Vom Geiste aus erziehen

Die Erziehungsfragen der heutigen Zeit erfordern eine Erziehergesinnung, die aus dem lebendigen Verhältnis zum Geiste stammt. Wenn eine umfassende Menschenerkenntnis die Grund­lage der Pädagogik ist, dann waltet in ihr ein Geist, der im Lehrer Gesinnung wird. Auf diese kommt alles an. Sie ruft die erzieherischen Fähigkeiten hervor. Von ihr aus können sie immer wieder erneuert und gesteigert werden.

Für diesen Sachverhalt ist weniger Verständnis vor­handen als für das äußerlich Greifbare der Unterrichts­methodik der Schulen, die im Sinne der Pädagogik Rudolf Steiners arbeiten. Gewiss, schon allein der Lehrplan dieser Schulen ist eine außerordentliche Hilfe für den Lehrer. [...] Man könnte versucht sein, rein auf diesen Lehrplan hin Schulen einzurichten. Dem Erziehungsziel der Rudolf Steiner-Pädagogik wäre man damit aber eher ferner gerückt. Zum freien Menschen kann nur erziehen, wer sich durch Arbeit an sich selbst auf den Weg zur Freiheit begibt.

Auf Grund des Studiums der Menschenkunde Rudolf Steiners begreift man eines: dass man Geistes-Schüler sein muss, um Erzieher werden zu können. Man entschließt sich, seine innere Entwicklung durch methodisches Üben zu stei­gern, weil ein allgemeines Menschheitsinteresse in einem erwacht. [...] Indem er sich als ganzen Menschen weiterbringt, schafft er ständig Neues und realisiert doch nur sein eigentliches, sein wahres Wesen.

Das öffnet ihm auch die Augen für das tiefere Wesen des Kindes: Auch das Kind will, unbewusst natürlich und vom Lehrer geleitet, an sich selber arbeiten, um in die Welt hineinzuwachsen, die ihm karmisch zugehört. Es gibt Ent­sprechungen zwischen dem Inkarnationsweg des Kindes und dem geistigen Schulungsweg des Erziehers. [...]

Heute werden die Kinder sehr früh dem Leben selber ausgesetzt. Das bringen die sozialen Verhältnisse mit sich und die üblichen Schulmethoden unterstützen es. Die Folgen bleiben nicht verborgen: Abnahme der Schüler-Leistungen, Zunahme der Jugendkriminalität usw.

Im Sinne der Pädagogik Rudolf Steiners wird das Kind im Volksschulalter, so wie es seiner geistig-seelischen und leiblichen Beschaffenheit entspricht, auf das Leben vorbe­reitet. Der "Lehrstoff" wird ihm in bildhafter Darstellung nahegebracht. Für den objektiven Wahrheitsgehalt dieser Verbildlichungen ist der Lehrer verantwortlich. Deshalb schult er seine Bewusstseinskräfte in bestimmter Weise, wo­von später die Rede sein wird.

Die Kinder leben in dieser Bilderweit mit enthusiasti­scher Seele. Ihre Sympathie-‘ und Antipathie-Kräfte werden zu intensivster Betätigung angeregt. Die Seele wird fähig, starke Sympathien und Antipathien in sich auszuhalten. Es entsteht kein "vegetarisiertes" Seelenleben, wie es als Folge intellektueller Überforderung auftritt. Im Rhythmus von Spannung und Lösung erleben die Kinder ihre Gefühlswelt und vertiefen und bereichern sie ständig. Man sieht es ihnen an, dass sie dieses Leben genießen. Das heißt aber nicht, dass es die Kinder zu leicht hätten. Ein gesundes Seelenleben besteht darin, dass der Mensch ja sagt zu Freud und Leid. So auch die Kinder. Das Eintauchen in Lust-‘ und Leiderleb­nisse, die ihnen der Lehrer durch den künstlerisch gestalteten Unterricht verschafft, das ist es, was ihnen die Welt schön erscheinen lässt.

Wenn aber die bilderschaffende Kraft im Kinde sich nicht in dieser Weise betätigen darf, so verkrampft sich die Seele. Die heute soviel anzutreffende Schwierigkeit der Heranwachsenden, sich in das Leben, wie es ist, einzugliedern, hat meist hier die Ursache. Eigenwillige, wirklichkeitsfremde Vorstellungen nehmen den jungen Menschen gefangen. Mit diesen Vorurteilen sieht er die Welt und das Leben. Er weiß weder für was noch gegen was er in diesem Leben kämpfen soll, und so verfällt er der Eigenbrötelei oder dem Chaos. [...]

Langsames Heranreifen aus dem träumenden Kindheitsbe­wusstsein in das Wachbewusstsein des Erwachsenen, das ist es, was das Kind braucht. Dann wird im Kindesalter der Charakter veranlagt, der zur vollen Ausbildung erst kommt im Sturm der Welt, um ein Wort Schillers zu gebrauchen. So soll also das Kind seinen Inkarnationsweg durch die Bilderwelt der Schulzeit hindurch gehen dürfen ins Leben hinein, damit dann sein Ich kraftvoll die Führung über­nehmen kann. [...]

