31.08.2014

Grundlagenarbeit – was, wie und wozu?

Eine ausführliche Besinnung auf eine zentrale Frage. 


Inhalt
Wahrhaftige Seelen-Erkenntnis
Zwischen Wissen und Weisheit
Die Probe machen – innerlich anfangen
Die Gefahr abnehmender Moralität
Wie dann beginnen?
Der Angriff der Widersachermächte
Wozu also Grundlagenarbeit?


In Waldorfschulen und -kindergärten, aber auch in anderen Einrichtungen, die sich auf eine anthroposophische Grundlage berufen, wird oft von „Grundlagenarbeit“ gesprochen, die das Kollegium tue oder tun müsse. Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf die heutige Wirklichkeit eingehen, in der diese Arbeit oft sehr unverstanden und halbherzig getan wird – eine halbe Stunde „Grundlagenarbeit“ und dann weiter in der Konferenz –, sondern ich möchte versuchen, das Wesen dieser Grundlagen-Arbeit zu berühren. Was ist Grundlagenarbeit, welchen Sinn und welche Aufgabe hat sie – und wie kann sie wirklich getan werden?

Wahrhaftige Seelen-Erkenntnis

Warum fühlt man sich überhaupt zu einer solchen „Grundlagenarbeit“ verpflichtet? Oder besteht eine Sehnsucht danach? Wie ist eigentlich genau das eigene Verhältnis zu diesem Begriff, zu dieser Arbeit? Wie sehr hat man für sich selbst klar erfasst, was mit diesem Begriff eigentlich gesagt und gemeint ist? Und wie sehr fühlt man sich dazu hingezogen oder eben auch nicht?

In Wirklichkeit sind wir, wenn wir solche Fragen ernsthaft stellen, als wahrhaft eigene Fragen, eigentlich schon mittendrin in einer Grundlagenarbeit – nämlich im Gebiet der Selbsterkenntnis. Wir beginnen, einmal nicht nach außen zu schauen und mit fertigem Wissen zu arbeiten, zu agieren, sondern wir stellen uns selbst grundlegende Fragen und versuchen, zu empfinden, was nun eigentlich wirklich in uns lebt. Auch dies kann man schnell wieder sehr abstrakt werden lassen. Aber nochmals: Wenn man wirklich in diese Fragen eintaucht; wenn man sich selbst dabei ganz und gar mitnimmt; wenn man die jeweilige Frage ganz ernst nimmt – dann geht man hinein in seine eigenen Seelentiefen, eine Bewegung, die man sonst eigentlich niemals macht... Dies gerade ist Selbsterkenntnis, ein Beginn: Ein Erkennen dessen, was eigentlich in der eigenen Seele lebt. Ein Erkennen dessen, wer man eigentlich ist – oder nicht ist.

Die Erkenntnis, ob man diese Bewegung überhaupt beginnen kann, oder ob man sofort wieder in das Abstrakte gerät; die Erkenntnis, ob es einem überhaupt gelingt, diese Fragen vollkommen ernst zu nehmen, ihren Ernst wirklich zu empfinden und sich mit diesem Ernst zu vereinigen – all dies sagt einem schon unendlich viel über sich selbst. Denn es sagt einem, ob man diesen Ernst überhaupt besitzt oder nicht, noch nicht. Es sagt einem, ob man selbst wirklich eine Sehnsucht nach der Anthroposophie hat oder nicht. Ob man vielleicht noch gar nicht verstanden hat, was Anthroposophie eigentlich ist; wozu die „Grundlagenarbeit“ gut sein soll; was dieser ganze „Ernst“ soll, und so weiter, und so weiter. Das sind dann aber nicht mehr abstrakte Fragen und Gedanken, es sind dann Realitäten der Selbsterkenntnis. Hier beginnt die Wirklichkeit! Es ist nicht mehr Scheinwelt, es ist existentiell.

