29.09.2014

Grundlagenarbeit – was ist michaelisches Denken?

Vom notwendigen Ernst des inneren Strebens auf dem Weg zu wahrer Waldorfpädagogik.


Die anthroposophische Grundlagenarbeit, von der an Waldorfschulen und Waldorfkindergärten noch manchmal die Rede ist, ist nichts, was einfach nur vertiefte Kenntnisse in Bezug auf das Kind bringen soll. Wahre WaldorflehrerInnen und WaldorferzieherInnen sollten Menschen sein, die eine innere Sehnsucht empfinden, das Kind, aber auch den anderen Menschen, die ganze Welt, immer tiefer anschauen zu können. Dies hat nicht nur mit dem Denken zu tun, sondern auch mit einem sich verwandelnden Fühlen und Empfinden, mit einem sich verwandelnden Wollen, Handeln, Menschsein überhaupt...

Menschen, die auf diese Weise ihr ganzes Menschsein verwandeln, die ein ganz anderer, neuer Mensch werden, werden auf diese Weise wahre Waldorfpädagogen. Man muss ein Empfinden dafür bekommen, was dies heißt – dass sich da ein ganz neues Denken bildet, ein ganz neues Fühlen und auch ein ganz neues Wollen. Ein Empfinden dafür bekommen und eine Sehnsucht danach. Die immer deutlicher werdende Sehnsucht nach einer solchen Entwicklung und Verwandlung ist bereits ein Erwachen dieses neuen Fühlens und Wollens. Und das Empfinden dafür – wie kann man es beschreiben? Das Denken, das Fühlen und das Wollen, das man im Laufe eines Zusammenlebens mit der Anthroposophie entwickelt und das man, wenn man sein eigenes Inneres lebendig macht, aus dieser Anthroposophie einem gerade entgegenströmend fühlt, empfindet man dann gleichsam so, wie wenn einen ein frischer, lebendiger, lichtvoller Gebirgsbach durchströmen würde – man empfindet es als Leben und man empfindet sich selbst durch und in diesem Leben lebendig werdend.

Natürlich geschieht dies zunächst nur anfänglich, aber dies ist ein aller-allererster Beginn desjenigen, was Rudolf Steiner den neuen, höheren Menschen nennt. Es ist derjenige Mensch, der wir werden können, wenn wir das gewöhnliche Denken, Fühlen und Wollen immer mehr verwandeln und ein ganz anderes inneres Leben „anziehen“. Der Mensch wird wirklich nach und nach ein ganz anderer – er gewinnt ein höheres Leben mit lebendigeren Gedanken, tieferen Empfindungen, real-moralischem Wollen und einer immer reineren, lichtvolleren Wahrnehmung...

In meinem Aufsatz „Grundlagenarbeit – was, wie und wozu?“ habe ich bereits versucht, dies deutlich zu machen. Die sogenannte „Grundlagenarbeit“ muss also alle Abstraktheit verlieren – sonst ist sie keine Grundlagenarbeit. Sie soll die Grundlage sein für eine vollkommen andere Pädagogik, für wahre Waldorfpädagogik. Das kann sie nur, wenn sie aus uns allmählich andere Menschen macht – und wenn wir dies wollen. Waldorfpädagogik ist nicht nur etwas, wo Anderes unterrichtet wird als sonst; es ist nicht einmal nur etwas, wo anders unterrichtet wird als sonst – es ist etwas, wo andere Menschen zu unterrichten beginnen als sonst... Durch die Grundlagenarbeit und die Selbsterziehung und Selbstverwandlung, die diese Grundlagenarbeit richtig verstanden ist, werden wir immer mehr wahrhafte Menschen – und so auch immer mehr wahrhafte Erzieher... Wahres Menschentum fließt dann gleichsam in unserem Blut, wahre erzieherische Weisheit durchströmt dann all unser Handeln und Sein.

