischen heraus handeln, wie das heute so vielfach geschieht, sondern daß in der alltäglichsten Handlung wieder Geist lebt. Wir müssen zu der Geistigkeit des Handelns, wir müssen zu dem unmittelbaren Erlebnis der Menschen unter­einander und zum ehrlichen Erlebnis der Wahrheit kommen. (S. 72).

Fünfter Vortrag, 7.10.1922

[...] Ich wollte durch meine "Philosophie der Freiheit" zeigen, daß in der Menschheits­entwickelung die Zeit gekommen ist, in welcher die Sittlichkeit auf keine andere Weise fortgeführt werden kann, als daß in bezug auf sittliche Impulse an dasjenige appelliert wird, was der Mensch aus dem Innersten seines Wesens, ganz individuell, als moralische Impulse heraufholen kann. [...] (S. 73).

Man hat ja auch früher von moralischen Intui­tionen gesprochen, indem man gesagt hat, die Menschen können als Wesensindividualität die Antriebe zum Handeln aus den Tiefen ihres Wesens heraufholen, unabhängig vom äußeren Leben. Aber schon seit dem ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts und immer stärker in den folgenden Jahrhunderten wurde alles das, was man in dieser Weise über die moralischen Intuitionen gesagt hatte, vom rein menschlichen Standpunkte aus immer weniger wahr. Denn die Menschen sagten zwar, Sittlichkeit könne nicht begründet werden durch Beobachtung äußerer Tatsachen; aber sie vernahmen nicht mehr etwas wirklich Lichtvolles, wenn sie in ihr eigenes Innere schauten. So behaupteten sie wohl, morali­sche Intuitionen seien da, aber sie wußten eigentlich nichts mehr davon. [...] (S. 73f).

Geht man aber in der Zeit zurück und schaut sich an, was als moralische Intuition damals angesprochen worden ist, so findet man, das war nicht etwas, das innerlich von der Menschenseele erarbeitet worden war. Deshalb hat zum Beispiel das Alte Testament das, was als moralische Intuition da figuriert, mit vollem Recht nicht als etwas von der menschlichen Seele Erarbeitetes empfunden, sondern als göttliche Gebote, die von außen in sie eingeflossen waren. Und je mehr man zurückgeht, desto mehr findet man, daß der Mensch das, was er beim Anschauen des Sittlichen schaute, als ein inne­res Geschenk eines außer ihm lebenden Göttlichen fühlte. Also als göttliches Gebot, und zwar nicht in übertragenem, nicht in symbolischem Sinn, sondern in ganz eigentlichem Sinne wurden damals die moralischen Intuitionen angesehen. [...] (S. 76).

Das war die ganz signifikante Situation am Ende des neunzehn­ten Jahrhunderts, daß man in einzelnen Kreisen zum Bewußtsein gekommen war, daß die alten, gottgegebenen Intuitionen nicht mehr da sind und daß, wenn man mit seinem Kopfe die Gedanken der Alten beweisen will, man nur sagen kann: Es gibt keine moralischen Intuitionen! Die Wissenschaft hat die moralischen Intuitionen mundtot gemacht, und die Menschen, wenn sie sich nur emp­fangend verhalten, sind nicht mehr fähig, moralische Intuitionen zu empfangen. Wäre man konsequent gewesen, so hätte man schon damals eine Art Spengler werden und sagen müssen: Moralische Intuitionen gibt es nicht, folglich kann die Menschheit eigentlich nichts tun, als in Zukunft langsam zu vertrocknen. [...] Da wäre man konsequent gewesen! Das getraute man sich aber nicht, denn Konsequenz war nicht gerade eine hervorragende Eigenschaft des aufgehenden intel­lektualistischen Zeitalters. [...] Das war die eine Alternative.

Die andere war die, daß man sich unmittelbar bewußt wurde: Wir stehen mit dem Verluste der alten Intuitionen dem Nichts gegenüber. – Also was tun? In diesem Nichts das All suchen! Aus diesem Nichts heraus etwas suchen, was einem nicht gegeben wird, was man erarbeiten muß. Und erarbeiten konnte man nicht mehr mit den passiven Kräften, die da waren, sondern nur noch mit den stärksten Erkenntniskräften, die in diesem Zeitalter dem Menschen zur Verfügung standen: mit den Erkenntniskräften des reinen Denkens. Denn beim reinen Denken geht das Denken unmittelbar in den Willen über. Beobachten und denken kön­nen Sie, ohne Ihren Willen sehr anzustrengen. Experimentieren und Denken geht nicht in den Willen über; aber reines Denken, also elementare, ursprüngliche Aktivität entfalten, dazu gehört Energie. Da muß der Blitz des Willens unmittelbar in das Denken selber einschlagen. Da muß der Blitz des Willens aber auch aus der ganz singulären menschlichen Individualität herauskommen. Und da mußte man schon einmal den Mut haben, an dieses reine Den­ken zu appellieren, das auch zum reinen Willen wird. Dieser wird aber zu einer neuen Fähigkeit: der Fähigkeit, aus der unmittelba­ren menschlichen Individualität heraus moralische Impulse zu gewinnen, die nun erarbeitet werden müssen, die nicht mehr wie die alten gegeben sind. An Intuitionen mußte appelliert werden, die erarbeitet werden! [...] (S. 77ff).

Die Sache ist nun so, daß seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die Menschen nach der Geschlechtsreife ein im wesentlichen totes Denken innerlich erlebten. Sie waren von dem Leichnam des Denkens ausgefüllt. Wenn Sie ganz ernsthaft diesen Gedanken fassen, dann wird es Ihnen begreiflich sein, daß erst seit jener Zeit eine richtige anorganische Naturwissen­schaft entstehen konnte, weil da erst der Mensch anfing, rein anorganische Gesetze begreifen zu können. Erst jetzt konnte man das Tote so begreifen, wie es seit Galilei und Kopernikus angestrebt wird. [...] (S. 81).

Nun war das den Alten, die die Kultur in der Hand hatten, eigentlich ganz angemessen: mit einem toten Denken eine tote Welt zu umfassen. Man kann damit vorzüglich Wissenschaft begründen. Man kann aber damit niemals die Jugend unterrichten und erziehen. Und warum? Weil die Jugend bis zur Geschlechts­reife die Lebendigkeit des Denkens, wenn auch auf unbewußte Art, behält. Und so stellt sich, trotz allen Nachdenkens über die Erziehungsgrundsätze, wie sie in neuerer Zeit gefaßt worden sind, immer mehr heraus, daß wenn die steif gewordene objektive Wissenschaft, die das Tote umfaßt, zur Erzieherin wird und an das Lebendige, Jugendliche herankommt, diese Jugend das wie ein Hereinstoßen eines Pfahles ins Fleisch fühlt. Man stieß ihr einen Pfahl ins Herz, den Tod, und sie soll sich aus dem Herzen das Lebendige herausreißen. Es mußte aus dem inneren der mensch­lichen Entwickelung heraus zu dem kommen, was heute noch sehr viele Leute übersehen, was aber wirklich in einschneidender Weise vorhanden ist: zu einer Kluft zwischen dem Alter und der Jugend. Und diese Kluft beruht einfach darauf, daß die Jugend sich ins lebendige Herz nicht den toten Pfahl stoßen lassen kann, den der Kopf aus dem bloßen Intellektualismus herausarbeitet. Die Jugend verlangt nach Lebendigkeit, die nur aus dem Geiste heraus von menschlicher Individualität erarbeitet werden kann. Und wir machen den Anfang, diese an moralischen Intuitionen zu erarbeiten. [...] (S. 82f).

Sechster Vortrag, 8.10.1922

[...] Die kommende Generation wird nicht einmal dasjenige in sich haben, was die Gegenwart der jüngsten Generation, aus einer gewissen Oppositionsstellung gegen das Ältere, gegeben hat: die Begeisterung, allerdings nach einem mehr oder weniger Unbestimmten, aber doch wenigstens eine Begeisterung. Was sich weiter in der Menschheit entwickelt, wird viel mehr den Charakter eines Verlangens, einer Sehnsucht von unbestimmter Art haben, als das der Fall war bei jenen, die sich aus einer gewissen Oppositionsstellung gegenüber dem Her­kömmlichen heraus Begeisterung holen konnten. (S. 87).

Und da wird es notwendig, noch tiefer, als ich das schon getan habe, in die Menschenseele hineinzuschauen. Ich habe es ja schon etwas angedeutet, daß in der neuzeitlichen Entwickelung der Menschheit im Abendlande das Bewußtsein vom vorirdischen Seelendasein verlorengegangen ist. [...] Sie müssen sich für einen Augenblick eine Empfindung davon bilden, wie ungeheuer anders es ist, wenn man von dem Bewußtsein durchdrungen ist: mit dem Menschen ist etwas heruntergestiegen aus göttlich-geistigen Welten in den physischen Menschenleib hinein, hat sich mit dem physischen Menschenleib verbunden. Wenn man ein solches Bewußtsein ganz und gar nicht hat, so gibt das, vor allem dem heranwachsen­den Kinde gegenüber, eine ganz verschiedene Empfindung.