Man kann sein Leben lang auf halber Strecke stehenbleiben – oder eigentlich noch vor dem Anfang –, indem man der Anthroposophie in einem völlig ungeklärten Verhältnis gegenübersteht. Wie viele Kollegen und Kollegien tun dies! Man gerät mit der Anthroposophie in Berührung, man läuft irgendwie mit, man beschäftigt sich in irgendeinem Maße damit – aber man ist sich eigentlich fortwährend im Unklaren, wie man wirklich zu ihr steht. Die Seele befindet sich in einem merkwürdig nebelhaften Bereich zwischen Pflicht und Freiheit, Auflage und Sehnsucht, zwischen Gegebenem und wahrhaft Gewolltem, zwischen vollem Ernst und Routine, voller Hingabe und unbewusster Abwehr...

Es möge deutlich sein, dass der Schritt, den Bereich der Selbsterkenntnis wirklich zu betreten und in die Realität der eigenen Seele einzutauchen, nur eine Erlösung sein kann – eine Erlösung von allem Schein-Wissen, aller Abstraktheit, allem Nicht-Wissen... Es ist zunächst auch ganz egal, was man dabei herausfindet – selbst wenn man entdeckt, dass man eigentlich eine Antipathie gegen diese Anthroposophie empfindet, oder gegen einen kollektiven Zwang, der von einer „verordneten“, „auf dem Programm stehenden“ Grundlagenarbeit ausgeht ... das Wichtigste ist, dass man endlich in voller Wahrhaftigkeit und in klarer Erkenntnis seiner eigenen Seele gegenübersteht, wie sie jetzt im Moment wirklich ist!

Und was auch immer man von Rudolf Steiner halten mag – man kann ihm nicht vorwerfen, dass es ihm nicht um die Freiheit des Menschen gegangen wäre! Denn gerade er war es, der immer wieder zu diesem Weg aufgerufen hat, zu dieser Wahrhaftigkeit, diesem klaren Erkennen, diesem Sich-wahrhaft-Vereinigen mit dem eigenen Inneren...

Zwischen Wissen und Weisheit

Oft wird die „Grundlagenarbeit“ damit begründet, dass Rudolf Steiner wichtigste Erkenntnisse formuliert hat, die man braucht, um zum Beispiel ein guter Waldorflehrer sein zu können. Das ist richtig. Die Weisheit und Fruchtbarkeit von Rudolf Steiners „Lehrplanempfehlungen“ erweist sich jeden Tag wieder in ungezählten Waldorfschulen. Und natürlich ist es von Bedeutung, ob ein Lehrer auch versteht, warum in welchem Alter welche Inhalte „dran“ sind und auch fruchtbar wirken – oder ob er es einfach nur „macht“, aber den tieferen Sinn dessen eigentlich selbst gar nicht versteht. Natürlich gibt es hier alle Stufen. Man wird kaum so empfindungslos sein, dass man nicht zumindest eine Ahnung von den Wirksamkeiten bekäme, die man ja täglich beobachten kann. Aber zwischen einer dunklen Ahnung, einem ahnenden Verständnis und einer vollen, tiefen bzw. immer tieferen Erkenntnis besteht noch ein großer Unterschied.

Und doch wird dieses Motiv zur Grundlagenarbeit sehr oft recht abstrakt verstanden. Das Ziel ist dann, verständnismäßig dasjenige aufzunehmen, was Rudolf Steiner beschrieben hat. Sodass man hinterher weiß – und dieses Wissen immer wieder erneuert, „auffrischt“ –, dass die kleinen Kinder im ersten Jahrsiebt die Nachahmung als ihr Lebenselement haben; dass auch noch im zweiten Jahrsiebt alles Rhythmische ihnen nicht nur Halt und Sicherheit gibt, sondern bis tief in die Lebenskräfte hinein stärkend wirkt; dass alles künstlerisch Durchdrungene für die Kinder reinste Seelennahrung ist und so weiter.

Natürlich hilft einem dies alles, sich über diese Tatsachen wirklich klar zu werden, und auch, den eigenen Willen zu impulsieren, den Unterricht möglichst auch so zu gestalten, dass dies tatsächlich wirksam werden kann; die notwendigen Fähigkeiten zu erringen und so weiter.