Es geht darum, dass wir empfinden, worauf hier hingedeutet ist. Nicht darum geht es, sich Illusionen hinzugeben und zu meinen, man hätte dies schon entwickelt oder könnte es leicht entwickeln – es geht darum, in sich eine Gesinnung wachsen zu lassen, die sich nach diesem edelsten Ideal immer mehr sehnen kann, die immer mehr in einem wirklich moralischen Gefühl leben kann, das dann, ganz allmählich, bis in den Willen hinein verwandelnd durchdringt...

Dies hat übrigens auch mit jeglichem ideologischem Hochmut nichts zu tun, der – obwohl die eigene Seele unverwandelt bleibt –, wähnt, die Menschheit nun zu einem „wahren Menschentum“ zu erziehen. Dies können der Anthroposophie nur ihre Gegner vorwerfen, die ihre eigenen Seelen gerade unverwandelt lassen und zwischen fanatischen Ideologien und echten inneren Verwandlungen und realen moralischen Prozessen nicht unterscheiden ... wollen. Natürlich kann man gegen jede substantielle innere Entwicklung eine tiefe Antipathie haben und diese sogar leugnen, wenn man nicht danach strebt und sie als Realität erfährt. Gerade darin aber liegt der Hochmut: in der Seele, die so bleiben will, wie sie ist, und die Andere dafür angreift oder verurteilt, dass sie die Realität der zu innerer Entwicklung führenden Wege immer mehr erkennen und diese Wege zu beschreiten beginnen. Die sich vertiefende Seele ist nicht hochmütig, sondern nimmt immer mehr Demut an, aber sie weiß, dass die Menschenseele zur Entwicklung berufen ist. Sie weiß um die edle Höhe des Zieles, des unendlichen Weges. Und dies gibt ihr neben der Demut auch einen starken Mut, diesem Weg der inneren Entwicklung kraftvoll nachzustreben.

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Innere Entwicklung ist viel mehr als nur ein Aufnehmen hilfreicher oder informativer Gedanken. Es ist mehr als nur ein Verstehen, dass das kleine Kind „in der Nachahmung lebt“, dass das Kind im Schulalter dann im Element der Schönheit lebt und einer geliebten Autorität folgen möchte. Dieses Wissen allein nützt sehr, sehr wenig, wenn es nicht in uns Leben wird – wenn wir nicht aus einem lebendigen Wissen, Verstehen und Schauen heraus handeln. Rudolf Steiner sagte einmal, dass wahres Erziehen gleichsam etwas ganz Natürliches auf einer höheren Stufe werden müsse. Nicht viele Worte darüber soll man machen, sondern es soll ganz Gesinnung werden, weisheitsvoller Erzieher-„Instinkt“ in ganz neuer Weise... Dies muss man wirklich tief genug empfinden. Man wird nicht so leicht ein neuer Mensch – aber darum geht es gerade.

Am Sylvestertag des Jahres 1918 spricht Steiner in der Vortragsreihe „Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?“ (GA 187) davon, dass der Mensch einerseits viel langsamer lebe als die ihn umgebende Natur, dass er sich aber andererseits mit seinen Gedanken viel schneller bewege als der äußere Weltenlauf. Diese schnell dahinhuschenden Willkürgedanken seien aber einer der Gründe für den menschlichen Egoismus.

Darauf kann man sich einmal besinnen. Dann kann man ein deutliches Gefühl dafür bekommen, dass ein Erfassen der Wirklichkeit ein so rasches, oberflächliches, eigensinniges Denken eigentlich überhaupt nicht verträgt. Man kann schon mit wirklicher Demut einsehen lernen, dass unser ungeduldiges Denken, hinter dem ja unsere ungeduldige Seele steht, an die Wirklichkeit gar nicht herankommt. Ein wirkliches Begreifen und Ergreifen der Wirklichkeit bräuchte gerade Geduld, intellektuelle Bescheidenheit im Sinne von einem Wartenkönnen. Man muss die Eindrücke lange und immer wieder auf sich wirken lassen können, bis man zu einem tieferen Begreifen der Wirklichkeit vordringt. So hat Goethe es gemacht – immer wieder hat er geduldig, eintauchend, die Phänomene auf sich wirken lassen. Und erst auf diese Weise, irgendwann, offenbart sich dann allmählich etwas von dem Wesen der Dinge.

