05.05.2015

Der dunkle Bann

Ein Märchen über die Macht gewisser Dinge.


Es war einmal eine Königin, die hatte zwei Kinder. Der König war schon vor langer Zeit gestorben, und so regierte sie alleine mit Sanftmut und Güte das Königreich. Die beiden Kinder waren Brüder, Zwillinge, die das zehnte Jahr ihres Lebens erreicht hatten.

Jeden Tag lernten sie zusammen, spielten sie zusammen. Sie übten sich im Zeichnen wunderschöner Formen, hörten von ihren Lehrern wundersame Geschichten von der großen Welt und ihren Geheimnissen, erfuhren nach und nach vom Leben der Menschen und den verschiedenen Berufen. Und nach dem Unterricht liefen sie hinaus in diese Welt und nahmen sie nun in ganz anderer Weise auf.

Sonne und Wind, Regen und Schnee waren den Brüdern lieb. Kein Wetter konnte sie abhalten, die Welt zu erfahren. Lachend hörte man sie im Schlossgarten spielen, dann wieder sah man sie staunend vor einer Pflanze knien oder einen seltsamen Käfer beobachten. Anderntags liefen sie in eines der nahegelegenen Dörfer und sahen dem Schmied oder den Bauern bei der Arbeit zu, fragten auch einmal, ob sie etwas helfen dürften – und lachend wurde es ihnen gewährt.

Mit tiefstem Herzen fühlten sich die Brüder allem verbunden, was um sie war. Und kein Tag verging, an dem sie der Welt nicht neue Geheimnisse abgelauscht hätten; an dem ihnen die Wesen der Welt nicht neue Geheimnisse offenbart hätten.

Wenn sie am Bach saßen, so erzählte dieser ihnen von seinen Erlebnissen. Das Rauschen der Bäume war für sie eine verständliche Sprache. Im Singen der Vögel hörten sie mehr als die alten Bauern. Selbst das Ziehen und die Formen der Wolken blieben ihnen nicht bedeutungslos. Tief erlebten sie den Wechsel der Jahreszeiten, die auch alle eine so ganz andere Sprache hatten. Jede Blume mit ihrer Farbe und Gestalt, jedes Tierlein sprach in anderer Weise zu den beiden unzertrennlichen Brüdern...

Und wenn sie dann abends ihrer Mutter von ihren Erlebnissen erzählten, so hörte die Königin ihnen schweigend und mit innerer Freude zu und lenkte den Blick ihrer Kinder wohl manches Mal noch auf dieses oder jenes. Die Kinder staunten, dass ihre Mutter all ihre Erlebnisse verstand – denn unter den Menschen in den Dörfern gab es nur Wenige, die dies taten. Die Königin wiederum sah dankbar die Entwicklung der Kinder, denn sie wusste, dass ein Reich nur regiert werden kann, wenn man die Sprache der Dinge und Wesen bis in die Tiefen seiner Seele hinein zu verstehen vermag.

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Eines Tages spielten die Kinder nach ihrem Unterricht wieder einmal am Bach. Bis außerhalb des Gartens, der das Schloss umgab, waren sie ihm gefolgt. Da kamen sie an eine Stelle, die ihnen unbekannt vorkam. Gleichwohl mussten sie hier schon viele Male gewesen sein, doch war jetzt alles sehr verändert. Kühler war es hier auf einmal, an einer Stelle bei einem alten Baumstumpf wuchsen keine Blumen mehr. Hinter ihm erhob sich auf einmal eine zerzauste Krähe und flog krächzend davon.

Die beiden Brüder schraken zurück. Schon wollte der eine von ihnen diesen Ort eilig verlassen. Doch der andere blieb wie gebannt stehen. ‚Komm, Bruder!’, drängte der eine. ‚Warte doch’, sagte der andere. Da zog ihn der erste an der Hand und wollte fort. Doch der andere ließ es nicht zu, er entzog ihm die Hand – nie zuvor war dies geschehen. Bestürzt schaute der Bruder ihn an.

Der andere aber schaute zum Stumpf und ging nun langsam auf ihn zu. ‚Nein!’, rief der Bruder, doch wie ein Bann hielt ihn der Schrecken, keinen Schritt konnte er tun. Langsam ging der andere auf den Stumpf zu, während die Angst des Bruders fortwährend wuchs. Nun schaute der andere hinter das Holz...