(Heuser, S. 7-9)

Zum Menschenbild der anthroposophischen Pädagogik

Die Forderung nach der Verbildlichung der ganzen Kul­turentwicklung geht von den Einsichten in das Wesen des Menschen aus, die Rudolf Steiner in seiner Menschenkunde darlegte. Was in bildhafter Form mit Interesse und Phanta­siekraft vom Kinde aufgenommen werden kann, entwickelt sein Wollen und Fühlen. Seine Seele erfüllt sich dergestalt mit sinnvollen Vorstellungen und Begriffen, und wenn die Denkkräfte ums 14.-15. Lebensjahr zu voller Aktivität erwachen, greifen sie nicht ins Leere. [...]

So lässt die Pädagogik Rudolf Steiners das Leben selber sich durch den Lehrer in der Schule aussprechen. Eine echte Menschenerkenntnis macht den Lehrer schöpferisch im Ver­bildlichen des Unterrichtsstoffes. Dann entsteht keine Kluft zwischen der Schule und den Erlebnissen des Kindes an der Natur und an den sozialen Verhältnissen, in denen es heran­wächst. Und trotz der heute so einflussreichen anonymen „Erzieher“ wie Radio, Kino, Fernsehapparate usw., kann die Schule ihre Aufgabe erfüllen, wenn das erzieherische Tun des Lehrers auf nichts anderes als wahre Menschenbildung ge­richtet ist. Je gefährlicher die Attacken gegen den Menschen werden, um so mehr muss einzig und allein die Idee vom Men­schen das gestaltende Prinzip des Lehrerseins und Schule­haltens sein. Jeder Kompromiss mit den anonymen "Erzie­hern" oder der öffentlichen Meinung usw. würde nur dem Ungeist der Zeit dienen, der den Willen des Einzelnen schwächt, um so das "Material" zu bekommen, aus dem er den Kollek­tivmenschen machen kann.

Um den Menschen zu retten, gibt es nur eines: schöpfe­risches Tun, das sich dem Geiste wahrer Menschlichkeit – nur diesem und ohne jeden Vorbehalt – verpflichtet fühlt.

(Heuser, S. 48f)

Wenn der Lehrer die Niedergangserscheinungen der Zeit illusionslos betrachtet, so sinkt ihm der Mut. Schaut er aber auf die Kinder, die er erziehen darf, so spürt er, dass sie Kräfte haben, die Zukunft in sich tragen. In ihren Seelen leben, vor­läufig unbewusst, wesentliche Begriffe, welche ihnen später die selbständige Sinngebung des Lebens ermöglichen könnten. Solche Begriffe sollten ihnen nicht verloren gehen. Das ist aber die Gefahr bei der üblichen geistigen Unterernährung während der Schulzeit.

An den Kindern erwacht der Erzieherwille im Lehrer immer neu. An der Anthroposophie holt er sich die geistige Orientierung. Entscheidend in vieler Hinsicht wirkt zum Beispiel eine Einsicht, zu der man auf Grund der folgenden Darstellung Rudolf Steiners kommen kann. Da heißt es, in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit ist es so, dass in ihr "immerfort ein Niedergangs­element liegt, ein Element, das in die Dekadenz hineinführt, und dass der Mensch dazu berufen ist, aus seiner Kraft heraus den Niedergang fortwährend in einen Aufstieg zu verwandeln... Die Geschichte enthält Niedergangskräfte, und von den Niedergangskräften darf nicht erwartet werden, dass sie die Menschheit erhalten können." [...]

"Der Mensch ist seinem Wesen nach gut. Aber er wird, wenn er so bleibt, wie er ist, wenn er aus der geistigen Welt vom vorgeburtlichen Dasein herunterschreitet in die physi­sche Welt, er wird schlecht, wenn in ihm nicht die Kraft ge­weckt wird, sich selber zu verbessern."

Aus solchen Einsichten resultiert für den Lehrer: in Zei­ten, in denen die Niedergangskräfte dominieren, kommt es auf den Einsatz des ganzen Menschen an. Auf den Entschluss: nicht mit dem Strome und nicht gegen den Strom zu schwim­men, sondern Neuland zu schaffen, in sich selbst und in seinem Wirkungskreis.

Der Blick auf die gespenstige Anonymität, die alles Individuelle auslöscht, lähmt dann den Tätigen nicht mehr. Ihn trägt das Verantwortungsbewusstsein dem Geiste gegen­ über, dem allein er dienen möchte. Er weiß: Mögen die In­tentionen des Einzelnen noch so idealistisch, die Leistungen noch so tüchtig sein, sie verwandeln keinen Niedergang in einen Aufgang. Doch der existentielle Einsatz im Erkennen wie im Handeln bereitet die Möglichkeit solcher Gnade vor.