Sind wir dazu mit unserem Denken, mit unserer ganzen Seelenhaltung, mit unserem Charakter, unserer inneren Einstellung überhaupt bereit und in der Lage? Dies ist eine der ersten Bedingungen für die Grundlagenarbeit. Denn was nützt es, wenn man im Laufe von einigen Konferenzen einige Vorträge oder eine Schrift Rudolf Steiners durchgelesen hat, dies aber überhaupt keine verwandelnde Wirkung hatte? Wenn es außer einigen intellektuell bleibenden Wissensfetzen keinerlei seelische Frucht trug?

Unser Denken und unsere ganze heutige Seelenkonfiguration hat etwas von dem modernen Supermarktgefühl: Bequem will man irgendwohin gehen (oder sogar fahren, im Sinne eines Drive-in), alles Nötige einkaufen und es bequem nach Hause tragen. Der Zugang zur Wirklichkeit ist aber kein Supermarkt mit versiegeltem Einfahrtsbereich, komfortablen Selbstbedienungs-Auslagen, automatischer Kasse und einer angenehmen Schnellstraße nach Hause. Er ist noch immer das, was wie in einem ewigen Gleichnis in der ursprünglichen Natur und ihrer Kultur vor uns steht. Ein Acker braucht seine feste Zeit, das Wirken der Sonne, guten Regen und vieles andere, bis das Getreide reif wird. Er muss gepflügt werden, er muss vor überwucherndem Unkraut geschützt werden.

Wenn unsere Seele nicht nur tote Früchte pflücken will, sondern selbst Frucht tragen will; wenn sie nicht nur einige Methoden nach Hause tragen will, sondern wirklich Erziehungskünstler werden will, so muss sie selbst zum Acker werden. Sie muss sich pflügen lassen, in schwerer, verwandelnder Arbeit. Sie muss den guten Samen aufnehmen. Sie muss ihn in Ruhe und Geduld lange in sich hüten und unter den richtigen und guten Bedingungen langsam in sich wachsen lassen. – Es ist nicht wesentlich, wieviel wir von einer Schrift Rudolf Steiners in einer bestimmten Zeit „schaffen“. Es ist nur wesentlich, wieviel wir aus einem noch so kleinen Abschnitt in unserer eigenen Seele hervorwachsen lassen können...

Eigentlich muss man also als erstes allen Anspruch an einen schnellen „Erfolg“ oder „Nutzen“ einer Grundlagenarbeit ablegen. Diese nutzenorientierte Erwartung ist gerade das größte Hindernis. Es wird einen Nutzen geben – aber nur dann, wenn die Erwartung abgelegt werden kann. Denn nur dann kann sich der Hochmut und die Bequemlichkeit, die fordernde (Konsum-)Haltung in Demut, in Sehnsucht, in innerliches, ganz und gar eigenes Bemühen verwandeln. Wenn die Seele sich aber diesem Bemühen hingibt, spielt die Zeit auf einmal überhaupt keine Rolle mehr. Dann empfindet die Seele unmittelbar, wo sie steht und dass diese Dinge Zeit brauchen. Dann ist keine Rede mehr von dem Gefühl, dass die Anthroposophie sie mit Wissen beliefern soll – sondern sie weiß ohne allen Zweifel, dass sie selbst sich bereit machen muss, sie überhaupt empfangen zu können und dann selbst Früchte heranreifen lassen zu können. Solange die Seele noch Erwartungen hegt, ist sie faul, setzt sie nicht alle Kräfte ein, die sie einsetzen könnte und auch muss...