Hat man ein Bewußtsein davon, so enthüllt uns das heran­wachsende Kind vom ersten Lebensatemzuge an oder sogar noch früher etwas, was sich aus der geistigen Welt heraus offenbart. Da enthüllt sich etwas von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr. Das Kind, so angeschaut, wird zu einem Rätsel, dem sich der Mensch in einer ganz anderen Weise erschließt, als wenn er vermeint, nur der Entwickelung eines Wesens gegen­überzustehen, das mit der Geburt oder mit der Konzeption seinen Anfang genommen hat und das sich, wie man heute sagt, von diesem Ausgangspunkte, von diesem Keimausgangspunkte aus entwickelt. (S. 88).

Wir sehen heute, nur verkannt und mißverstanden von dem größten Teil der zivilisierten Menschheit, zwei der allerwichtigsten sittlichen Impulse heraufziehen. Sie ziehen herauf in den Untergründen des Seelischen. Will man sie interpretieren, so kommt man gewöhnlich auf die verkehrtesten Ideen. Will man sie praktisch machen, so weiß man gewöhnlich nicht viel mit ihnen anzufangen; aber sie ziehen herauf. Es sind, in bezug auf das Innere des Menschen: der Impuls der sittlichen Liebe, und, in bezug auf den Verkehr unter den Menschen: der sittliche Impuls des Vertrauens von Mensch zu Mensch. [...] In Zukunft wird die reine große Liebe von innen heraus den Menschen beflügeln müssen zu dem, was Ausführung seiner sittlichen Intuitionen wird sein müssen; und diejenigen Menschen werden sich schwach und willenlos fühlen gegenüber den sittlichen Intuitionen, die nicht aus den Tiefen ihrer Seele heraus das Feuer der Liebe für das Sittliche entzünden, wenn ihnen durch ihre moralische Intuition die Tat, die geschehen soll, vor Augen steht. (S. 91f).

Sehen Sie, wie sich da die Zeiten spalten. Das sieht man am besten aus einer Gegenüberstellung dessen, was, ich möchte sagen, als das Atavistische der alten Zeit so vielfach in die Gegen­wart herüberspielt, und was auf der anderen Seite wie ein erstes Morgenrot erst in uns lebt. Sie haben ja oftmals gehört von jenem schönen Wort, das Kant über die Pflicht niedergeschrieben hat: "Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwer­fung verlangst", und so weiter. [...] Sehen Sie, diesem sogenannten kategorischen Imperativ, wie er aus alten Zeiten, aus alten sittlichen Impulsen herüberkommt, steht gegenüber die Forderung an die Menschheit, aus den Tiefen der Seele heraus gerade die Liebe zu dem, was Handlung, was Tat werden soll, mehr und mehr zu entfalten. Denn in der Zukunft würde der Menschheit noch so oft entgegentönen können: Unter­wirf dich der Pflicht, demjenigen, was gar keine Einschmeichelung bei sich führt – es würde nicht helfen! [...] (S. 92f).

Man hat einfach nicht die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, ob man das, was Kant als Epigone ältester Zeiten mit diesem Satz gesagt hat, in die Zukunft herübertragen soll. Man kann es nicht herübertragen, weil die Menschheit sich darüber hinwegentwickelt hat und sich so entwickelt, daß das Handeln aus Liebe den Impuls abgeben muß für die Menschheit der Zukunft.

So also gewinnen wir auf der einen Seite die Anschauung eines ethischen Individualismus, auf der andern Seite aber die Notwen­digkeit, diesen ethischen Individualismus getragen zu wissen von der Liebe, die sich ergibt aus der Anschauung der zu realisierenden Tat. Das ist nach dem Subjektiven des Menschen hin gesehen. [...] (S. 93).

In Anbetracht der Tatsache, daß die Menschheit sich nach der Richtung des Indi­vidualismus hin entwickelt, hat es gar keinen Sinn zu sagen, mit dem ethischen Individualismus zerstöre man die Gesellschaft. Es handelt sich vielmehr darum, jene Kräfte aufzusuchen, mit denen die weitere Entwickelung der Menschheit vor sich gehen kann, weil dies notwendig ist für die Entwickelung des Menschen im Sinne des ethischen Individualismus, unter dem die Gesellschaft zusammengehalten und erst recht belebt werden kann. (S. 93f).

Eine solche Kraft ist das Vertrauen, das Vertrauen von Mensch zu Mensch. Gerade so, wie wir appellieren müssen für die ethi­sche Zukunft, wenn wir in unser eigenes Innere hineinsehen, an die Liebe, so müssen wir appellieren, wenn wir auf den Verkehr der Menschen untereinander sehen, an das Vertrauen. Wir müs­sen dem Menschen so begegnen, daß wir ihn als das Weltenrätsel selber empfinden, als das wandelnde Weltenrätsel. Dann werden wir schon vor jedem Menschen die Gefühle entwickeln lernen, die aus den allertiefsten Untergründen unserer Seele heraus das Vertrauen holen. Vertrauen in ganz konkretem Sinn, individuell, einzelgestaltet, ist das Schwerste, was aus der Menschenseele sich herausringt. Aber ohne eine Pädagogik, eine Kulturpädagogik, die auf Vertrauen hin orientiert ist, kommt die Zivilisation der Menschheit nicht weiter. Die Menschheit wird gegen die Zukunft hin auf der einen Seite die Notwendigkeit empfinden müssen, alles soziale Leben auf das Vertrauen aufzubauen, aber sich auf der anderen Seite auch bekannt machen müssen mit jener Tragik, die darinnen liegt, wenn in der Menschenseele gerade das Vertrauen nicht in der entsprechenden Weise Platz greifen kann. (S. 94).

O meine lieben Freunde, was Menschen jemals auf dem Grunde ihrer Seele gefühlt haben, wenn sie enttäuscht worden sind von einem Menschen, auf den sie viel gebaut haben, alles das, was an solchen Gefühlen jemals im Laufe der Menschheits­entwickelung entfaltet worden ist, wird in Zukunft an Tragik noch überboten werden, wenn die Menschen, nachdem gerade das Vertrauensgefühl unendlich vertieft worden ist, in tragischer Weise Enttäuschungen an Menschen erleben werden. Das wird in der Zukunft das Bitterste im Leben werden, wenn man von Menschen wird enttäuscht werden. Es wird das Bitterste werden, nicht weil nicht auch bisher schon Menschen von Menschen enttäuscht worden sind, sondern weil in Zukunft die Empfin­dung der Menschen für Vertrauen und Enttäuschung sich in einer unermeßlichen Weise vertiefen wird, weil die Menschen unendlich viel bauen werden auf das, was in der Seele bewirkt wird aus dem Glück des Vertrauens auf der einen Seite und aus dem Schmerz des notwendigen Mißtrauens auf der anderen Seite. Ethische Impulse werden eben bis zu jenen Untergründen der Seele vordringen, wo sie unmittelbar aufsprießen aus dem Vortrauen von Mensch zu Mensch. (S. 94f).

So wie die Liebe die menschliche Hand, den menschlichen Arm befeuern wird, damit er aus dem Inneren heraus die Kraft zur Tat hat, so wird von außen die Atmosphäre des Vertrauens in uns strömen müssen, damit die Tat den Weg von einem Men­schen zum andern hin finde. Urständen wird müssen die Sittlichkeit der Zukunft in der aus den tiefsten Tiefen der Menschenseele frei gewordenen sittlichen Liebe, und das soziale Handeln der Zukunft wird eingetaucht sein müssen in das Vertrauen. Denn wenn menschliche Individualität der menschlichen Individualität in Sittlichkeit wird begegnen sollen, so wird vor allen Dingen notwendig sein diese Atmosphäre des Vertrauens.

So blicken wir auf eine Ethik, auf eine Moralanschauung der Zukunft, die wenig reden wird von demjenigen, was man immer als ethische Intuitionen alter Art charakterisiert hat, die aber stark reden wird davon, wie ein Mensch sich entwickeln muß von der Kindheit an, damit geweckt werde in ihm die Kraft der sittlichen Liebe. Und viel wird in der Zukunftspädagogik von Lehrenden und Erziehenden an die aufwachsende Generation überliefert werden müssen durch dasjenige, was in unausgesprochener Weise erzie­herisch wirkt. Viel wird sich in Erziehung und Unterricht offen­baren müssen von jener Menschenerkenntnis, die nicht abstrakt aufzählt: Der Mensch besteht aus dem und dem, ist so und so –, sondern die in den anderen Menschen so hinüberführt, daß man zu ihm das richtige Vertrauen gewinnen kann. (S. 95).

Menschenkenntnis, aber nicht Menschenkenntnis, die uns den Mitmenschen gegenüber kalt macht, sondern die uns vertrauens­voll macht, muß der Grundnerv auch der Zukunftspädagogik werden. Denn es wird notwendig sein, auf eine neue Art ernst zu machen mit demjenigen, womit es einmal in der Menschheitsent­wickelung ernst war, was aber nicht mehr ernst genommen wird im Zeitalter des Intellektualismus.