Trotzdem bleibt dies oft viel zu abstrakt, und dies liegt an der ganzen Unentschiedenheit, von der zuvor die Rede war. Man durchschaut nicht klar, dass es einen ungeheuren Unterschied macht, wie man bestimmtes Wissen aufnimmt. Rudolf Steiners spirituelle Erkenntnisse sind nicht irgendein Wissen. Wenn man sie aber aufnimmt wie irgendein anderes Wissen, so nimmt man sie falsch auf – und dies entfaltet ebenfalls seine Wirkung.

Dasjenige, worum es hier geht, berührt den ganzen großen Bereich desjenigen Kampfes, den Rudolf Steiner immer wieder geschildert hat: den Kampf zwischen jenen Mächten, die heute ganz und gar die Form der gewöhnlichen Intelligenz, des abstrakten Intellekts prägen – und jenen Mächten, die es ermöglichen wollen, dass der Mensch diese zu einem völligen Schein, zu toter Abstraktheit gewordene Intelligenz wieder in eine ganz andere, leuchtende Form überführen kann; dass er den Intellekt in eine völlige Auferstehung bringen kann. Auch in das, was hiermit berührt ist, müsste man sich mit vollem Ernst vertiefen, um zu erkennen, wie weitreichend hier eine absolute Realität geschildert wird – statt dasjenige abzuwehren, was man, eben aus dem Intellekt heraus, nur in seiner Totheit erfassen und damit eigentlich gar nicht erfassen kann.

Im Grunde geht es um das Verhältnis zwischen totem Wissen und lebendiger Weisheit – und um das, was das eine und das andere mit der Seele macht. Eine Seele, die nur totes Wissen in sich hat, nimmt selbst dessen Form an, erlaubt dem Toten und Abstrakten, sich in ihr auszubreiten – auch wenn sie selbst sich noch so lebendig fühlt. Sogar der Intellekt kann sich ungeheuer lebendig fühlen, denn er vermeidet absolut jenen Punkt, an dem er erkennen könnte, wo seine unüberwindbaren Grenzen gezogen sind. – Eine Seele aber, die lebendige Erkenntnis in sich hat, wird selbst immer mehr reines Leben, denn sie kann diese lebendige Erkenntnis nur dann in sich tragen, wenn sie selbst in höherem Sinne lebendig ist und bleibt. Lebendige Erkenntnis kann nur von einer lebendigen Seele errungen werden; kann nur errungen werden, wenn die Seele lebendig, regsam, innerlich tätig und aktiv wird.

Die Probe machen – innerlich anfangen

Es hat keinen Sinn, an diesem Punkt abstrakte Diskussionen anzufangen. Man kann einfach „die Probe aufs Exempel machen“ und innerlich einmal versuchen, ob es einem gelingt, überhaupt dasjenige wahrzumachen, was Rudolf Steiner als den Beginn und die Voraussetzung jeder inneren Entwicklung bezeichnet hat: die Stimmung der Devotion oder Ehrfurcht. – Es spielt dabei zunächst überhaupt keine Rolle, wodurch es einem gelingt – durch welche Vorstellung, Erinnerung oder was auch immer –, innerlich das Gefühl der Ehrfurcht wachzurufen und wach zu halten. Die Frage ist zunächst nur, ob man dazu überhaupt in der Lage ist.

Sehr viele Menschen werden sicher die Erfahrung machen, dass es ihnen zunächst überhaupt nicht gelingt, dieses Gefühl wirklich in sich zu erwecken. Sie haben vielleicht alle möglichen Bilder im Kopf, was Ehrfurcht beinhaltet – aber in ihrer eigenen Seele können sie dieses Gefühl nicht real machen. Dies ist eine erste innere Erfahrung. Sie kann auch in der Erfahrung einer Unfähigkeit, einer Ohnmacht bestehen...

Es ist nun aber ein absoluter Unterschied, ob man ein Wissen aufnimmt, das in das tote Verstandeswissen aufgenommen und integriert wird – auch wenn der Mensch, der dieses tote Verstandeswissen hat, dennoch große Sympathie gegenüber Kindern empfinden kann, wodurch die Seele sich nun einmal lebendig fühlt –, oder ob man die spirituellen, esoterischen Erkenntnisse, die Rudolf Steiner gegeben hat, in eine Seele aufnehmen kann, die sich mit der Stimmung der Ehrfurcht zu durchtränken weiß oder sich damit sogar schon so durchdrungen hat, dass diese Stimmung sie nie wieder ganz verlässt...