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Was heißt nun michaelisches Denken? In der Vortragsreihe „Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens“ (GA 194) sagt Rudolf Steiner im November 1919:

Wir müssen lernen auf den Zukunftsmenschen schauen. Das heißt michaelisch denken. Ich will Ihnen genauer charakterisieren, was michaelisch denken heißt.
Wenn Sie heute Ihrem Nebenmenschen gegenübertreten, so treten Sie ihm eigentlich mit einem ganz materialistischen Bewußtsein gegenüber. Sie sagen sich, wenn Sie dieses auch nicht laut, nicht einmal im Gedanken sagen, aber Sie sagen es sich eigentlich in den intimeren Gründen Ihres Bewußtseins: Das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, das ist ein Mensch aus Erdenstoffen. Sie sagen sich das auch beim Tiere, Sie sagen sich das auch bei der Pflanze. Aber das, was Sie sich da Mensch, Tier, Pflanze gegenüber sagen, sagen Sie sich mit Recht nur dem Mineral gegenüber, nur der mineralischen Wesenheit gegenüber. Fassen wir gleich den extremsten Fall, den Menschen, auf. Nehmen wir, so wie er durch die äußere Erscheinung formiert ist, den Menschen zunächst in bezug auf seine äußere Gestalt. Das, was er so als seine äußere Gestalt ist, das sehen Sie gar nicht in Wirklichkeit, dem treten Sie gar nicht mit Ihrem physischen Wahrnehmungsvermögen entgegen, sondern das ist ausgefüllt, sogar zu mehr als neunzig Prozent, mit Flüssigkeit, mit Wasser. Und das, was da als Mineralisches ausfüllt die Gestalt, das sehen Sie mit Ihren physischen Augen. Was der Mensch von der äußeren mineralischen Welt mit sich vereinigt, das sehen Sie. Den Menschen, der das vereinigt, den sehen Sie nicht. Sie reden nur richtig, wenn Sie sich sagen: Dasjenige, was da vor mir steht, das sind die Stoffpartikelchen, die die menschliche Geistgestalt in sich aufspeichert, das macht mir das Unsichtbare, was da vor mir steht, sichtbar. – Der Mensch ist unsichtbar, richtig unsichtbar. Sie alle sind hier, wie Sie hier sitzen, unsichtbar für physische Sinne. Nur sitzen so und so viele Gestalten da, die haben durch eine gewisse innere Anziehungskraft Stoffpartikelchen angesammelt. Die sieht man, diese Stoffpartikelchen. Man sieht nur Mineralisches. Die wirklichen Menschen, die hier sitzen, sind unsichtbar, sind übersinnlich. Daß man sich mit vollem Bewußtsein in jedem Augenblick seines wachen Lebens so etwas sagt, das macht die michaelische Denkweise aus, daß man aufhört, den Menschen anzuschauen als dieses Konglomerat von mineralischen Partikelchen, die er nur in einer gewissen Weise anordnet. Die Tiere tun es auch, die Pflanzen tun es auch, nur die Mineralien tun es nicht. Daß man sich dessen bewußt wird: Wir wandeln unter unsichtbaren Menschen – das heißt michaelisch denken.
(23.11.1919, GA 194, S. 47f).


Michaelisches Denken bedeutet also, mit einer geistigen, geistgemäßen Weltanschauung ernst zu machen – sie wirklich mehr sein zu lassen als bloße Gedanken, Sonntagsgedanken, die doch in jedem Augenblick des Alltags wieder verschwunden sind. Michaelisches Denken bedeutet, dass das geistgemäße Denken anwesend bleibt, dass es also wirklich da ist. Und Rudolf Steiner sagt: in jedem Augenblick! Dieses Denken soll also jeden Augenblick über die gewöhnlichen Alltagsgedanken den Sieg davontragen, zumindest auch da sein. Dieses michaelische Denken ist also reinste Aktivität, ein wirklich vom Willen durchdrungenes, geist-bewusstes Denken.