‚Komm!’, rief er freudig, doch der Bruder war selbst wie angewurzelt, blieb voller Furcht stehen. Da trat der andere wieder hervor – und hielt in der Hand eine Kugel von Glas. Der Bruder wich zurück. ‚Was ist das?’ – ‚Ich weiß es auch nicht.’ – ‚Leg es zurück!’ – ‚Nein, warum?’ – ‚Es ist schlecht!’ – ‚Woher weißt du?’ – ‚Das weiß ich nicht.’ – ‚Dann behalt ich’s.’ – ‚Siehst du nicht, wie der ganze Ort schlecht ist?’ – ‚Aber die Kugel ist schön.’ – ‚Sie bringt Unglück.’ – ‚Woher weißt du?’ – ‚Ich weiß es eben.’ – ‚Ich behalt sie.’

Ein Schaudern befiel den ersten Bruder. Kaum konnte er neben ihm laufen. ‚Nichts zu der Mutter!’, sagte der andere. ‚Wir können sie doch nicht belügen!’ – ‚Du sagst einfach nichts!’ – Ein Schmerz durchfurchte die Seele des Bruders. Doch so oft er es wagte, den andern zu bitten, dieser wies alles ab, in der Hand jene Kugel.

In ein geheimes Gebüsch des Gartens zog sich der andre zurück, und ziellos streifte der Bruder umher, verzweifelt.

Dann, am Nachmittag, fanden sie sich wieder. ‚Bruder!’, rief der andere, ‚die Kugel kann sprechen! Sie erzählt mir von fernen Orten. Auch kann ich mit anderen Menschen sprechen, die weit weg von hier sind. Und ich kann schöne Spiele spielen, immer neue, schau doch!’ Der Bruder schaute. In der Kugel entstanden Bilder. Da waren Menschen, sie sprachen, und der Bruder sprach mit ihnen. Dann betastete er die Kugel in bestimmter Weise, und auf einmal waren da andere Farben und Formen, die der Bruder scheinbar lenkte und bestimmte.

‚Wozu das?’, sprach der andere. ‚Bring sie zurück, noch kannst du es tun!’ – ‚Nein, das ist lustig, und es macht Spaß!’ – ‚Aber mir nicht.’ – ‚Gut, es ist meine.’ – ‚Sag es der Mutter.’ – ‚Nein, und du auch nicht.’ – ‚Ich werde es tun.’ – ‚Du bist mein Bruder!’ – ‚Sie wird es merken.’ – ‚Nein, wird sie nicht.’

                                                                                                                    *

Beim abendlichen Mahl war die Stimmung verändert. Das Schweigen der Brüder, aus zwei verschiedenen Gründen, schien die Mutter nicht zu bemerken. Als sich der andere Bruder in das gemeinsame Zimmer zurückzog, konnte der erste nicht weiter. In seiner Verzweiflung offenbarte er alles Geschehene der Mutter.

Da nahm sie ihn in den Arm und strich ihm das Haar. ‚Traurig habe ich diesen Moment erwartet und dennoch gehofft, er würde nie kommen.’ Fragend blickte der Junge zur Mutter. ‚Es gibt’, sprach sie weiter, ‚eine alte Prophezeiung, von meiner Mutter erfahren, als ich noch ungeboren war. Eines meiner Kinder würde einem mächtigen Bann verfallen. Würde ich aber versuchen, es daran zu hindern, so würde unweigerlich Hass in ihm wachsen. Drei Monate, so hieß es, dürfte ich nichts unternehmen, dürfte nur warten.’ – ‚Aber was geschieht nun?’, rief der Junge verzweifelt. – ‚Was geschehen muss’, sagte die Mutter. ‚Meine Hände sind gebunden, bis dieser Teil der Prophezeiung vorüber sein wird.’ – ‚Weh!’, rief der Junge, ‚ich habe Angst!’ – ‚Ich auch, um ihn, deinen Bruder’, sagte die Mutter.

Von nun an war der andere Bruder keinen Tag ohne die Kugel zu sehen. Zuerst hielt er sich heimlich, dann ging er ganz offen mit dem Glas in den Händen umher. Oft wollte er den Bruder dazu bringen, doch auch wieder hineinzuschauen oder selbst die Kugel zu betasten und mit ihr zu spielen. Doch wies es sein Bruder stets von sich, und Trauer erfüllte sein Herz. Er wiederum floh zu den Blumen, den Bäumen, dem Bach. Aber die Trauer verhängte die Seele. So wurde auch ihm die Sprache der Wesen stets stummer.