(Heuser, S. 15f)

Lebensorientierung am Bilde des Menschen

Es ist zweifellos nicht leicht für junge Menschen, die Ideale haben, im Leben der heutigen Zivilisation Fuß zu fas­sen, ohne sich selber entfremdet zu werden. [...] Das bloße Mitteilen von Wahrheiten genügt nicht, um ihnen Wege zu weisen. Selbst dann nicht, wenn man sich seine Einsichten selbständig erworben hat und sie erkenntnismäßig begründen kann.

Dass es Wahrheiten gibt, empfinden diese jungen Men­schen. Wenn von Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit, Güte usw. gesprochen wird, entsteht in ihrer Seele spontan ein bejahendes Gefühl. Sie tragen das, worauf die Ideen weisen, in ihrem In­nern vom vorgeburtlichen Leben her. Aber mit dem allein, was aus der Vorgeburt stammt, kann man nicht leben. Was da vorliegt, hat Rudolf Steiner in den ersten Vorträgen der "Allgemeinen Menschenkunde als Grund­lage der Pädagogik" dargestellt.

Vorstellungen und Begriffe bilden, Ideen erfassen, das ist eine Fähigkeit, die wir aus dem vorgeburtlichen Leben mit­bringen. Sie lebt sich in der frühesten Kindheit noch dar als eine sehr umfassende Kraft, die bis in die Gestaltung der phy­sischen Organe plastizierend tätig ist. Später blasst sie dann ab zur Denktätigkeit, deren wesentliche Eigentümlichkeit es ist, dass die Vorstellungen keinen Seinscharakter, sondern nur Bildcharakter haben.

Wenn sich deshalb zu dieser Kraft des Denkens nicht die andere, der Wille, gesellen würde, so würden wir während des Lebens gewissermaßen ein mitgebrachtes Kapital allmählich verbrauchen, und was dafür gewinnen? – Ein Wissen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt, durch das wir nichts über unser eigenes Wesen und über den Sinn des Lebens erfahren. [...]

Die Gefahr der Selbstaufgabe ist groß, wenn das gewöhn­liche Denken allein die treibende Kraft im Leben ist. Mancher ahnt diesen Verlauf und versucht, irgendwie eine Lebensstütze zu finden. Da genügt oft ein Gefühl des Vorwurfs: die ältere Generation ist an allem schuld, sie ist anzuklagen. Man zuckt die Achseln und greift zu allem, was das Leben irgendwie erträglich macht. [...]

Rudolf Steiner stellt dar, wie der Wille immer ein Keim von etwas ist, das sich erst im nachtodlichen Leben entwickelt. Während wir in Gefahr sind, von den vorstellenden Kräften gleichsam gefesselt zu werden, weil ihre Tätigkeit immer im Bild endet, schafft die Willenstätigkeit stets den Keim für unser zukünftiges Sein.

So ist der Mensch zwischen zwei Arten waltender Kräfte gestellt. Das gibt ihm die Grundlage zu seinem Freiheitserle­ben. Er darf sich keiner der Kräfte allein anvertrauen, wenn er in der Gegenwart, als Persönlichkeit, leben will. Ob Denken und Wollen in der rechten Beziehung zueinander stehen, offen­bart sich in der Sphäre des Fühlens. Wenn ein Mensch seine Gedanken im Herzen als Überzeugungen erlebt, erhalten die Taten, die sein Wille vollzieht, ihren Charakter durch den ganzen Menschen. Im Herzen werden aber auch Triebe ge­läutert, wenn sie da Ideen begegnen, die Licht verbreiten.

Dass in der heutigen Zeit die Charakterlosigkeit zunimmt und die Triebhaftigkeit des Willens immer hemmungsloser ausgelebt wird, hat seine Ursache darin, dass eben das Herz keine Gedanken mehr hat. Das wird sich ändern, wenn die Menschen wieder mit Ideen leben, die Licht bringen in die Rätsel ihrer Existenz, mit Ideen wie der hier angedeuteten des dreigliedri­gen Menschen, angegliedert an das Vorgeburtliche und Nach­todliche, mit der Idee von Reinkarnation und Karma usw. Solchen Ideen gegenüber empfindet der Mensch, der sie erfasst, in seinem Herzen Liebe und Treue. Das gibt seinem ganzen Wesen inneren Halt.

Wenn ein junger Mensch sich an dem wahren Bilde des Menschen orientieren kann, findet er leichter seinen Weg. Von großer Bedeutung ist es dann für ihn, wenn er Erzieherpersön­lichkeiten begegnet, die allen Lebensfragen gegenüber eine spirituelle Einstellung haben. Er erkennt sehr bald, was dieser Haltung zugrunde liegt: der wahre Erzieher erzieht sich selbst. Wenn der junge Mensch auf ihn schaut, wird er von Be­geisterung erfüllt. Er gerät nicht in Ekstase, die vergeht, son­dern erlebt sich selber verändert: Ideale beginnen sich in sei­nem Innern zu regen, und schließlich entdeckt er, dass in der eigenen Seele ein starker Wunsch nach Selbsterziehung lebt. Er versteht jetzt, warum er andre Menschen schon immer nach einem bestimmten Kriterium beurteilt hat. Es war ihm vor allem wesentlich, ob einer geistig regsam ständig voran­schritt oder bei Lieblingsmeinungen und persönlichen Gefüh­len stehen blieb.