In seinem ungeheuer aufrüttelnden Pädagogischen Jugendkurs („Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation“, GA 217) sagt Rudolf Steiner im Herbst 1922 im dritten Vortrag:

Also das möchte ich einmal ganz deutlich ausgesprochen haben, meine lieben Freunde: bei dem, was ich hier meine und jemals gemeint habe, handelt es sich nicht darum, vom Geist zu reden, sondern darum, aus dem Geiste heraus zu reden, im Reden selber den Geist zu entwickeln. Das ist dann der Geist, der erst wirklich erzieherisch wiederum in unser totes Kulturleben hereinschlagen kann. Das muß der Blitz werden, der in unser totes Kulturleben hereinschlagen muß, um es wiederum zum Leben zu entzünden.
(5.10.1922, GA 217, S. 53).


Und in Bezug auf die Waldorfpädagogik, bereits im zweiten Vortrag:

Wenn man zunächst bildlich charakterisieren will, wie die Waldorfschul-Pädagogik spricht, so muß man sagen, daß sie ganz anders spricht, als man sonst in bezug auf Erziehung zu sprechen pflegt. Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken. Denn heute handelt es sich um das Aufwecken. Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken. Es handelt sich tatsächlich um ein Aufwecken, nachdem die Menschheit abgekoppelt, abgeschnürt worden ist von dem fortlaufenden Strome der Weltentwickelung. Wie eine Hand einschläft, wenn sie abgeschnürt wird, so schlief die Menschheit seelisch-geistig ein.
(4.10.1922, GA 217, S. 36f).


Dramatischer und eindrücklicher kann man nicht beschreiben, um was es heute für die ganze Menschheit geht. Sich aber in jedem Moment mit vollem Bewusstsein zu sagen, dass der Mensch seinem Wesen nach übersinnlich ist, dass wir den wahren Menschen sinnlich gar nicht sehen, das ist ein ungeheuer weckender Gedanke, der wirklich eine Wirksamkeit entfaltet. Wenn der Mensch bewusst so denkt, verändert er dadurch allmählich sein ganzes seelisches Empfinden, seine ganze Verfassung und Gesinnung...

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Und doch bleibt dieser Gedanke des übersinnlichen Menschenwesens noch immer abstrakt und unwirklich, wenn wir vor dem übersinnlichen Menschenwesen nicht auch tiefe moralische Empfindungen haben können: eine Ehrfurcht vor diesem übersinnlichen Wesen. Und als Erzieher ganz besonders: eine Ehrfurcht vor dem sich inkarnierenden Wesen der Kindes-Individualität.

In der im Frühsommer 1922 für die Waldorflehrer gehaltenen Vortragsreihe „Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis“ sagt Rudolf Steiner: 
Die Grundempfindung muß eigentlich die sein, die ich in den verschiedensten Formen zum Ausdrucke gebracht habe: die Ehrfurcht vor der kindlichen Individualität. Wir müssen uns ja durchaus bewußt sein, daß eine geistig-seelische Individualität in jedem Kinde verkörpert ist, und daß wir in dem, was wir als das körperhafte Kind vor uns haben, eigentlich zunächst nicht einen wahren Ausdruck der kindlichen Individualität haben. Die Gesetzmäßigkeit, die Gliederung des menschlichen Organismus ist ja [...] eine außerordentlich komplizierte. Und durch die verschiedensten Ursachen ist dasjenige, was die wahre Individualität eines Kindes ist, durch Hemmnisse im physischen und auch im ätherischen Organismus gehindert, sich vollkommen auszuleben, so daß wir eigentlich in dem Kinde immer vor uns haben die zunächst mehr oder weniger unbekannte wirkliche Individualität und dasjenige, was eigentlich maskiert ist durch das Leibliche des Kindes.
(22.6.1922, GA 302a, S. 87ff).