Denn erst eine Seele, die die Ehrfurcht kennt, erlebt, dass damit, in dieser Stimmung, das Denken selbst an einen neuen Punkt geführt wird. Sich selbst erlebend im gewöhnlichen Zustand einerseits und in der Stimmung, in der ganzen Verfassung der Ehrfurcht andererseits, erkennt die Seele, dass in dem letzteren Seinszustand eine ganz andere Lebendigkeit beginnt, ein viel tieferes Leben als zuvor, eine Art innere Auferstehung, die zunächst in einer Vertiefung der Gefühle, Gedanken und Empfindungen liegt. Nur in diesem Rückblick erkennt die Seele wirklich, welcher unendliche Abgrund zwischen den Gedanken liegt, die sie vorher hatte – oder im gewöhnlichen Denken hat –, und jenen Gedankentiefen, die sie dank der Ehrfurcht haben kann. Es ist, als ob das Denken selbst immer mehr lebendige Wärme aufnimmt – und diese ist in keinster Weise vergleichbar mit dem, was auch der gewöhnliche Mensch fühlt, wenn seine Gedanken von Gefühlen der Sympathie begleitet sind. Nicht um ein Begleitetsein von gewöhnlichen Gefühlen geht es, sondern um eine völlige Verwandlung des Denkens selbst.

Nur in diesem von Ehrfurcht durchdrungenen und von Wärme durchströmten Denken kann sich aber das wahre Leben der spirituellen Erkenntnisse Rudolf Steiners, der hinter ihnen stehenden Realitäten entfalten... Ob ich weiß und empfinde, dass Rhythmisches den Kindern gut tut; dass Kinder die geliebte Autorität brauchen und suchen und so weiter – oder ob ich das Wunder des Kindes selbst erleben kann, immer realer, tiefer, ja erschütternder: Das ist der weltenweite Unterschied, um den es hier geht.

Die Frage ist, ob ich zu demjenigen vorstoßen kann, was Rudolf Steiner als spirituelle Realitäten beschreibt. Die Frage ist, ob mir dies zumindest in der Empfindung gelingt, ob ich mich dem zumindest in einer wahrhaftigen Gesinnung der Ehrfurcht nähern kann – oder ob ich Schriften wie „Die Erziehung des Kindes“ doch immer wieder nur mit meinem gewöhnlichen, vertrockneten, gefühllosen Intellekt lesen kann. Es ist dann völlig egal, ob dies allein oder im Kollegium geschieht; auch, ob ich mich „wirklich darum bemühe“, den Text zu verstehen und auch gewisse Gefühle daran zu haben. Wenn ich diesen Durchbruch zur Realität der Ehrfurcht und darüber zur Realität des von Rudolf Steiner beschriebenen nicht schaffe, bleibt es die tote Form des Verstandeswissens.

Die Gefahr abnehmender Moralität

Neben der bleibenden Totheit des eigenen Verstandesdenkens und des aufgenommenen Wissens gibt es noch eine weitere, noch größere Gefahr. Denn das von Rudolf Steiner gegebene Wissen ist seinem Wesen nach etwas Lebendiges, etwas unendlich Tiefes. Wird es aber in die Totheit des abstrakten Wissens aufgenommen, führt dies zu einer Art Gegenschlag. Das Lebendige, das Heilige wird im Verstandeswissen im Grunde getötet, eigentlich gekreuzigt... Dies kann nicht ohne Folgen für die Seele bleiben. Denn im aller-allertiefsten Inneren weiß die Seele, dass dies eigentlich nicht geschehen darf, dass sie es aber trotzdem tut... Dass sie zu unfähig, zu faul, zu bequem, zu träge ist. Der Gegenschlag ist dann gerade alles, was damit zusammenhängt, diese Erkenntnis wieder zu begraben. Es ist alles, was mit dem Hochmut zusammenhängt, den totes Wissen, das aber eigentlich lebendige, heilige Weisheit ist, dem Träger dieses Wissens gibt.