Abends sprach er zur Mutter darüber. Diese sah ihn mit Liebe an und verstand seine Trauer. Sie sagte aber: ‚Willst du deinem Bruder helfen, so darfst du das Deine selbst nicht verlieren. Bewahre die Trauer in einem Teil deiner Seele und bewahre die Freude im anderen. Verliere nicht dein eigenes Mitleben mit allem – nur so kannst du einmal den Bruder zurückführen, wenn es denn sein soll. Auch du wirst einmal so vieles verlieren. Sorge, dass es nicht zu viel sein wird!’ – ‚Was meinst du, Mutter, auch ich werde so vieles verlieren?’ – ‚Es kommt, wie es kommt, mein Kind. Aber versprich mir, zu hüten, was du vermagst.’ – ‚Ich verspreche es.’

Von nun an fühlte der Bruder die Trauer im Herzen gleichzeitig mit der Freude. Die Trauer galt dem Bruder, die Freude der Welt. Und in ihr fühlte er auch wieder die Verbindung zum Bruder, den der Bann von ihm trennte. Von neuem sprach zu ihm der Baum, die Wolke, das Plätschern des Baches. Und nun war es, als hörte er alles für den Bruder mit. Zwar war er allein und fühlte die Trauer darüber, aber er sagte: ‚Ihr Wesen, mein Bruder kehrt wieder, und was ihr zu mir sprecht: mein Herz hört für ihn mit!’ Und es war ihm, als jubelte dann alles leise, was um ihn war.

Doch der Bruder wurde immer fremder, zog sich immer mehr zurück mit der Kugel. Diese besetzte sein Sinnen und Trachten, sein Denken und Tun. Immer sprach er mit Menschen darinnen, immer weniger mit denen, die wirklich um ihn waren. Dann spielte er wieder, die Finger tanzten auf dem Glas, doch seltsam starr war die Bewegung und auch der Blick seiner Augen. Der Bruder sah es von ferne und wandte traurig sich ab. Mit dem Bruder zu sprechen, war nicht mehr möglich, er wollte ihn nur immer hineinziehen in den Bannkreis der Kugel. So ging er wieder in die übrige Welt, lebte mit ihr mit und trug seinen Bruder im Herzen.

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Schließlich kam der andere Bruder manchmal wieder zu ihm. Freude erfüllte den ersten, als dies zum ersten Mal wieder geschah. Doch bald sah er, wie der andere auch jetzt völlig verändert war. Er verhielt sich scheinbar wie immer, doch nichts war wie früher. Er lachte, lief und machte Späße, und doch war dies seltsam leer, etwas fehlte. Und zugleich waren die Blumen, die Tiere, der Bach und die Wolken, sie alle, für ihn etwas Fremdes geworden. ‚Hörst du ihre Sprache nicht mehr?’ – ‚Ich weiß nicht!’, sagte der andere unwillig, und dann: ‚Lass uns weitergehen!’

Dann wiederum sprach er: ‚Mir ist langweilig. Ich gehe wieder zur Kugel.’ Bestürzt blieb der Bruder zurück. Er hatte gehofft und gefühlt, dass es dem anderen Bruder gerade mit der Kugel langweilig geworden war. Nun war es ihm dies auch ohne sie. Der Bruder versuchte dieses Gefühl zu verstehen, aber er kannte es nicht. Ruhiges Glück, einfach nur Lauschen, sich erfüllen mit dem, was einen umgibt – ja, das kannte er alles. Aber Langeweile, was war das? Es musste mit dem Bann zu tun haben.

Abends sprach er zur Mutter und fragte danach. Da sagte sie: ‚Langeweile, ja, das ist eine Krankheit der Seele. Da, wo sie sich von nichts erfüllen lässt; da, wo zu nichts eine Liebe lebt, da wächst die Langeweile. Es ist eine Leere, wo die Seele mit sich alleine ist und dann selbst die Leere spürt. Aber sie selbst hat das Tor zur Welt zugemacht, und oft findet sie selbst den Schlüssel nicht wieder...’

Traurig lebte der Bruder mit diesen Worten. Das also war es, was er am Bruder gespürt hatte. Er war in sich selber gefangen, und das Tor zur Welt war verschlossen. Langeweile war dann ein Suchen nach etwas, zu dem man nicht kommen konnte. Aber wie verschloss sich das? Wieder fragte er eines Abends die Mutter.

Diese schaute lange aus dem Fenster, wo draußen irgendwo der andere Bruder mit seiner Kugel saß. Dann sagte sie: ‚Die Liebe schließt alle Tore auf, aber der Mangel an Liebe schließt sie zu. Die Kugel ... kann keine Liebe geben, nur Liebe nehmen. Sie nimmt deinem Bruder die Liebe, obwohl er glaubt, mit Menschen zu sprechen. Die Liebe, die er hat, wird immer weniger. Wie das geht, kann ich nicht sagen, aber die Kugel nimmt sie ihm fort. Und so hat er sie nicht mehr, wenn er dann anderes tut. Es ist die Liebe, die dich die Wesen verstehen lässt. Es ist der Mangel an Liebe, der die Welt stumm macht. So wird die Seele einsam, so werden die Tore verschlossen...’