Aus der geistigen Welt heraus will sich ein individuelles Menschenwesen inkarnieren – aber es trifft auf Hindernisse. Mit diesem Kampf, mit dieser Tragik haben wir es zu tun, wenn wir vor einem anderen Menschen stehen! Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – aber auch bei erwachsenen Menschen und natürlich auch bei uns selbst. Die Inkarnation ist ein Geschehen, das erst im Moment des Todes für dieses Leben abgeschlossen ist – und bis zu diesem Moment geht der Kampf, sich als derjenige zu inkarnieren, der man seinem wahren, vollen Wesen nach ist! Bis zum Moment des Todes geht das Ringen, auch auf Erden in einem physischen Leib sein eigentliches Wesen wahrzumachen.

Natürlich hört dieses Ringen oft irgendwann auf. Rudolf Steiner beschreibt, wie von Natur aus dieser Moment immer früher da ist, in der heutigen Zeit schon um das siebenundzwanzigste Lebensjahr herum. Danach geschieht eine Entwicklung nicht mehr von Natur aus. Sie geschieht nur noch durch Lebensschicksalsschläge – oder durch eigenes inneres Streben nach einer inneren Entwicklung. Und dies ist ein michaelischer Impuls! Mit diesem Impuls stellen wir uns anfänglich auf die Seite Michaels, der dem Menschen die Kraft geben will, sein ganzes Denken, Fühlen und Wollen dem Verfallensein an das gewöhnliche „Fortrollen“ zu entreißen und sich mit Bewusstsein, mit bewusst entfalteter Kraft zu durchdringen!

Was also ist michaelisches Denken? Es ist eine Durchdringung des Denkens mit immer stärkerer bewusster Aktivität. Und ein solches, lebendig werdendes Denken führt durch sein eigenes Lebendigwerden dazu, auch das Fühlen und das Wollen selbst immer mehr zu verwandeln. Durch die Entfaltung der inneren Aktivität kommt der Mensch seinem wahren Wesen näher, denn es ist bereits dieses Wesen, das in dieser Aktivität tätig und an-wesend zu werden beginnt. Immer mehr in jedem Moment auch des wachen Lebens...

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Michael aber dient mit all seinem Sein und Wirken mit unerschütterlichem Ernst und Mut dem Christus-Wesen. Es kann darum nicht anders sein, als dass dasjenige Denken, was Michael impulsieren und stärken will, zum Christus-Wesen hinführt – zu einem immer bewussteren Ahnen, Empfinden und Erkennen, wo Christus heute zu finden ist. Wo Christus heute Seine Wirksamkeit und Seinen Impuls entfaltet.

Ich möchte darum diesen Aufsatz mit Worten Rudolf Steiners beschließen, mit denen er im ersten Vortrag des bereits erwähnten Zyklus’ „Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?“ diesen Impuls beschrieben hat. Zwei Tage vor der Weihnachtsnacht des Jahres 1918 sagt er:

Versuchen Sie es, so wie es hier gemeint ist, recht lebendig im heutigen zeitgemäßen Sinne, die Geistgedanken der Weltenlenkung in sich aufzunehmen; versuchen Sie sie aufzunehmen nicht bloß wie eine Lehre, nicht bloß wie eine Theorie, versuchen Sie sie aufzunehmen so, daß sie diese Ihre Seele im tiefsten Inneren bewegen, erwärmen, durchleuchten und durchströmen, daß Sie sie lebendig tragen. Versuchen Sie, diese Gedanken in solcher Stärke zu empfinden, daß sie Ihnen sind wie etwas, was wie durch den Leib in Ihre Seele eintritt und den Leib verändert. Versuchen Sie, alle Abstraktionen, alles Theoretische von diesen Gedanken abzustreifen. Versuchen Sie, darauf zu kommen, daß diese Gedanken solche sind, welche eine wirkliche Speise der Seele sind, versuchen Sie, darauf zu kommen, daß durch diese Gedanken nicht bloß Gedanken in Ihre Seele einziehen, sondern daß geistiges Leben, das herauskommt aus der geistigen Welt, durch diese Gedanken in unsere Seele einzieht. Machen Sie sich intim innerlichst eins mit diesen Gedanken, und Sie werden ein Dreifaches bemerken. Sie werden bemerken, daß diese Gedanken allmählich etwas in Ihnen selber austilgen, was insbesondere in unserer Zeit des Bewußtseinsseelenzeitalters so deutlich in die Menschenseelen hereinzieht: daß diese Gedanken, mögen sie sonst wie immer lauten, austilgen im Menschen die Selbstsucht! Wenn Sie zu bemerken anfangen: diese Gedanken töten den Egoismus, lähmen die Selbstsucht –, dann, meine lieben Freunde, haben Sie verspürt das Durchchristete der anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Gedanken. Und wenn Sie zweitens verspüren, daß in dem Augenblick, wo irgendwie in der Welt an Sie herantritt die Unwahrhaftigkeit, entweder indem Sie selber versucht werden, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, oder von anderer Seite Ihnen die Unwahrhaftigkeit entgegentritt, wenn Sie verspüren, daß in dem Augenblicke, wo die Unwahrhaftigkeit in Ihre Lebenssphäre hereintritt, warnend oder auf die Wahrheit hinweisend, ein Impuls dasteht neben Ihnen, der die Unwahrheit nicht in Ihr Leben hereintreten lassen will, der Sie immerzu mahnend auffordert, mit der Wahrheit es zu halten: dann verspüren Sie wiederum gegenüber dem zum Scheine heute so vielfach neigenden Leben den lebendigen Christus-Impuls. Der Mensch wird nicht leicht gegenüber den anthroposophisch orientierten Geistgedanken lügen können oder keine Empfindung haben für den Schein und die Unwahrheit. Ein Wegweiser zum Wahrheitsempfinden, von allem übrigen Verständnis abgesehen, er kann von Ihnen gefühlt werden in den Gedanken der neuen christlichen Offenbarung. Wenn Sie es dahin bringen, nicht bloß theoretisches Verständnis zu suchen für die Geisteswissenschaft, wie man es für eine andere Wissenschaft sucht, sondern wenn Sie es dahin bringen, daß die Gedanken so in Sie eindringen, daß Sie fühlen: Es ist so, indem diese Gedanken mit meiner Seele intim werden, wie wenn sich eine zur Wahrheit mahnende Gewissensmacht neben mich hinstellte, dann haben Sie den Christus-Impuls in der zweiten Art gefunden. Und wenn Sie drittens auch noch fühlen, daß ausströmt von diesen Gedanken etwas bis in den Leib hinein, aber insbesondere in der Seele Wirkendes, Krankheit Überwindendes, den Menschen Gesundmachendes, Frischmachendes, wenn Sie verspüren die verjüngende, erfrischende krankheitsfeindliche Kraft dieser Gedanken: dann haben Sie den dritten Teil des Christus-Impulses dieser Gedanken empfunden. Denn das ist es, wonach die Menschheit mit der neuen Weisheit, mit dem neuen Geiste strebt: aus dem Geiste selber heraus die Möglichkeit zu finden, Selbstsucht zu überwinden, den Schein des Lebens zu überwinden; Selbstsucht durch Liebe, den Schein des Lebens durch die Wahrheit, das Krankmachende durch die gesunden Gedanken, die uns unmittelbar in Einklang versetzen mit den Harmonien des Weltenalls, weil sie aus den Harmonien des Weltenalls stammen. [...]
(22.12.1918, GA 187, S. 21f).


Wenn die Anthroposophie im menschlichen Denken real zu werden beginnt; wenn der Mensch die geistgemäßen Gedanken willensstark und bewusst zu denken beginnt, sein Denken durchglühen zu lassen beginnt – dann spürt er das Egoismus-Überwindende, Gewissen-Weckende und Gesundende dieser Geist-Gedanken, dieses lichtvollen, lebendig werdenden Denkens. Dies aber ist bereits das Wirken des Christus im Denken, dies ist die erste Wirksamkeit, in der sich der Auferstandene heute den Menschen, die eines guten Willens sind und die diesen Willen auch wirklich innerlich entfalten, real offenbart...