Unbewusst schaut so mancher junge Mensch auf das Ver­hältnis, das einer herstellt zwischen seinem höheren Selbst und dem niederen Ich. Der Erzieher tut das gleiche, aber bewusst. Er weiß, dass es sich da um den Quellpunkt einer schöpferischen Existenz handelt. Deshalb fragt er sich, in welchem Ver­hältnis Persönlichkeiten, die auf irgendeinem Gebiet richtung­gebend sind, zu ihrem höheren Selbst stehen. Lassen sie sich von ihm beraten oder lassen sie sich nur unbewusst von ihrer Begabung leiten? – Wo er einem gesamtmenschlichen Verhalten begegnet, das ihm spirituell wegweisend sein kann, schaut er mit Verehrung zu einer solchen Persönlichkeit auf.

Dadurch wird er keineswegs unfrei, im Gegenteil, seine Freiheit gewinnt ihre höchste Form. Wie könnte er überhaupt in seinen Schülern Gefühle der Ehrfurcht und Verehrung wecken und pflegen, wenn er sie selber nicht üben würde? In einer Zeit wie der unsrigen herrscht allerdings eine verhängnisvolle Neigung zum Nivellement. [...] Warum will man das Vortreffliche nicht? Weil man es nur als Macht erlebt. – Schiller sagt in einem seiner Briefe an Goethe über "Wilhelm Meisters Lehrjahre": "Wie lebhaft ha­be ich bei dieser Gelegenheit erfahren, dass das Vortreffliche eine Macht ist, dass es auf selbstsüchtige Gemüter auch nur als Macht wirken kann, dass es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe." [...]

(Heuser, S. 24-27)

Vom Ich-Gefühl junger Menschen

Die Gefahr, dass ein rein egoistisches Ich-Gefühl im Kinde entsteht, ist am größten in der Zeit, in der sein Intellekt erwacht. Damit tritt die kindliche Entwicklung in die Phase ein, in der sich die Persönlichkeit zu formen beginnt. Die kindlichen Triebe, die rein und unschuldig sind, be­ginnen sich zu trüben, sobald mit der Geschlechtsreife das Bewusstsein des logischen Denkens wach wird.

Wenn nun im zweiten Jahrsiebent künstlerische Erziehungsmethoden gewaltet haben, so kann man bei den Kindern im obengenannten Alter das Aufwachen des Intellekts und alles, was es mit sich bringt, vorzüglich beobachten. Ein Klassenlehrer z. B., der durch Jahre hindurch in der befriedi­gendsten Weise mit seinen Schülern verbunden war, wird plötzlich auf eine ganz neue Art mit Fragen angegangen, ja geradezu attackiert, und wenn er auf eine Frage einmal ausweichend antwortet, so wird er mit spitzfindigen Ge­dankengängen nur so überschüttet. [...]

Für den Erzieher ist es immer schmerzlich, seinem Schüler Schweres zuzumuten, aber er muss die Kraft dazu haben. Besonders wachsam muss er sein, wenn der Intellekt beginnt, die egoistischen Triebe rechtfertigen zu wollen. Das versucht dieser ständig. Immerzu sollen anonyme Instanzen verantwortlich sein für die Vergehen; der Schüler selber ist nie schuld! [...]

Ein solcher Schüler könnte vielleicht durch das Erleben einer Gestalt wie Augustinus wieder in ein menschlicheres Verhältnis zur Welt kommen. Wenn er den Kontrast fühlen würde, der zwischen den Seelenhaltungen zweier Menschen sein kann: ein Augustin unterstellt ja auch seine Jugend­sünden dem Richteramt des Gewissens und erlaubt sich keinerlei Entschuldigung. Man versteht, dass Rudolf Steiner auf die Gestalt des Augustin hinwies, die im Religionsunterricht der Oberstufe zu behandeln sei.

Wie sich junge Menschen mit selbstlosem Ich-Gefühl in dem gleichen Alter verhalten, sei ebenfalls durch ein Beispiel charakterisiert. Der Lehrer erzählt eine Geschichte im Reli­gionsunterricht. Sie hat ihren Höhepunkt in einer dramati­schen Situation: Ein König wird von seinem Feldherrn in das Zelt seines Gegners geführt, der dort schlafend liegt. Schweigend, aber mit aufforderndem Blick, reicht ihm der Feldherr sein Schwert hin. In diesem spannungsreichen Au­genblick schaut ein Schüler ängstlich fragend seinen Nachbar an. Der schüttelt ruhig den Kopf und sagt leise: Das tut der nicht! – Die Erzählung geht weiter und bestätigt den Ausspruch.

Wo das Ich-Gefühl selbstlos entwickelt ist, sind nicht nur die niederen Sinne tätig, sondern es beginnen auch die höheren Sinne: Wortsinn, Gedankensinn und Ich-Sinn usw. zu wirken. Ziel der Erziehung sollte sein, das Bedürfnis nach ihrer weiteren Ausbildung in den jungen Menschen zu wecken. [...]