Selbst wenn Sie nur bis Griechenland zurückgehen, so werden Sie finden, daß zum Beispiel der Arzt sich in seiner ärztlichen Kunst außerordentlich verwandt fühlte mit dem Menschen, der einen priesterlichen Beruf ausübte, und die Priester fühlten sich in gewisser Weise verwandt mit dem Arzte. [...] Da war der Mensch noch ein Ganzes, weil dasjenige, was er im Dienste der Mensch­heit zu tun hatte, von religiösen Impulsen durchdrungen war. Wir müssen – allerdings auf eine andere Art: durch selbsterarbeitete, nicht gottgegebene moralische Intuitionen – wiederum dazu kommen, daß alles Leben von diesem religiösen Zug durchdrungen wird. Das aber wird zu allererst auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts sichtbar sein müssen. Vertrauen von Mensch zu Mensch – das ist die große Zukunftsforderung – muß das soziale Leben durchziehen. (S. 95f).

Indem wir in der Sphäre des Sittlichen sprechen von Menschenvertrauen, müssen wir es, sobald wir von demjenigen Sittlichen sprechen, das Erziehung und Unterricht darstellen, spezialisieren und sagen: dem Kinde, das uns die göttlich-geistigen Kräfte heruntergeschickt haben, dem wir als diejenigen gegenüberstehen, die die Rätsellöser sein sollen, stehen wir gegenüber mit Gottvertrauen. Ja, dem Kinde gegenüber verwandelt sich das Menschenvertrauen sogar in Gottvertrauen. Und in der zukünftigen Entwickelung der Menschheit wird dasje­nige, was, ich möchte sagen, auf eine mehr neutralisierte Art von Mensch zu Mensch wirkt, von selbst eine religiöse Nuance anneh­men, wenn es sich auf das Kind oder überhaupt auf die jüngeren Menschen bezieht, die erst noch in ihrer Entwickelung in die Welt hereingeleitet werden sollen. [...] (S. 97).

Was ich hier als eine besondere religiöse Nuance der Sittlich­keit schilderte, bekommt im Grunde genommen die richtige Fär­bung dadurch, daß man sich sagt: In rätselvoller Art stellt sich das Leben vor uns hin. Die Lösung des Rätsels finden wir, wenn wir die Antwort im Wesen des Menschen suchen. – Da liegt sie auch. Aber der Erzieher ist vor die Notwendigkeit gestellt, an der Lösung dieses Rätsels in lebensvoller Art fortwährend zu arbeiten. [...] Diese Empfindung wird Sie so in die Welt hineinstellen können, daß Sie nicht nur auf die eine Seite schauen und fragen werden: Welche Tragik hat sich für die Jugend ergeben, die sich an die Alten anschließen mußte? – Sondern Sie werden auch, in die Zukunft blickend, fragen: Welche lebendigen Kräfte muß ich in mir aufschließen, damit ich richtig auf diejenigen hin­sehen kann, die nachkommen? [...] (S. 98).

Siebenter Vortrag, 9.10.1922

[...] Die Generation, welche im Beginne des zwanzigsten Jahrhun­derts vor der Weltentwickelung gerade so stand, daß sie dieses hier charakterisierte "Stehen vor dem Nichts" als eine tiefste menschliche Empfindung hatte, war ja tatsächlich etwas ganz Neues in der Menschheitsentwickelung. Heute steht die Sache schon wiederum so, daß diese Empfindung mit mancher Enttäu­schung rechnen muß, die ihr aus ihren eigenen Untergründen heraus bereitet worden ist. [...] (S. 100).

Weil der Drang, der einstmals die Menschen für die Wissenschaft befeuerte, nicht mehr da war, konnte die Jugend an dem Studium gewissermaßen nicht einmal mehr rich­tig ermüden. Wollte ich mich konkreter ausdrücken, so müßte ich sagen: Die Wissenschaft war zu etwas geworden, was nicht in den Menschenköpfen lebte, sondern in den Bibliotheken aufge­hoben wurde. Die Wissenschaft war allmählich etwas geworden, was man eigentlich gar nicht mehr haben wollte. Daher ermüdete man nicht mehr an ihr. Weil man sich gar nicht von dem Drange nach ihr durchzogen fühlte, ermüdete man nicht mehr an ihr. Es fehlte einem die Möglichkeit, an der zu erringenden Erkenntnis zu ermüden. Dadurch bekam dasjenige, was die Jugend gerade um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert durchzog, einen ganz besonderen Charakter: den Charakter, den die Lebenskraft eines Menschen hat, der sich abends ins Bett legt, nicht ermüdet ist und sich daher herumwälzt und nicht weiß, warum er sich wälzt. [...] (S. 102f).

Man erlebte diejenigen, die einem als Erkennende vorgestellt wurden, sozusagen nur noch auf dem Katheder. [...] Man erlebt zum Beispiel, daß einer, der etwas an die Jugend heranbringen will, mit einem Notizbuch oder sogar mit einem gedruckten Buche, das nicht von ihm ist – vielleicht enthält auch das Notizbuch manchmal Dinge, die nicht von ihm sind, ich will das aber nicht voraussetzen –, vor seiner Klasse steht und wacker aus diesem Buche heraus drauflos unterrichtet. Dabei setzt man nun wirklich voraus, daß es keine übersinnliche Welt gibt. [...]

In jedem Menschen steckt ein anderer! Der ist oft viel gescheiter als der andere, der in Erscheinung tritt. Beim Kinde ist er zum Beispiel unendlich viel weiser. Er ist eine übersinnliche Realität. Er ist im Menschen darinnen; und wenn man vor einer Klasse sitzt und meinetwillen dreißig Schüler hat und mit Hilfe eines Buches oder Heftes lehrt, dann wird man vielleicht diese dreißig Schüler dazu trainieren können, daß sie das mit ihrem offenbaren Menschen als etwas Natürliches anschauen; aber alle dreißig verborgenen Menschen, die da vor einem sitzen – dessen kann man ganz sicher sein – urteilen anders. Die verborgenen Men­schen sagen: Der will mir etwas beibringen, was er selber in diesem Momente erst ablesen muß. Ich möchte einmal wissen, wozu ich das wissen soll, was der im Momente erst abliest. Es ist ja gar keine Veranlassung für mich, das zu wissen, was der erst abliest. [...] Ich bin noch so jung und soll schon wissen, was er, der soviel älter ist, selber nicht weiß und mir vorlesen muß! [...] (S. 105f).

Neunter Vortrag, 11.10.1922

[...] Ebensowenig, wie man vor dem siebenten Jahre die zweiten Zähne kriegen kann, kann man vor dem achtzehnten Jahre wirklich etwas wissen von solchen Lebenszusammenhängen, die über die eigene Nasenlänge hinaus­liegen, von Dingen vor allem, für die ein aktives Urteil notwendig ist. Vorher kann man etwas gehört haben, auf Autorität hin etwas glauben, aber wissen kann man nichts darüber. Man kann nicht vor dem achtzehnten Jahre jene innere Tätigkeit der Seele entfalten, welche notwendig ist, um sagen zu können: Ich weiß über dieses oder jenes etwas, was nicht im Gebiete des mit den Augen oder Ohren zu Erreichenden liegt. [...] (S. 130).

Wenn wir in jene alten Zeiten zurückgehen, die vor dem ersten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts liegen, so hätte es da so etwas wie die heutige Jugendbewegung nicht geben können. [...] Unter den älteren Leuten, namentlich wenn diese Erzieher oder Unterrichter waren, wußte man dazu­mal ganz genau: zum Wissen heranziehen kann man die Jugend nicht. Man muß sich die Möglichkeit erwerben, die Jugend zum Glauben an dasjenige heranzuziehen, was man selber nach seinem Wissen für wahr hält. Und das war einem etwas Heiliges, die Jugend zum Glauben heranzuziehen. [...] Man hätte sich den Vorwurf gemacht, seine heiligste Menschenpflicht zu versäumen, wenn man es als Lehrer oder als Erzieher nicht dahin gebracht hätte, daß die Jugend aus der Frische und Überzeugungskraft der Menschen­natur heraus an einen glaubt und so die Wahrheit übernimmt. Diese Gefühlsnuance lag in aller Erziehung, in allem Unterricht. [...] (S. 130f).

Den Anspruch, von der Jugend ernst genommen zu werden, erwarb man sich aber nicht dadurch, daß man ihr ein Wissen überlieferte. Heute können wir schwer einen Sinn mit dem Satz verbinden: "Man will der Jugend kein Wissen überliefern." Aber dazumal war es fast selbstverständlich, daß man die Jugend erst anschauen, empfinden ließ, daß man selbst etwas kann, bevor man ihr ein Wissen überlieferte. Erst von einem gewissen Alter an sagte man der Jugend, was man wußte. Zuerst zeigte man ihr, was man kann, und so war der Inhalt des Unterrichts zunächst die Dreiheit von Grammatik, Dialektik und Rhetorik. Das waren keine Wissenschaften. Zu dem Ungeheuer von Pseudowissenschaft, zu dem es die Grammatik im Laufe der Zeit gebracht hat, ist sie erst später geworden. In jenen alten Zeiten war die Grammatik nicht das, was sie heute ist, sondern sie war die Kunst, Gedanken und Worte zu verbinden, zu trennen und so weiter. Grammatikunterricht war in gewissem Sinne ein künstlerischer Unterricht, und erst recht war das der Fall bei der Kunst der Dialektik und der Rhetorik. Alles war darauf berechnet, an die Jugend zunächst so heranzukommen, daß sie empfinden mußte: Man kann etwas; man kann sprechen und denken und Schönheit walten lassen im Sprechen. – Grammatik, Dialektik und Rhetorik, das war ein Unterricht im Können und zwar in einem solchen Können, das sich eng anschloß an die mensch­liche Regsamkeit des Unterrichtenden und Erziehenden. [...] (S. 132).