Diese spirituelle Menschenerkenntnis lässt einen sich anderen Menschen überlegen fühlen. Der Waldorflehrer „weiß“, was das Wesen des Kindes ist; wie es sich entwickelt; was es braucht. Und er ist derjenige, der dem Kinde dies geben kann, der es in seiner Entwicklung begleitet und fördert, der im Laufe der Jahre so unendlich viel Gutes an dem Kinde tut... Er ist es, der auf Elternabenden den Eltern erklären kann, wo das Kind „gerade steht“, was es braucht; der Hinweise geben kann, was gut ist und was lieber nicht getan werden sollte... Er ist es, der sich mit seinen übrigen Kollegen gegenüber den Eltern zusammenschließen kann, wenn es Probleme gibt. Dann ist es „das Kollegium“, was diese oder jene Dinge beschlossen hat. Vielleicht sogar eine Kündigung, wenn es mit einem Kind „absolut nicht mehr geht“ und so weiter... Der Lehrer weiß aber auch gegenüber dem Kind, was gut und richtig ist. Er weiß, was das Kind braucht, das Kind weiß es nicht. Er tut alles zum Besten des Kindes; bestraft es auch, wenn es nötig ist... Er erzieht das Kind, weiß, dass manchmal Härte nötig ist; einst wird einem das Kind nochmal dankbar sein – und selbst wenn nicht, jetzt hat man das Richtige getan...

Es ist schwer, an diese Sphäre noch klarer und schärfer heranzukommen als durch diese Beschreibungen. Es ist eine Sphäre, die ganz und gar durchtränkt ist von den subtilen Wirkungen derjenigen Widersachermacht, die Rudolf Steiner als den Ursprung des Hochmuts, der Selbstsucht, der völligen Selbstüberschätzung beschrieben hat. Die Seele muss innerlich selbst mit vollem Wahrhaftigkeitsernst erleben, in welches Gebiet sie kommt, wenn solche Dinge geschehen, wie ich sie soeben in Worte zu fassen versuchte – und es lassen sich noch ungezählte andere Färbungen und Situationen ausdenken und tagtäglich beobachten...

An diesen Realitäten kann man die erschreckende Erkenntnis gewinnen, dass spirituelle Erkenntnis, wenn sie in das tote, gewöhnliche Verstandeswissen aufgenommen wird, nicht nur „einfach tot“ bleibt, was an sich nicht weiter schlimm zu sein scheint – sondern dass sie eigentlich unmittelbar zu einer abnehmenden Moralität führt. Denn es ist unmittelbar so, dass diese ihrem Wesen nach heilige Erkenntnis den Menschen überfordert, dass sie ihn sofort in die Versuchung des Hochmuts hineinstößt, wenn die Seele dieser Erkenntnis nicht schon bei ihrer Aufnahme mit der vollen Fähigkeit der Ehrfurcht begegnet – und sie so in einen ganz anderen Bereich führt, nämlich in jenen Bereich der Seele, wo diese Erkenntnis als lebendige, von Demut durchzogene Weisheit leben kann.

Wie dann beginnen?

Die Grundlagenarbeit in den Kollegien müsste bei dieser Erkenntnis ansetzen – und lange Zeit dort verharren. Der Beginn der Grundlagenarbeit müsste sein, gemeinsam an der Fähigkeit der Ehrfurcht zu arbeiten, an der Grundlegung moralischer Empfindungen und Gedanken der Seele.

Gerade in demjenigen Grundlagenwerk, in dem Rudolf Steiner beschreibt, wie man Erkenntnisse der höheren Welten erlangt, formuliert er unumstößlich als allerwichtigsten Grundsatz:

Deshalb muß jeder, der Geheimnisse über die menschliche Natur durch eigene Anschauung sucht, die goldene Regel der wahren Geheimwissenschaften befolgen. Und diese goldene Regel ist: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.
GA 10, S. 67.