Die Kluft, die zwischen den oberen und den unteren Sinnen entstanden ist, muss überbrückt werden. Dazu braucht es die besondere Pflege der oberen Sinne. [...] Eine Übung, die sich z.B. als sehr fruchtbar erweist, für die gesamte Seelenverfassung junger Menschen, ist das Achten auf den Gedanken- und den Wortmenschen in sich selbst und im andern Menschen. Woher beziehe ich den Wortschatz, der in mir lebt; kenne ich ihn überhaupt genü­gend; sollte ich in meinem Sprechen nicht eine bestimmte Disziplin haben, usw.? Fragen dieser Art werden unter Um­ständen von jungen Menschen mit Interesse aufgegriffen. Eine neue innere Aktivität erwacht dann in ihnen. Sie ist das Heilmittel gegen die Apathie und Müdigkeit, die in vielen als Niederschlag des Materialismus vorhanden ist.

Für die Bildung eines gesunden Ich-Gefühls ist die Sprache ganz besonders wichtig. [...] Es gilt das Wort Rudolf Steiners: "Man kann der Seele das, was sie haben soll, nur geben, wenn man durch eine wirkliche Geist-Erkenntnis der Sprache ihre Schwungkraft wieder gibt, so dass sie wiederum hinführen kann zu dem Sprachgenius". Wenn der Erzieher seine eigene Beziehung zur Sprache in diesem Sinne pflegt, wird er auch bei jungen Menschen den Sinn für das Wort wecken können. Lernen sie erst ein­mal wirklich zuhören, so wacht ihr Unterscheidungsvermögen auf. Ihre Urteilskraft wird objektiv. In ihrem Innern regt sich der Wille, die eigenen Kräfte planmäßig zu schulen. Auf dem Wege kann aus dem selbstlosen Ich-Gefühl ein Ich-Bewusst­sein werden, in dessen Licht sich alle Gebiete des Seelen­lebens geistgemäß ordnen.

(Heuser, S. 31-35)

Rückblick eines Lehrers

Nie möchte ich Lehrer werden, sagte ich mir als junger Mensch. Geborene Pädagogen gab es nicht viele, das hatte ich erlebt. Junge Leute auf das Leben vorzubereiten, begann schon damals ein Problem zu werden. Was mancher von uns im Grun­de ersehnte, war nichts Geringeres als eine Weltanschauung, durch die man einen Sinn im Leben sehen konnte. Selbst­verständlich meinte man nicht eine dogmatische Anschauung, deren Grenzen wir nur zu gut durchschauten, sondern man fühlte irgendwie, es müsse doch eine Lebens- und Weltan­schauung da sein, die sich vor der Erkenntnis rechtfertigen ließ.

Als mich das Schicksal zur Begegnung mit der Anthro­posophie führte, erkannte ich sofort deren Realität. Ein inten­sives Interesse an allem, was den Menschen angeht, erwachte in mir. Als ich dann die anthroposophische Pädagogik kennen lernte, wurde mir das Erziehersein zum Ideal, das ich ver­wirklichen wollte. Ausschlaggebend war dabei ein Ereignis, über dem in der Erinnerung noch heute ein ganz besonderer Glanz liegt. Es war der Besuch einer Monatsfeier der Freien Waldorfschule in Stuttgart, bei der Schulklassen aller Alters­stufen vorführten, was sie in Rezitation, Musik, Eurythmie usw. gelernt hatten. Begeisterung erfasste mich, denn jetzt schaute ich in wirkliches "Neuland". Schulmeisterei, bloßes Fachwissen und Spezialistentum, deren Unzulänglichkeit in bezug auf Menschenbildung mich während der Schul- und Universitätsjahre gequält hatte, gab es da nicht.

Diese Lehrer machten den Eindruck schöpferisch tätiger Menschen. Sie waren die ersten, von Rudolf Steiner selber eingeführten Waldorflehrer. Die Kinder schienen glücklich, weil sie keiner­lei Masken zu tragen brauchten. Sie bewegten sich natürlich, frei und ungezwungen, und doch war ein Autoritätsverhältnis zwischen Lehrern und Schülern vorhanden. In ihm lag ein pädagogisches Geheimnis vor, das spürte man. Was ich bisher als Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern erlebt hatte, war entweder zu subjektiv gewesen, gewissermaßen von einer Art Brutwärme erfüllt, oder zu objektiv, d.h. alles Mensch­liche erkältend und lähmend.

Die Beziehung der Waldorf­lehrer zu ihren Schülern ging vom Herzen aus, aber von einem Herzen, das auch Gedanken hatte, um einen Ausdruck Rudolf Steiners zu gebrauchen. Das eindruckvollste war die Men­schenwürde, welche durch die Art, wie hier die Erwachsenen mit den Kindern zusammen waren, so beglückend wahrnehm­bar wurde. Das Bild des wahren, schönen und guten Menschen trugen die Lehrer in der Seele. Es leitete ihr Streben und daher auch das der Kinder. So fühlte ich mit überzeugender Kraft. Als Gedanke wurde mir all das erst später greifbar, als ich die anthroposophische Menschenkunde kennen lernte.