Wie müssen diese Dinge sein, wenn in der Menschenordnung die Bewußt­seinsseele der Bewußtseinsseele gegenübersteht? [...] (S. 134).

Das „Wissenaneignen“ war bis zum achtzehnten, neunzehnten Jahre ein Provisorium, weil man vor dieser Altersstufe eigentlich überhaupt nichts wissen kann. Aber kein Lehrer kann irgendeinem Jungen oder Mädchen in Wahrheit ein Wissen überliefern, wenn nicht in diesem jungen Menschen die empfindende Überzeugung gereift ist: Der kann etwas. Es ist einfach der Menschheit gegen­über ein unverantwortliches Beginnen, als Pädagoge anders wirken zu wollen als dadurch, daß die Jugend zuerst die selbstverständliche Meinung bekommt: Der kann etwas.

Bevor man als junger Mensch an die Arithmetik kam, wie sie damals aufgefaßt wurde – sie war nicht jenes stroherne abstrakte Zeug wie heute –, war man sich klar darüber, daß diejenigen, die einen in die Arithmetik einführen, reden und denken können. Man war sich auch klar darüber, daß sie über Beredsamkeit ver­fügen. Das war ein Grund, um sich als junger Mensch an dem älteren hinaufzuranken, wenn man das alles aus der eigenen Emp­findung heraus wußte. Wenn man.bloß weiß, er hat ein Diplom, dann geht die Geschichte, die da begründet werden soll, schon manchmal mit dem zehnten Jahre kaputt. Die Frage, die dazumal lebendig unter den Leuten lebte, muß wiederum lebendig werden. [...] (S. 135).

Da ist es so, daß wir den Übergang finden müssen zwischen der Zeit der selbstverständlichen Nachahmung, welche das Kind vor dem Zahnwechsel einfach aus seiner Natur heraus übt, und der Zeit, wo wir zunächst auf Treu und Glauben hin, später auf das eigene Urteil rechnend, den Menschen Wissen beibringen können. Aber da ist eine Zwischenzeit, und diese Zwischenzeit ist für die heutige Jugend ungeheuer kritisch. Für diese Zwischenzeit muß das wichtigste Weltproblem gelöst werden, von dem Fort­schritt, Rückschritt oder sogar Niedergang der menschlichen Ent­wickelung in der Zukunft abhängt: Was haben die Älteren mit den Jüngeren zu tun zwischen den Jahren, wo nachgeahmt wird, und den Jahren, wo das Wissen überliefert werden kann? Diese Frage ist eine der wichtigsten Kulturfragen der Gegenwart. Und was war denn die Jugendbewegung, insofern sie ernst zu nehmen ist? Sie war das Lechzen nach einer Antwort auf diese Frage. [...] (S. 135f).

Wer heute in das Leben hineinschaut, der findet: Damit die Menschheit nicht verkümmere, muß die Zeit zwischen dem Nachahmungsalter und dem Alter, wo der Mensch die Erkenntnis in der Form der Wahr­licit übernehmen kann, ausgefüllt werden dadurch, daß dem Menschen das, was er für Kopf, Herz und Willen haben muß, in künstlerischer Schönheit überliefert wird. Aus einer alten Kulturordnung war die Siebenheit von Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik als etwas Künstlerisches herausgewachsen. Heute brauchen wir auch ein Künstlerisches, nur muß es gemäß den Forderungen der Bewußtseinsseele nicht in dieser Weise spezialisiert sein, daß sieben freie Künste walten. Es muß für das Volksschulalter und noch lange über das Volksschulalter hinaus – solange es sich überhaupt um Erziehung und Unterricht handelt – der ganze Unterricht durchfeuert und durchglüht sein von dem künstleri­schen Elemente. Die Schönheit muß für das Volksschulalter und für das spätere Alter des Menschen walten, die Schönheit als die Dolmetscherin der Wahrheit. (S. 136).

Diejenigen, die nicht gelernt haben, durch die Schönheit sich die Wahrheit zu erobern, werden niemals ein Vollmenschliches in sich aufnehmen, das sie wappnet gegenüber den Anforderun­gen des Lebens. Die deutschen Klassiker haben das vorausgeahnt, wenn auch nicht in voller Tragweite betont. Aber sie haben damit kein Verständnis gefunden. Sehen Sie doch, wie Goethe die Wahr­heit durch die Schönheit sucht. Hören Sie, wie Goethe sagt: Die Kunst ist eine Manifestation geheimer Naturkräfte, – was ja nichts anderes besagen will, als daß man durch die künstlerische Erfas­sung der Welt erst zu der lebendigen Wahrheit gelangt, während man sonst nur zur toten Wahrheit kommt. Und Schillers schönes Wort lautet: Nur durch das Morgentor des Schönen dringst du in der Erkenntnis Land! – Bevor nicht der Sinn dieses Weges: durch das Künstlerische, durch das Artistische in das Wahrheitsgebiet hineinzugehen, im allertiefsten Sinne durchdrungen wird, kann auch nicht die Rede sein davon, daß die Menschheit sich ein wirkliches Verständnis für die übersinnliche Welt im Sinne des Zeitalters der Bewußtseinsseele aneigne. [...] (S. 137).

[S]elbst wenn ich annehmen würde, daß diese Wissenschaftlich­keit den höchsten Gipfel erreicht hätte, den sie erreichen kann, so würde man damit doch nur den physischen Menschenleib begrei­fen können, gar nichts jedoch von dem ätherischen Leibe. Nicht, als ob ich behaupten wollte, daß die Erkenntnis des ätherischen Leibes auf einer Phantasterei beruhe. Das ist nicht der Fall. Sie ist eine wirkliche Erkenntnis. Aber die Anregung, überhaupt ein Auge zu bekommen für dieses, ich möchte sagen, untergeordnet­ste unter den übersinnlichen Gliedern der Menschennatur, die kann nur aus dem artistischen Seelenerlebnis herauf kommen. Dazu gehört eben einfach künstlerisches Seelenblut.

Daher können Sie sich auch vorstellen, daß, je mehr man in unserer objektiven Wissenschaft mit Sorgfalt alles vermeiden will, was künstlerisch ist, diese Wissenschaft den Menschen immer mehr davon abbringt, sich selbst, nämlich den Menschen, kennenzulernen. Es ist ungeheuer viel, was wir durch die Mikro­skope und durch andere Apparate erfahren haben. Aber dadurch kommen wir dem Ätherleibe niemals näher, sondern nur ferner. [...] (S. 138f).

Die Pflanze schert sich nicht darum, daß sie nicht jenes Laboratoriumspro­dukt ist, zu dem sie die moderne Naturwissenschaft macht. Sie wächst deshalb doch unter dem Einfluß der ätherischen Kraft des Weltalls und beschränkt sich nicht auf das, was Physik und Chemie als Kräfte voraussetzen. Aber wenn wir als Mensch dem Menschen gegenüberstehen, dann hängt unser Gefühl, unser Vertrauen, unsere Pietät, kurz alles, was in unserem Gemüte ist und im Zeitalter der Bewußtseinsseele selbstverständlich über das bloß Instinktive hinausgeht [...] davon ab, daß wir eine Erziehung bekommen, die uns hinschauen läßt auf etwas, was nicht bloß physischer Menschenleib ist.

Wenn uns die Erzieher davon abbringen, eine Einsicht in das zu bekommen, was der Mensch ist, so können wir nicht verlan­gen, daß im Gemüte die Kräfte heranwachsen, die den Menschen in der richtigen Weise dem Menschen gegenüberstellen. [...] (S. 139).

Zehnter Vortrag, 12.10.1922

[...] In der Blütezeit des Griechentums empfand der Mensch noch ganz lebendig den Umschwung des Lebens in der Mitte der dreißiger Jahre. Da wußte man noch den Unterschied zwischen Leiblichem und Geistigem anzugeben, indem man sich sagte: Wenn man dreißig Jahre alt ist, geht es mit dem Physischen abwärts, aber das Geistige sprießt dann erst recht hervor. [...] (S. 145).

Wer sich selbst beobachtet, kann diesen siebenjährigen Umschwung erkennen. Die Länge ist nicht pedantisch genau, aber approximativ. Wer zurückschaut auf die Zeit seines neun­undvierzigsten, zweiundvierzigsten, fünfunddreißigsten Jahres, der kann ganz gut wissen: dazumal ist mit dir etwas vorgegangen, wodurch du etwas erfahren oder empfinden gelernt hast, was du vorher aus deiner Natur heraus einfach nicht hättest erreichen können, geradesowenig, wie du mit den zweiten Zähnen hättest beißen können, bevor du sie gehabt hast. – Die Fähigkeit, das Menschenleben als etwas Konkretes zu erleben, ist im Verlauf der Menschheitsentwickelung verlorengegangen. Und wenn man sich heute nicht innerlich trainiert, um das an sich zu beobachten, so verwischen sich diese Epochen vom dreißigsten Jahre an vollständig. Im Beginne der zwanziger, auch noch am Ende der zwanziger Jahre, hier jedoch schon weniger, ist noch etwas zu bemerken von einem innerlichen Anderswerden. Aber die menschliche Organisation ist heute so geworden, daß der Mensch von seiner natürlichen Entwickelung eigentlich nur bis zu sei­nem sechsundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten Jahre getragen wird, und diese Grenze wird immer mehr nach unten verschoben werden. Die Menschen waren in früheren Zeiten dadurch unfrei in ihrer Organisation, daß sie prädestiniert waren, dies aus ihrer Natur heraus durchzumachen. Freiheit ist nur dadurch möglich geworden, daß diese Naturbestimmtheit aufgehoben wurde. In dem Maße, in dem sie aufhört, wird Freiheit möglich. Der Mensch muß durch seine eigene innere Anstrengung dahin kommen, das Geistige zu finden, während dieses früher, von Jahr zu Jahr, je älter man wurde, naturgemäß hervorsproß.