Heiß flammte im Bruder die eigene Liebe auf. Wild stürmte sie in seinem Herzen, den Bruder zu retten, und wusste nicht wie. Da strich die Mutter ihm über das Haar und sagte: ‚Morgen gehen die drei Monate zu Ende. Morgen werden wir tun, was ihn rettet.’

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Und als der Morgen die Sonne aufgehen sah, da war die Zeit des Bannes der Mutter vorbei. Schon früh fand sich der Bruder wieder bei der Kugel und suchte nach Spaß und Vergnügen. Nun aber trat auch die Königin aus dem Schloss in den Garten. In strahlender Schönheit sah die Welt sie wieder, und sie wusste, wohin sie ihre Schritte lenken musste. Voller Liebe durchschritt sie den Garten, das Sonnenlicht selbst schien ihr zu folgen. Schmetterlinge umflatterten sie, und die Vögel im Geäst der Bäume jubilierten. Da fand sie den Bruder in seinem bevorzugten Busch. Sie ging auf ihn zu, und er bemerkte es nicht. Seine Finger tasteten auf der Kugel, sein Gesicht vergnügt und zugleich doch auch leer.

Sanft beugte sie sich nieder, und nun bemerkte das Kind sie. Sanft nahm sie die Kugel. ‚Nein!’, schrie der Bruder, ‚es ist meine!’ Die Mutter jedoch warf sie in ruhiger Bewegung auf einen nahen Stein, wo sie zersprang. ‚Nein!’, rief der Bruder verzweifelt und lief zu den Splittern. Dann sah er die Mutter an, wandte sich um und lief von ihr fort.

Nun stürzte der Bruder, der alles von ferne gesehen, zur Mutter und weinte. ‚Nun ist er fort!’ – ‚Sorge dich nicht, Kind, er kehrt wieder...’

Am Abend saßen sie lange in schweigendem Warten beim Mahle. Schließlich öffnete sich die Tür und der Bruder trat ein. ‚Bruder!’ Gleich stürzte der andere zu ihm und empfing ihn. Müde ließ es der Bruder geschehen, ging dann zum Tisch und stand vor der Mutter. Nun schloss auch diese ihn in ihre liebenden Arme. Nichts sagte der Bruder, nichts tat er, nur ins Bett ließ er sich bringen, schlief schließlich ein. Voller Angst und auch Fragen schaute der andere Bruder zur Mutter. Ein Blick ihrer Augen war ihre Antwort, Trost und Vertrauen floss zu ihm über.

Nicht sprachen sie über die Kugel und über das, was geschehen. Schweigend blieb noch immer der Bruder. Da erinnerte sich der andere der Worte der Mutter: eine Krankheit der Seele. Und allmählich wurde ihm deutlich, dass die Heilung wie bei anderer Krankheit nicht gleich kam, sondern allmählich. Der Bruder aß, er folgte ihm, ging mit, wo er ging. Und so führte er ihn wieder zu all den geliebten Stellen und Orten. Saß mit ihm am Bach und lauschte dem Plätschern. Hörte den Wind in den Bäumen und schaute den Käfern beim Krabbeln zu. Der Bruder schaute mit. Ob er auch lauschte? Leer war noch immer sein Antlitz.

Noch einmal vergingen drei Monde. Fast unmerklich kehrte das Leben zurück. Fremd noch war zunächst, was er sagte. Doch immer mehr wurde er wieder er selbst. Schließlich kam dann der Morgen, an dem sie wieder am Bache das Plätschern des Wassers verfolgten. Lauschend der eine, lauschend auch auf das Wesen des Bruders. Auf einmal sagte dann dieser: ‚Bruder, wo war ich so lange Zeit?’ – Tränen strömten dem ersten da über die Wangen. Auf sprang er und fasste den andren, schloss ihn vor Glück in die Arme. ‚Bruder! Was macht es? Du bist wieder da!’ Tränen verbanden sich nun miteinander, Freudentränen der Bruderherzen.

‚Komm, heim zur Mutter!’ rief da der eine, und schon lief der andere, Hand in Hand schnell Richtung Schloss. Bald kam da die Stelle, wo einst das Schlimme geschah und die sie immer gemieden. Nun sahen sie staunend, wie langsam Blumen und Gräser auch hier wieder wuchsen. Einen Moment lang blieben sie stehen, schauten auch hier das Zeichen der Wandlung – dann liefen sie weiter, glücklich der Mutter entgegen.