Eine wunderbare Zeit des Studiums und der inneren Wandlung begann. Die Pädagogik Rudolf Steiners ließ mich nicht mehr los, eben weil es sich bei Ihr nicht um eine Reform des Erziehungswesens handelte, sondern weil die Anthroposophie als eine umfassende, erkenntnismäßig fundierte Weltanschauung die Möglichkeit bot, zu gültigen Einsichten in das Wesen des Menschen zu kommen. Dass Anthroposophie als solche in der Schule nicht gelehrt wird, ist ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, dass ein Lehrer, der im Sinne dieser Pädagogik arbeitet, aber versäumen würde, sich für die eigene Entwicklung der anthroposophischen Methoden zu bedienen, auf die Dauer nicht weiterkäme. Ernstes Studium der Anthroposophie weckt Kräfte in einem, die angewendet werden wollen. Anthroposoph sein heißt ja, die "Suche nach sich selbst" mit geistgemäßen und deshalb geeigneten Methoden zu einem geordneten Entwicklungsvorgang zu machen. Man ist dann in einem ständigen Werden begriffen und solche Men­schen brauchen die Kinder. Rudolf Steiners Wort: das Wer­dende im Lehrer wirkt auf das Werdende im Kinde, ist von größter Bedeutung. Soll aber diese Wahrheit Wirklichkeit werden, so erfordert das den vollen Lebenseinsatz. Zu einem solchen wären gewiss viele Menschen bereit, wenn ihnen nicht schon in der Kindheit oder in der Jugend die Flügel gebrochen würden. [...]

Ich entsinne mich gut, wie ich nach einigen Wochen pädagogischer Tätigkeit an der Rudolf Steiner-Schule Berlin eines Tages sagte: ich gehe fort, alles hier geht über meine Kraft. "Das verstehe ich", antwortete mir eine Kollegin, "es ging auch mir so. Aber wer wird das Neue versuchen, wenn Sie es aufgeben? – Es ist eben Pionierarbeit – Lehrer im Sinne der Pädagogik Rudolf Steiners zu sein". Das brachte mir den Grundimpuls meines Bemühens wieder zum Bewusstsein, und bald musste ich sagen: Ein Glück, dass ich blieb. Das Ausbilden pädagogischer Fähigkeiten in der Praxis einer Rudolf-Steiner-Schule kommt nur dann in Fluss, wenn man den Mut hat, den schöpferischen Menschen in sich aufzurufen. Mögen die Erzeugnisse dieses Verhaltens im Anfang auch noch so dürftig sein, man wird gewiss weiter kommen, wenn man den ganzen Menschen einsetzt.

Wesentliche Hilfe bekommt man dabei von Seiten der Kinder. Zwei Beispiele dafür seien kurz skizziert. Als ich zum Praktizieren an die Waldorfschule in Stuttgart kam, hatte ich ganz plötzlich den Hauptunterricht in der 9. Klasse zu übernehmen. Obwohl ich froh war, so bald schon erleben zu können, ob und wie ich einen Kontakt mit den Schülern finden würde, ob es mit der Disziplin ginge usw., so war mir doch bänglich zumute. Als ich aber hörte, wie die Kinder den Morgenspruch sprachen, schwand jedes Angstgefühl. Aus diesem natürlichen Ernst der Kinder sprach das, was die ganze Pädagogik Rudolf Steiners charakterisiert, nämlich eine reale Beziehung zum Geistigen. Das gab mir jetzt die Sicherheit, mich ganz menschlich, vertrauensvoll den Kindern gegenüber zu verhalten. [...]

(Heuser, S. 58-60)

Zu einer fundamentalen Erziehungsfrage

Wer das Leben beobachtet, bemerkt, dass beim heutigen Menschen Denken und Wollen in auffallender Disharmonie sind. Entweder scharfes, jedoch rein formales Denken und Wil­lensschwäche oder aber Armut der Begriffe und Fanatismus im Willen. Das ist das häufigste Bild.

Und das Gefühl? – Es geht verloren. Echte Gefühlskultur gehört fast ganz der Vergangenheit an. Leer und verkrampft sind die Seelen oder aber überschwenglich und aufgeblasen im Selbstgenuss subjektiver Ideen oder Willensimpulse.

An all diesem trägt die Erziehung ein gut Teil Schuld. Rudolf Steiner wies auf die Harmonisierung von Denken und Wollen als auf eine fundamentale Erziehungsaufgabe hin. [...] Woran erkennt man bei Vierzehn-, Fünfzehnjährigen, ob diese Harmonisierung von Denken und Wollen, als Grundlage des Charakters, stattgefunden hat oder nicht? –

Wo sie fehlgegangen ist, das ist unschwer zu erkennen. An der Kritiksucht und an der unbekümmerten Trieb- und Be­gierdenhaftigkeit vieler Heranwachsender zeigt es sich. Die Erz­ieher stehen da vor den schwierigsten Aufgaben. Kritiksucht ist ein Leerlauf des Intellekts. Sie ist ein Zerrbild des vom Ich ausgehenden kritischen Vermögens, das Ideen und Taten wägen und werten kann. Zügellosigkeit des Trieb­lebens aber weist auf Verkümmerung des Gewissens. [...]