So stehen wir heute vor der Situation, daß aus all den Grün­den, die ich in den letzten Tagen auseinandergesetzt habe, von den älteren Leuten das nicht mehr betont wurde, was sie einfach durch ihr Ältersein geworden sind. Man blieb stehen bei jenem Intellektualismus, der ungefähr zwischen dem achtzehnten, neunzehnten Jahre schon so weit entwickelt ist, daß man von da ab intellektualistisch wissen kann. Aber in bezug auf das Intellek­tualistische kann man höchstens zu größerer Übung, nicht aber zu einem qualitativen Fortschritt kommen. [...] (S. 146f).

Denn was man intellektualistisch kann im sechzigsten Lebensjahre, das kann man auch schon im neunzehnten. [...] Wenn der Mensch heute nicht aus innerer Aktivität heraus eine Entwic­kelung anstrebt und diese Entwickelung wach erhält, so rostet er mit dem bloßen Intellektualismus von den zwanziger Jahren an ein. Dann erhält er sich nur noch künstlich durch Anregungen von außen. Wenn die Sache nicht so wäre, glauben Sie, daß die Leute so viel ins Kino laufen würden? Diese Sehnsucht nach dem Kino, überhaupt diese Sehnsucht, alles auf eine äußerliche Weise zu sehen, beruht ja darauf, daß der Mensch innerlich inaktiv, untätig geworden ist, daß er gar keine innere Aktivität will. [...] (S. 147).

Der Mensch kann nur in innerer Aktivität leben. Etwas Geisteswissenschaftliches vorbringen heißt, den Menschen einladen, seelisch mitzuarbeiten. Das wollen die Menschen heute nicht. Alle Geisteswissenschaft muß zu einer solchen inneren Aktivität einladen, das heißt, sie muß alle Betrachtungen bis zu dem Punkte hinführen, wo man keine Anhaltspunkte mehr hat an dem äußerlich-sinnlichen Anschauen und sich das innere Kräftespiel frei bewegen muß. Erst wenn das Denken sich frei im inneren Kräftespiel bewegen kann, kann man zur Imagination kommen, nicht vorher. Die Grundlage für alle anthroposophische Geisteswissenschaft ist also die innere Akti­vität, das Aufrufen zu innerer Aktivität, das Appellieren an das im Menschen, was noch tätig sein kann, wenn alle Sinne schweigen, und nur die Denktätigkeit dann in Regsamkeit ist. [...] (S. 148).

Nehmen Sie also an, Sie könnten Gedanken im reinen Gedankenflusse haben. Dann beginnt für Sie der Moment, wo Sie das Denken bis zu einem Punkte geführt haben, an dem es gar nicht mehr Denken genannt zu werden braucht. Es ist im Handumdrehen – sagen wir im Denkumdrehen – etwas anderes geworden. Es ist nämlich dieses mit Recht "reines Denken" genannte Denken reiner Wille geworden; es ist durch und durch Wollen. Sind Sie im Seelischen so weit gekommen, daß Sie das Denken befreit haben von der äußeren Anschauung, dann ist es damit zugleich reiner Wille geworden. Sie schweben, wenn ich so sagen darf, mit Ihrem Seelischen im reinen Gedankenverlauf. Dieser reine Gedankenverlauf ist ein Willensverlauf. Damit aber beginnt das reine Denken, ja sogar die Anstrengung nach seiner Ausübung, nicht nur eine Denkübung zu sein, sondern eine Wil­lensübung, und zwar eine solche, die bis in das Zentrum des Men­schen eingreift. [...] Und wenn Sie mit innerlichem Anteile so etwas studieren, was mit allen Unvollkommenheiten in die Welt getreten ist – ich will nicht meine "Philosophie der Freiheit" verteidigen –, wenn Sie so etwas auf sich wirken lassen und fühlen, was dieses reine Denken ist, so fühlen Sie, daß ein neuer innerer Mensch in Ihnen geboren ist, der aus dem Geiste heraus Willensentfaltung bringen kann. [...] (S. 148f).

Denn diese "Philosophie der Freiheit" kann nicht so gelesen werden, wie sonst Bücher gelesen werden. Sie muß schon so gelesen werden, daß man das Gefühl hat, sie ist ein Organismus: ein Glied entwickelt sich aus dem anderen und man gerät damit in etwas Lebendiges hinein. [...] In dem Augen­blick, wo das reine Denken als Wille erlebt wird, ist der Mensch in künstlerischer Verfassung. Und diese künstlerische Verfassung ist es auch, die der heutige Pädagoge braucht, um die Jugend zu leiten vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, oder sogar dar­über hinaus. Es ist dies die Stimmung, die man hat, wenn man aus dem Innerlich-Seelischen heraus zu einem zweiten Menschen gekommen ist, der nicht so erkannt werden kann wie der äußere physische Leib, den man physiologisch oder anatomisch studie­ren kann, sondern der erlebt werden muß, daher er mit Recht "Lebensleib" oder "Ätherleib" genannt werden kann, wenn man die Ausdrücke nur nicht wieder im alten Sprachgebrauche nimmt. Dieser Lebensleib kann nicht äußerlich angeschaut werden. Er muß innerlich erlebt werden; es muß, um ihn zu erkennen, eine Art künstlerischer Tätigkeit entfaltet werden. [...] Erst aus dieser freien Betätigung aber kann man die Pädagogik als Kunst erleben, und der Lehrer kann dadurch zum pädagogischen Künstler werden, daß er sich in diese Stimmung hineinfindet. [...] Und innerhalb dieser künstlerischen Atmosphäre kann sich jenes Verhältnis des Geführten zum Führenden ausbilden, das ein Anlehnen, ein Hinneigen ist, weil man weiß: Der kann etwas, was er einem künstlerisch zeigen kann, und was er kann das fühlt man möchte man auch können. [...] (S. 149ff).

Zwischen dem neunten und zehnten Jahre lebt in der Seele eines jeden Menschen [...] ein unbestimmtes Gefühl. [...] Bis dahin hat das, was man Astralleib nennt, im Menschen allein sein Seelenleben besorgt. Von da ab regt sich die Ichkraftnatur im Menschen. Dieses Sichregen der Ichkraftnatur im Menschen lebt nicht in Begriffen formuliert; aber in der Empfindung, tief unbewußt in der Seele, lebt sich eine Frage in das Gemüt des heranwachsenden Menschen ein. Sie lautet bei dem einen so und bei dem anderen anders. In einen Begriff gefaßt, würde sie vielleicht so lauten: Bisher hat der astralische Leib an die anderen Menschen geglaubt; jetzt brauche ich irgend etwas, was mir einer sagt, so daß ich an ihn oder meh­rere in meiner Umgebung glauben kann. Diejenigen, die sich als Kinder am meisten gegen so etwas auflehnen, die brauchen es am allermeisten. Zwischen dem neunten und zehnten Jahre beginnt man, darauf angewiesen zu sein, sein Ich durch den Glauben an einen älteren Menschen befestigen zu können. [...] (S. 173).

Und wehe, wenn nichts von seiten eines Älteren geschieht, um diese Frage, die sich bei manchen Kindern bis zum sechzehnten, siebzehnten Jahre, ja bei manchen sogar bis zu dem achtzehnten, neunzehnten Jahr erhalten kann, in richtiger Weise zu beant­worten, damit der junge sich sagen kann: Ich bin dankbar dafür, daß ich von dem Alten habe erfahren können, was nur von ihm erfahren werden kann. Was er mir sagen kann, kann nur er mir sagen, denn wenn ich es in meinem Alter erfahren werde, wird es schon anders sein. [...] (S. 153f).

Elfter Vortrag, 13.10.1922

[...] Wenn man den Men­schen mit abstraktem wissenschaftlichem Inhalt erziehen will, so erlebt er nichts von Ihrer Seele. Von Ihrer Seele erlebt er nur dann etwas, wenn Sie ihm künstlerisch entgegentreten, denn im Künstlerischen muß jeder individuell sein, im Künstlerischen ist jeder ein anderer. [...] Durch das Künstlerische kann daher auch ein individuelles Verhältnis des Kindes zu dem sich regenden und betätigenden Menschen zustandekommen, und das ist notwendig. [...] (S. 160).

Da muß der ganze Unterricht von Kunst, von menschlicher Individualität durchdrungen sein, und mehr als alles ausgedachte Programma­tische bedeutet eben die Individualität des Unterrichtenden und Erziehenden. Diese ist es, die in der Schule wirken muß.

Was bildet sich da eigentlich zwischen dem Führenden und dem Geführten, wenn wir die Zeit ins Auge fassen zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife, was bindet da die beiden aneinander? Lediglich dasjenige bindet die beiden aneinander, was der Mensch aus übersinnlichen geistigen Welten, aus sei­nem vorirdischen Dasein in das irdische mitbringt. [...] Der Kopf begreift nichts von demjenigen im anderen Menschen, was aus dessen vorirdischem Dasein stammt. In jener besonderen menschlichen Nuance jedoch, die der künstlerische Einschlag der menschlichen Seele gibt, west und webt dasjenige, was der Mensch aus dem vorirdischen Dasein heruntergebracht hat, und das Kind ist ganz besonders zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife dazu veranlagt, in seinem Herzen das zu empfinden, was ihm im Lehrer als aus diesem vorirdischen Dasein stammend gegenüber­steht. [...] (S. 160f).

Aber wir leben eben im Zeitalter der Bewußtseinsseele. Der erste Reichtum, den wir in diesem Zeitalter für unsere Seelen erwerben, besteht in intellektuellen Begriffen, besteht eigentlich in Abstraktionen. [...] Daher müssen wir aus diesem Denken durch die Entwickelung, die ich gestern ange­deutet habe, heraus, indem wir das Denken ganz reinigen und es zum Willen machen, zum Willen gestalten. Wir müssen uns dazu durchringen, unsere Individualität immer kräftiger zu machen, und das erreichen wir nur, wenn wir uns zu diesem reinen Den­ken durcharbeiten. Ich sage das nicht aus einer eitlen Albernheit heraus, sondern weil mir das so erscheint. Wer sich zu einem solchen reinen Denken durcharbeitet, wie ich es in meiner "Phi­losophie der Freiheit" angedeutet habe, wird finden, daß man es da ganz und gar nicht bringt zu einem Haben von einigen Begrif­fen, die ein philosophisches System ausmachen, sondern daß es sich um ein Ergreifen der menschlichen Individualität und ihres vorirdischen Daseins handelt. [...] (S. 161).

Es ist wirklich das Hereinziehen des vorirdischen Daseins in das Leben des Menschen, was dadurch bewirkt werden kann, und so ist es die Vorbereitung zu dem Berufe des Lehrers, des Unterrichters, des Erziehers. Wir können nicht durch Studium Erzieher werden. Wir können andere zum Erzieher nicht dressieren, schon aus dem Grunde nicht, weil jeder von uns einer ist. In jedem Menschen ist ein Erzieher; aber dieser Erzieher schläft, er muß aufgeweckt werden, und das Künstlerische ist das Mittel zum Auf­wecken. Wenn das entwickelt wird, bringt es den Erziehenden als Menschen denjenigen näher, die er führen will. [...] (S. 162).

So können wir also als Erzieher durchaus in die Lage kommen, etwas heranziehen zu müssen, was uns überragt, und es ist unmög­lich, die Schulen mit genügend Lehrern zu versorgen, wenn man nicht auf dem Standpunkt steht, daß es nichts macht, wenn der Lehrer nicht so gescheit ist, wie es der Schüler einmal sein wird. Er wird gleichwohl ein guter Lehrer sein können, weil es nicht auf die Übermittlung von Wissen ankommt, sondern auf die Indivi­dualität, auf das Lebendigmachen des vorirdischen Daseins. Dann erzieht sich eigentlich das Kind selber an uns, und das ist auch richtig; denn in Wirklichkeit sind nicht wir es, die erziehen. Wir stören nur die Erziehung, wenn wir unmittelbar zu stark in sie eingreifen. Wir erziehen, indem wir uns so benehmen, daß durch unser Benehmen das Kind sich selber erziehen kann. Wir schicken das Kind in die Volksschule, damit wir die störenden Dinge weg­schaffen. Der Lehrer soll dafür sorgen, daß das Kind wegkommt von den Umständen, unter denen es sich nicht entwickeln kann. Deshalb müssen wir uns klar sein: hineinpfropfen können wir in den Menschen nichts durch Unterricht und Erziehung. Aber wir können uns so verhalten, daß der Mensch dazu kommt, als Aufwachsender die in ihm vorhandenen Anlagen hervorzuholen. Das können wir aber nicht durch das, was wir wissen, sondern nur durch das, was auf künstlerische Art in uns regsam ist. [...] (S. 163).

Es handelt sich also darum, daß die seelische Konfiguration des Menschen das Wesentliche des pädagogischen Wirkens, des Unterrichtens und Erziehens für das Lebensalter des Kindes vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ausmacht. Nachher tritt der Mensch in ein Lebensalter ein, wo gerade im Zeitalter der Bewußtseinsseele noch tiefere Kräfte aus der Menschennatur heraufwirken müssen, wenn die Menschen etwas aufeinander geben sollen. [...] Vor der Geschlechtsreife ist es vorzüglich das Erleben des Vorirdischen. Durch jede Handbewegung, jeden Blick, durch die Betonung der Worte schimmert es hindurch. Im Grunde ist es das Timbre, das durch Geste, Worte, Gedanke des Erziehers zu dem Kinde hindurchwirkt, und was von dem Kinde gesucht wird. (S. 164).

Und wenn wir nun als erwachsene Menschen – so erwach­sen, daß wir das fünfzehnte, sechzehnte Jahr erreicht haben oder darüber hinaus sind in das Unbegrenzte – andern Menschen gegenübertreten, so ist die Sache noch komplizierter. Dann hüllt sich dasjenige, was in einem Menschen andere abstößt oder anzieht, wirklich in ein für die abstrakte Begriffswelt undurch­dringliches Dunkel. Erforscht man aber mit Hilfe anthroposo­phischer Geisteswissenschaft, was das eigentlich ist, was man da in fünf Minuten erleben kann und in fünfzig Jahren nicht zu beschreiben vermag, dann ist es das, was aus dem früheren oder einer Reihe von früheren Erdenleben in das gegenwärtige Leben der Seele hineinragt und was in den Seelen ausgetauscht wird. [...] Da wirkt nicht nur das vorirdische Dasein, sondern alles, was der Mensch schicksalsmäßig in den aufeinanderfolgenden Erdenleben jemals durchgemacht hat. [...] (S. 164f).

Die Menschen gehen aneinander vorbei, weil sie sich nur mit den Köpfen oder, sagen wir, mit den Augen anguc­ken – ich will nicht sagen, weil sie sich die Köpfe einschlagen. Die Menschen gehen aneinander vorbei, weil von Mensch zu Mensch nur dasjenige wirken kann, was aus den wiederholten Erdenleben herüberspielt, die heutige Kultur aber nichts tut, um einen Sinn für dieses Herüberspielende zu entwickeln. Das muß in unsere Erziehung, in unseren Unterricht aufgenommen werden: daß wir als erwachsene Menschen den Sinn haben, jenes Tiefere im Menschen zu erfühlen, zu empfinden, was aus früheren Erdenleben herüberspielt. Das wird nicht erreicht, wenn wir in die Erzie­hung nicht einbeziehen lernen das ganze menschliche Leben, so wie es sich auf der Erde abspielt. [...] (S. 165).

Es ist herzzerbrechend, wenn ein Kind so erzogen wird, daß es einen Begriff definieren und ihn dann in einer Definition besitzen soll. Das ist wirklich, wie wenn man seine Glieder in einen Apparat einschnüren wollte. Das Kind muß wachstums­fähige Bilder bekommen, die ganz etwas anderes werden nach zehn bis zwanzig Jahren. Nur wenn man ihm solche wachs­tumsfähigen Bilder überliefert, regt man es an, sich empfindend einzuleben in das, was in den Tiefen einer anderen menschlichen Individualität oft verborgen ist. Sie sehen, wie kompliziert die Zusammenhänge sind: Wir lernen zu den Menschen ein tieferes Verhältnis dadurch gewinnen, daß uns in der Jugend das seeli­sche Wachsen möglich gemacht wird. (S. 166f).

Was heißt denn: den anderen Menschen erleben? Einen ande­ren Menschen kann man nicht erleben mit toten Begriffen. Man kann einen anderen Menschen nur begreifen, wenn man ihm gegenübertritt und einem dies zum Erlebnis wird, was einen selber ­innerlich ergreift. Dazu braucht man aber innere Regsamkeit. Heute gehen die Menschen durch Frühstücke, Diners zu Tees, ohne viel über einander zu wissen. Über sich selber wissen die heutigen Menschen allerdings verhältnismäßig noch am meisten. Aber wie richten sie ihre Erfahrungen instinktiv ein? Wie urteilen sie über die vielen Menschen, die sie bei Frühstücken oder Diners finden? Sie urteilen höchstens so: Ist er so wie ich selber, oder ist er etwas anderes? – Und wenn man glaubt, er ist so wie man selber, dann ist der andere ein rechter Kerl. Ist er aber nicht so, wie man selber ist, dann ist er kein rechter Kerl, dann beschäftigt man sich nicht mit ihm. [...] Aber eigentlich findet man auf diese Art keinen anderen Menschen, sondern immer nur sich selber. Man sieht sich in jedem anderen Menschen. Für viele Menschen ist das noch ganz gut, denn wenn sie jemandem entgegentreten würden, der für sie zwar nicht vollständig, aber bis zu einem gewissen Grade ein richtiger Kerl ist, und sie würden ihn erfassen, so würde das ein so starkes Erleben sein, daß es ihren eigenen Menschen ganz übertönen würde. Beim zweiten würde ihr Ich noch mehr übertönt, und beim dritten und vierten kämen sie schon gar nicht mehr heran, da hätten sie sich schon verloren. Es wird eben zu wenig innere Stärke und Aktivität, zu wenig Kern, zu wenig Individualität entwickelt, so daß die Men­schen aus Furcht, sich selber zu verlieren, den anderen Menschen nicht erleben mögen. Und so gehen sie aneinander vorüber. (S. 167f).