Es sollte aber die Erziehung im zweiten Lebensjahrsiebent gerade die Kritiksucht unmöglich machen. Wenn der Lehrer, vollmenschlich in seiner Tätigkeit lebend, das Seelenleben der Kinder kultiviert, so kann sich etwas anderes als Kritiksucht ausbilden, nämlich die Kraft des Staunens. [...] Beim Kinde soll das Staunenkönnen ganz allmählich zu einer Grundhaltung der Seele werden: Es ist begeistert vom Prinzen im Märchen, später von den Heiligen der Legenden und Helden der Sagen und noch später von den großen Indivi­dualitäten der Menschheit. Aus dieser immer aufs neue und auf immer höherer Bewusstseinsstufe gefühlten Begeisterung ent­steht die Fähigkeit des Staunens und bestimmt grundlegend alles Seelenleben. Es ist die eigentlich menschenwürdige Hal­tung der Welt gegenüber, denn Mut und Demut sind in ihr im Gleichgewicht.

Lehrer, die das Staunen nicht kennen, können es in der kindlichen Seele nicht wecken. Sie erziehen trotz des besten Lehrplans nur gescheite Köpfe. Wer dagegen das Staunen aus der eigenen Kinderzeit ins reifere Alter herüberbringt, bemerkt gar bald, dass er in einem lebendigen Verhältnis zur Umwelt nur bleiben kann, wenn er diese Fähigkeit übt. Es wundert ihn nicht, dass ihre Pflege am Anfang der Geistesschulung steht.

Wenn nun die Erziehung bei einem jungen Menschen das Staunen als innere, orientierende Kraft ausgebildet hat, so sollte auch das Gewissen zum bestimmenden Faktor des See­lenlebens geworden sein, denn wer staunen gelernt hat, pflegt gewissenhaft zu urteilen und dementsprechend zu handeln. [...]

Zusammenfassend kann man sagen: Das Staunen weckt im Menschen das höhere Selbst, das vom Vorgeburtlichen her in ihm ist. Das Gewissen zeigt ihm den Menschen, der er werden muss, um vor der geistigen Welt bestehen zu können. Mit dem Gewissen nimmt er ein Nachtodliches ins Leben herein. So entsteht die harmonische Verbindung zwischen Denken und Wollen. Die Erziehung des Kindes und die Selbsterziehung des Lehrers hängen beide grundlegend von der Fähigkeit des Staunens und des Gewissens ab. [...]

(Heuser, S. 70-72)

Der Lehrer als Lernender

Die Inhalte der Geisteswissenschaft wollen vom ganzen Menschen aufgenommen sein. Fühlt man sich nicht mit sei­nem ganzen Menschsein ihnen verpflichtet, so können diese Wahrheiten auch nicht den sicheren Boden echter Lebenser­fahrung bilden, auf den man seine Existenz immer neu be­gründen kann. Im Gegenteil, nur gekannte Wahrheiten bilden häufig eine Art schiefer Ebene, auf welcher man in eine konven­tionelle Seelenhaltung abgleitet, bei der man weder zu sich selbst noch zur Welt in reale Beziehung kommt. [...]

So erfüllt z. B. das Gedächtnis doch nur dann seine wahre Bestimmung, wenn es im Dienste der Charakterbildung usw. steht. Dazu aber ist notwendig, dass Vorstellungen und Be­griffe durch das Vergessen hindurchgehen können. Wenn man das Gedächtnis nur pflegt, damit es dem ge­wöhnlichen Tagesbewusstsein diene, verhindert man, dass die Vorstellungen und Begriffe in die Wesenstiefen dringen, wo sie am ganzen Menschen arbeiten. Kein Wunder, dass die Begriffe dann farblos und anonym ausgesprochen werden. Dem kann auch kein hinzugefügtes Sentiment abhelfen. Aus sol­chem Wissen wird nie Weisheit. Man muss als ganzer Mensch Anteil haben an dem, was man denkt und ausspricht. [...]

Wo aber wäre ein Lebenseinsatz, der lohnender wäre als der: Kindern und jungen Menschen zur Sinngebung ihres Lebens zu verhelfen, wie das für den Lehrer und Erzieher, der sich im Sinne der Pädagogik Rudolf Steiners bemüht, doch möglich werden kann.

Wie Rudolf Steiners Pädagogik von ihm selbst gemeint war, sagt ein Wort aus seiner Ansprache an die Eltern der Waldorfschule in Stuttgart 1920: "Herb und scharf ist das, was wir zu vertreten haben, aber diese Herbheit wird uns die Kraft geben, hier von der Freien Waldorfschule aus der niedergehenden Zeit ein Flammenzeichen auf die Stirne zu schreiben."