Zwölfter Vortrag, 14.10.1922

[...] Keiner bezeichnet den Einschnitt, den die Menschheitsentwickelung in unserer Zeit erlebt, der nicht darauf hinweist, daß in diesem Verkehr von Ich zu Ich in hüllenloser Art etwas völlig Neues eintrat in die menschliche Entwickelung, allerdings langsam. [...] In unserer Zeit geht die Menschheit über von einem hüllenhaften Erleben des anderen Menschen zu einem wirklichen Erleben des Ich des anderen Menschen. Und das ist die Schwierigkeit des menschlichen Seelenlebens, daß wir uns in dieses ganz neue Verhältnis von Mensch zu Mensch hineinleben müssen. [...]

Versuchen Sie nur, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie noch im Mittelalter viel Elementares war in der Art und Weise, wie ein Mensch den andern empfunden hat. Versetzen wir uns in eine mittelalterliche Stadt. Ein Mensch, sagen wir ein Schlosser, begegnet auf der Straße einem Ratsherrn. Das, was da erlebt wurde, erschöpft sich nicht darin, daß der Betreffende wußte, der andere ist Ratsherr. Nicht einmal darin erschöpft es sich, daß er wußte: Den haben wir gewählt. – Allerdings waren ja Zusammenschlüsse vorhanden, die den Menschen auch eine Vignette aufdrückten. Man gehörte der Schneiderinnung, der Schlosserzunft an; aber das wurde noch in einer mehr instinktiven Weise erlebt. Und wenn man als Schlosser einem Ratsherrn entgegenkam, so wusste man, auch ohne daß man es im Adreßbuch gesehen hatte: Das ist ein Ratsherr! – Man brauchte es nicht aus Papieren oder aus der Zeitung zu wissen; er ging anders, er schaute anders, er trug den Kopf anders. Man erlebte noch den anderen, aber man erlebte ihn eben durch die Hüllen.

Im Sinne der neuzeitlichen Menschheitsentwickelung ist es nunmehr dazu gekommen, daß wir den Menschen hüllenlos erleben müssen. Das ist nach und nach heraufgekommen. Davor erschrickt in einem gewissen Sinne die Menschheit. Und wenn wir eine Kulturpsychologie hätten, so würde für die letzten Jahrhunderte in dieser Kulturpsychologie vor allen Dingen dieses Erschrecken der Menschheit verzeichnet sein: den Menschen hüllenlos als Ich neben sich haben zu müssen. [...] (S. 176f).

Man hat lernen müssen und muß lernen, den Menschen hüllenlos als eine Ich-Wesenheit zu sehen. Davor erschrickt man, denn alles, was ich als die Hüllen bezeichnet habe, in denen man noch einen Ratsherrn hat herankommen sehen, konnte man jetzt nicht mehr empfinden. [...]

Es war also eine Art Erschrecken da, und dagegen hat man sich abgestumpft durch dieses intellektualistische Gespinst, das ich Ihnen gestern geschildert habe, das sich um uns herum ausdehnt, in dem jeder darinnen ist. [...]

Das ist der große Übergang zu der neueren Zeit, daß Mensch und Mensch sich ihrer inneren Anlage gemäß, gemäß dem, was die Seele fordert, hüllenlos gegenüberstehen, daß aber noch nicht die Fähigkeiten erworben sind zu einem solchen hüllenlosen Sichgegenüberstehen. Vor allen Dingen haben wir uns noch nicht die Möglichkeit erworben, ein Verhältnis zu gewinnen zwischen Ich und Ich. Das aber muß durch die Erziehung vorbereitet werden. Daher ist die Erziehungsfrage eine so brenzlige, eine so wichtige Frage. (S. 178f).

Richtig in der Erziehung werden wir erst wirken, wenn wir uns ein gewisses Schamgefühl aneignen werden, wenn wir uns schämen werden, über Erziehung überhaupt zu reden. Es ist eine verblüffende Sache, aber es ist so: Das heutige Reden über Erziehung wird einmal von einer künftigen Menschheit als schamlos angesehen werden. Heute redet jeder über Erziehung und über das, was er da für das Richtige hält. Aber Erziehung ist nicht etwas, was sich so in Begriffe fassen läßt, ist nicht etwas, dem man mit Theoretisieren beikommt. Erziehung ist etwas, in das man hineinwächst, indem man älter wird und jüngeren Leuten gegenübersteht. Und erst dann, wenn man älter geworden ist und jüngeren Leuten gegenübersteht, und durch dieses Faktum, daß man jüngeren Leuten gegenübersteht, und weil man selbst einmal jung war, an das Ich herankommt, dadurch wird die Erziehung zu einer Selbstverständlichkeit. [...] (S. 179f).

Daher ist dasjenige, was ich selbst über Erziehung gesprochen und geschrieben habe und alles, was mit dem praktischen Versuch in der Waldorfschule zusammenhängt, nur darauf berechnet, möglichst viel über Charakteristik des Menschen zu sagen, den Menschen kennenzu­lernen, aber nicht Anweisungen zugeben: Dies sollst du so machen, das sollst du so machen. – Menschenerkenntnis, das ist es, was man eigentlich anstreben sollte, und das übrige – wenn ich mich eines religiösen Ausdrucks bedienen darf – Gott überlassen. Richtige Menschenkenntnis macht den Menschen schon zum Erzieher, denn eigentlich sollte man das Gefühl bekommen, daß man sich schämen sollte, über Erziehung zu reden. [...] (S. 180).

Die Sache ist viel wichtiger als man meint! Der Junge oder das Mädchen, die den Lehrer in die Klasse kommen sehen, dürfen nicht das Gefühl haben: Der erzieht nach theoretischen Grund­sätzen, weil er das Unterbewußte nicht begreift. Sie wollen ein menschliches Verhältnis zu dem Lehrer haben. Das wird aber gestört, wenn Erziehungsgrundsätze vorhanden sind. [...] (S. 181).

Dreizehnter Vortrag, 15.10.1922

[...] Dem Menschen irgend etwas von außen her zu überliefern, was wissenschaftlich feststeht, was an der Natur verifiziert ist, ist heute ein Ideal, nach dem man hin­lebt. Aber Begriffe, Ideen, die aus dem Innern der Seele auftau­chen, die haben ja, wie aus meiner Auseinandersetzung hervorgeht, das Eigentümliche, daß sie, indem sie aus dem inneren Seelischen sich herausringen, als Begriffe dann sterben. Und der Mensch fühlt es als richtig, daß seine Begriffe, insofern sie aus seinem Inneren heraus geboren werden, ersterben. Aber das Eigentümliche, was geschehen ist seit einigen Jahrhunderten und eben im neunzehnten Jahrhundert seine Kulmination hatte, war, daß die im Innern ersterbenden Begriffe sich an der Außenwelt wieder belebten. Wir können das wirklich an einer historischen Erscheinung nach­weisen. Denken Sie einmal, wie Goethe sich aus seinem Inneren heraus eine ganze Entwickelungsanschauung gebildet hat, die in seinen Metamorphose-Begriffen gipfelt. Man hat das Gefühl, daß man sich aus dem Lebendigen herausarbeitet in das Tote, daß das aber so sein muß, weil das Lebendige Zwang ist. Freiheit konnte erst entstehen, nachdem die Begriffe zum Toten hin gekommen waren. (S. 185).

Aber gleichzeitig haben sich diese Begriffe wieder an der äuße­ren Natur belebt: Indem so etwas wie der Darwinismus – auch in unserer mitteleuropäischen Zivilisation – an die Stelle des Goetheschen Entwickelungsgedankens tritt, haben wir Begriffe, Ideen, die an der äußeren Natur wieder Leben gewinnen. Das ist aber ein Leben, das den Menschen verschlingt! Das muß man in seiner ganzen Intensität fühlen, wie wir heute von einem Denken umgeben sind, das sich mit der Natur verbun­den, von der Natur Lebenskraft gewonnen hat, das aber den Men­schen verschlingt. Wie verschlingt? Nun, mit alledem, was gerade die vorgerückteste Denkweise an Ideen aus der Natur herausholt, können wir niemals den Menschen begreifen. Was gibt uns unsere großartige Entwickelungslehre? Sie zeigt uns, wie Tiere aus Tieren sich entwickeln. Dann steht der Mensch vor uns, aber doch nur als Schlußpunkt der Tierreihe und nicht, wie er als Mensch ist. [...]

Wenn wir uns in unserer Seele erfüllen mit dem, was unser Denken an der Natur geworden ist, dann erscheint uns in dem Bilde des den Menschen verschlin­genden Drachens dasjenige, was heute gerade das intensivste in unserer Zivilisation ist. Wir fühlen uns als Mensch einem Wesen gegenüber, das uns verschlingt. (S. 185f).