(Heuser, S. 81-85)

Kann man die Kinder wirklich noch genügend erreichen ihrem Innersten? so fragt man sich oft. Sie verbringen einen großen Teil des Tages in der Stickluft einer seelenlosen Welt. Radio, Kino, Fernsehen usw. vergröbern ihnen die Sinne und das Herz. Und nicht nur das. Die innere Unsicherheit und die verborgene Angst, von der die Erwachsenen geplagt sind, über­trägt sich auf die Jugend. Hast und Betriebsamkeit, die das Wirtschaftsleben beherrschen, ergreifen auch die "Geistes­arbeiter". Aber, das fühlt man nur zu gut, dann ist es aus mit dem Erziehenkönnen. Die "Erziehungskunst" hängt mehr als von allem andern davon ab, "dass eine innere, spirituelle Be­ziehung herrscht zwischen dem Lehrer und den Kindern" (Rudolf Steiner). Dazu bedarf der Lehrer jener inneren Ruhe, die der "Stille im Sturm" vergleichbar ist. Das ist etwas anderes als Windstille. [...]

Wie kommt man zur inneren Ruhe, von der die spirituelle Beziehung zu den Kindern abhängt? – Wie erwirbt man sich die Liebe zu den Kindern, die unerschütterlich ist? Wie hält man das äußere Chaos aus seiner Schulstube fern? Wenn man leben lernt jenseits von Furcht und Hoffnung, in der Treue zum Geist. Das ist der neue Lebensduktus, den unsere Epoche, vom Lehrer verlangt. Rudolf Steiner hat den Weg dazu gewiesen.

(Heuser, S. 88-90)

Unauffällig, aber stetig wird das Seelenleben der heutigen Menschen automatisiert. Mancher schaut deshalb schon in jungen Jahren wie eine Persönlichkeit aus und gibt sich auch so im Reden und in seinen Gebärden. Der Mensch aber, der er eigentlich ist, verkümmert in ihm.

Wie kann der Lehrer und Erzieher in solchen Verhält­nissen seine Aufgabe erfüllen: den jungen Menschen zu helfen, dass sie trotz allem den Weg zu sich selber finden? – Noch nie forderte das Leben so unbedingt vom Lehrer, dass er immer schöpferisch lebendig sei in seinem Tun. Der gute Wille und pädagogische Begabung allein genügen nicht. Vielerorts sind die Schüler bekanntlich so rebellisch, dass die Lehrer sich vor ihnen fürchten. Es zeigt sich, wie recht Rudolf Steiner die Entwicklung der Pädagogik beurteilte, als er sagte: ohne eine richtig fun­dierte geistige Weltanschauung geht es nicht mehr. [...]

Wenn ein Lehrer anthroposophische Wahrheiten so auf­nimmt, dass davon sein ganzes Wesen durchdrungen wird, so führt das von selbst dazu, dass er Übungen macht. "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Weiten?" wird für ihn richtungweisend. Eine Frage stellt er sich immer wieder: Was berechtigt mich dazu, als Lehrender und Erziehender vor Schülern – großen und kleinen – zu stehen? Bei ehrlicher Selbst­erkenntnis kommt er dabei zu mancher bitteren Einsicht. Verliert er sich nicht darin, so kann ihm gerade aus solcher Begegnung mit seiner Unzulänglichkeit eine neue Kraft erwachsen: der Wille zur Selbsterziehung. [...]

Ein Künstler – Cézanne – sagte einmal, als er ein Porträt malte: "Wir müssen in gleichem Takte leben, mein Modell, meine Farben und ich, wir müssen gemeinsam die Minute, die vorübergeht, in Farbstufen einfügen". Was Cézanne hier über den schöpferischen Prozess sagt, kennt der Lehrer gut. Keine erzieherische Maßnahme erreicht das Kind wirklich, wenn dieses "im gleichen Takte leben" zwischen ihm und dem Lehrer nicht da ist. Eben deshalb geht das eigentlich Erzieherische ja auch als ein Imponderables vor sich. Die Seelenstimmung des Lehrers und die des Schülers, sowie Form und Farbe des Unterrichtsstoffes, das alles muss zusammen­klingen. Dafür hat der Lehrer zu sorgen. Wie kann er es?

Es muss ihm das, was er darstellen soll, z.B. ein Thema aus der Geschichte, wie ein Kunstwerk in den Gliedern liegen. Eine so geartete Begeisterung des Lehrers weckt im Schüler ein spontanes Mitgehen. Der Lehrstoff wird dann gar nicht vom Lehrer allein gestaltet. Oft in glühender, innerer Aktivität, „malt“ der Zuhörende mit seinen Phantasiekräften mit an dem „Bilde“, das der Lehrer, zu ihm sprechend, gestaltet. Deshalb kann der Lehrer auch, während er darstellt, gar nicht an eine pädagogische Wirkung denken. Erst nachher spürt er und sieht er am ganzen Gehaben seiner Schüler: es ist ein Wesentliches geschehen. Sie haben etwas erlebt, das in ihnen weiterlebt und sie bildet. [...]

(Heuser, S. 95-97)