Sehen Sie nur einmal, wie dieses Verschlingen Platz gegriffen hat. Indem seit dem fünfzehnten Jahrhundert die Naturwissen­schaft sich immer weiter und weiter auf geradezu triumphale Art ausgebildet hat, ist die Menschenkunde immer mehr in Verfall geraten. Die Menschen konnten sich nur mit Mühe gegenüber dem ihr innerstes Leben verschlingenden Drachen halten, indem sie die alten, aber nicht mehr lebendigen Traditionen aufbewahr­ten und fortpflanzten. Und im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts stand der Drache, der das menschliche Seelenleben in der furchtbarsten Weise zu verschlingen drohte, mit besonde­rer Intensität vor den Menschen. Diejenigen, die noch ein volles seelisches Leben in sich hatten, fühlten, wie der Drache, der zum Tode bestimmt war, in der neuesten Zeitentwickelung durch Beobachtung und Experiment Leben gewonnen hatte, aber ein Leben, das den Menschen verschlingt. (S. 186).

In älteren Zeiten war der Mensch an dem Hervorbringen des Drachens noch beteiligt, doch hatte er die nötige Dosis von Todeskraft mitbekommen, so daß er ihn noch bezwingen konnte. Der Mensch hat damals dem Erleben nur soviel Intellektualität mitgegeben, daß er sie noch durch die Herzenskräfte überwinden Konnte. jetzt ist der Drache streng objektiv geworden, jetzt lebt er so, daß er uns von außen begegnet und uns als seelisches Wesen verschlingt. [...] Vom fünfzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert wurde die Menschheit dem Drachen gegenüber ohnmächtig. Es war das Zeitalter, das nach und nach ganz dem Glauben an die materielle Welt verfallen ist. [...] (S. 186f).

Im intensivsten Grade real ist der Kampf des Michael mit dem Drachen erst in unserem Zeitalter geworden. Und wenn man in das geistige Gefüge der Welt eindringt, so findet man, daß gleichzeitig mit der Kulmination der Macht des Drachens auch das Eingreifen des Michael, mit dem wir uns verbinden können, um die Wende des neunzehnten, zwanzigsten Jahrhunderts eingetreten ist. Der Mensch kann, wenn er will, Geisteswissenschaft haben, das heißt, Michael dringt wirklich aus den geistigen Reichen bis in unser Erdenreich herein, doch drängt er sich uns nicht auf, denn heute muß alles aus der Freiheit des Menschen entspringen. Der Drache aber drängt sich vor, er fordert die höchste Autorität. Es hat niemals in der Welt eine so mächtig auftretende Autorität gegeben wie diejenige, die heute von der Wissenschaft ausgeübt wird. Vergleichen Sie sie mit der päpstlichen Autorität; sie ist fast ebenso groß. Man kann der dümmste Kerl sein, aber man kann sagen: Die Wissenschaft hat festgestellt. [...] (S. 190).

Es gibt kein anderes Mittel dagegen, als sich mit Michael zu verbinden, das heißt, sich mit dem geistigen Weben und Wesen der Welt in wirklicher Erkenntnis zu durchdringen. Erst jetzt steht dieses Bild des Michael so recht vor uns, und erst jetzt ist es unsere ureigenste Menschenangelegenheit geworden. in alten Zeiten hat man dieses Bild noch im Imaginativen gesehen. Heute ist das für das äußere Bewußtsein nicht möglich. Daher kann jeder Tor sagen, es sei eine Unwahrheit, wenn man die äußere Wissen­schaft als den Drachen bezeichne. Aber sie ist der Drache. [...] (S. 191).

Das ist es, was in den Herzen vieler Menschen gerade im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts lebte, daß sie gefühlsmäßig-instinktiv den Drachen vor sich sahen, aber nicht den Michael sehen konnten. Daher gingen sie so weit als möglich von dem Drachen weg. [...] Und so sehen wir, wie die Jugend dem Alter entläuft, weil sie aus dem Gebiete des Drachens herauskommen will. Das ist auch eine Seite der Jugendbewegung. [...] Aber da gibt es nun ein Geheimnis und das besteht darin, daß der Drache seine Macht überall ausüben kann, auch da, wo er nicht räumlich vorhanden ist. Und wenn es ihm nicht gelingt, direkt durch Ideen, durch den Intellektualismus den Menschen zu ertöten, dann gelingt es ihm dadurch, daß er überall in dui Welt die Luft so dünn gemacht hat, daß man in ihr nicht mehr atmen kann. [...] (S. 191).

Hier hilft nur das Finden des Michael, der den Drachen besiegt. Denn man braucht die Kraft des Drachenbesiegers, weil der Drache ja sein Leben aus einer ganz anderen Welt erhält als diejenige ist, in der die Menschenseele leben kann. Die Menschenseele kann nicht leben in der Welt, aus der der Drache sein Lebensblut entnimmt [...] Es muß das Zeitalter des Michael beginnen, der den Drachen besiegt. Denn des Drachens Macht ist groß geworden! (S. 192).

Das ist es aber auch, was wir insbesondere zuwege bringen müssen, wenn wir richtige Führer der Jugend werden wollen. Denn Michael braucht gewissermaßen einen Wagen, durch den er in unsere Zivilisation hereinkommt. Und dieser Wagen ist dasjenige, was sich dem wirklichen Erzieher enthüllt, wenn es aus dem jugendlichen, werdenden Menschen hervortritt, ja schon aus dem Kinde. Da arbeitet noch das, was Kraft des vorirdischen Lebens ist. Da ist es real vorhanden, was, wenn wir es pflegen, für Michael der Wagen wird, mit dem er in unsere Zivilisation hereinfahren wird. Erziehen wir in der richtigen Weise, so bereiten wir Michael das Fahrzeug, damit er hereinkommen kann in unsere Zivilisation. (S. 192).

Wir dürfen nicht weiterhin den Drachen pflegen, indem wir eine Wissenschaft mit Gedankenformen ausbilden, bei denen wir gar nicht daran denken, daß sie eindringen wollen in eine Menschenseele, in den Menschenkörper, in den Menschen sel­ber und den Menschen heranbilden wollen. Wir müssen Michael den Wagen, das Fahrzeug bauen. Dazu brauchen wir lebendige Menschlichkeit, wie sie aus übersinnlichen Welten in das irdi­sche Menschenleben sich hineinlebt und darinnen sich mani­festiert, gerade in den ersten Zeiten des Menschenlebens. Aber wir müssen ein Herz haben für eine solche Erziehung. Wir müssen gewissermaßen lernen – wenn wir im Bilde sprechen –, uns zum Bundesgenossen des hereinziehenden Michael zu machen, wenn wir richtige Erzieher werden wollen. Mehr als mit allen theore­tischen Grundsätzen ist für die Erziehungskunst getan, wenn dasjenige, was wir in uns aufnehmen, so wirkt, daß wir uns als Bundesgenossen Michaels fühlen, des auf die Erde hereinfahren­den Geisteswesens, dem wir das Fahrzeug bereiten durch eine lebendige, künstlerisch geführte Erziehung der Jugend. Was uns aus diesem Impuls werden kann, ist viel besser als alle theoreti­schen Erziehungsgrundsätze. Wir müssen dahin gelangen, daß wir aufschauen zu dem mit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in unsere altgewordene Drachenkultur hereinstre­benden Michael. (S. 192f).

[...] Wir müssen diese Erziehungskunst nicht aufnehmen als eine Theorie, nicht als etwas, was wir lernen können. Wir müssen sie aufneh­men wie etwas, mit dem wir uns verbünden, dessen Ankunft wir begrüßen, das nicht wie tote Begriffe, sondern wie ein lebendiges Geistwesen zu uns kommt, dem wir unsere Dienste anbieten, weil wir sie ihm anbieten müssen, wenn die Menschheit den Fortgang ihrer Entwickelung finden soll. [...] (S. 193).

Kurz, wir müssen ernst nehmen das Einziehen in das Michaelszeitalter. Erst wenn mit den Mitteln der Gegenwart erreicht wird, daß den Menschen wiederum das Bild umschwebt des von Lichtglanz umflossenen starken Michael, der den die Menschheit aussaugenden Drachen zu besiegen vermag durch die Kraft des zu lebendigem Seelenleben sich entwickelnden Menschen – erst wenn man dieses Bild viel lebendiger, als man es früher vor Augen hatte, in seine Seele wieder aufnehmen kann, werden einem die Kräfte kommen, innere Regsamkeit zu entwickeln, weil man sich in der Genossenschaft des Michael weiß. Dann erst wird man teilnehmen an allem, was Fortschritt und zwischen den Genera­tionen Frieden bringen kann, was die Jugend dahin bringt, auf das Alter hinzuhören, was macht, daß die Alten etwas zu sagen haben, was die Jugend wissen und aufnehmen will. [...] (S. 196).

Das wird sich darin offenbaren, daß die Generationen sich etwas zu sagen haben, daß die Generationen etwas voneinander aufnehmen können. Denn in Wahrheit nimmt der Erzieher, wenn er nur ein ganzer Mensch ist, für sich ebensoviel von dem Kinde, als er dem Kinde gibt. Wer nicht vom Kinde lernen kann, was es ihm als Botschaft herunter­bringt aus der geistigen Welt, kann dem Kinde auch nichts beibrin­gen über die Geheimnisse des Erdendaseins. (S. 196).