Über einen solchen Satz – den natürlich nahezu Jeder kennt – liest und geht man sehr schnell hinweg, gerade weil auch er inzwischen zu einem toten Verstandes(Allgemein-)Wissen geworden ist. Man „weiß“ das ... und realisiert gar nicht mehr, was da eigentlich gesagt ist! Denn man muss sich einmal klarmachen, dass man allein schon mit dem Erwerb der Kenntnisse, wie sie in einem Büchlein wie „Die Erziehung des Kindes“ gegeben sind, sehr viele Schritte in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten gemacht hat, auch wenn sie einem bequem in einer Schrift übergeben worden sind. Das heißt aber, dass man sehr, sehr viele reale Schritte in der Vervollkommnung seines ganzen Charakters zum Guten machen müsste, um dem überhaupt gerecht zu werden! Es müsste eigentlich unmittelbar eine große Erkenntnis der Schuld, eines starken Versäumnisses aufkommen, wenn man bis zu diesem Punkt gekommen ist...

Vervollkommnung seines ganzen Charakters, seiner ganzen Seele, seines ganzen Wesens zum Guten... Hierbei müsste man eigentlich fortwährend verweilen. Nicht nur eine Konferenz lang, nicht nur ein Schuljahr lang, sondern ein Leben lang. Denn dies – dies ist der einzige Weg zu wirklicher Entwicklung, auch der einzige Weg zur Verwirklichung wahrer Waldorfpädagogik. Alle Erziehung ist Selbsterziehung...

An anderer Stelle spricht Rudolf Steiner davon, dass es darauf ankommt, fähig zu werden, „schon die Türe, schon die Pforte zu dem Raum – und mag er sonst ein noch so profaner sein, er wird geheiligt durch gemeinsame anthroposophische Lektüre – als etwas zu empfinden, was wir mit Ehrerbietung übertreten.“ Gewiesen ist hiermit auf einen vollkommenen Ernst in Bezug auf den eigenen Willen, geistiges Wissen, heilige Erkenntnis wirklich aufzunehmen – und sich von ihr lebendig machen zu lassen ... statt auch sie zum Abstrakten abzulähmen und abzutöten.

Der Angriff der Widersachermächte

Dies ist nicht üblich, niemand tut das, und so besteht eine große Angst und Abneigung davor. Denn es handelt sich natürlich um das Intimste der Seele, die Stimmung des Heiligen, der Ehrfurcht zu entfalten – und wir haben es absolut noch nicht gelernt, dies gemeinsam zu tun. Man schämt sich voreinander – und so wird es entweder sofort wieder halbherzig, oder es wird scheinheilig, dogmatisch und dadurch in anderer Weise oberflächlich und abstrakt. Der volle Ernst in Bezug auf die Ehrfurcht ist sehr, sehr schwer erreichbar und doch so unendlich notwendig... Denn solange wir diesen nicht erreichen, bleiben wir mit unserer Seele und unserem Intellekt doch immer in den Fängen jener Macht, die dieses Tote, Abstrakte unbedingt aufrechterhalten will.

Diese Macht will um keinen Preis, dass die Seele den vollen Mut zur Spiritualität, zur absoluten Wahrhaftigkeit im Denken, Fühlen und Wollen findet. Diese Macht will nicht, dass die Seele den Mut findet, innerlich zu brennen; die spirituellen Gedanken wirklich zu denken, die spirituellen Erkenntnisse wirklich aufzunehmen und sich zueigen zu machen, als wahr zu erkennen (nicht nur „anthroposophische Wahrheiten“, „Steiners Schilderungen“, sondern als reale Hindeutungen auf die wahre Wirklichkeit). Diese Macht will nicht, dass die Seele tiefe Gefühle reiner Ehrfurcht entwickelt, ein tiefes Streben nach einer Vervollkommnung zum Guten, eine starke Sehnsucht nach Läuterung und Heiligung...

Und die Mittel dieser Macht, um dies zu verhindern; um die Seele mit aller Kraft von diesem Schritt abzuhalten, sind: Scham, Furcht und Spott.

Die Seele wird immer wieder überwältigt von dem Gefühl der Scham – und so kann sie ein Leben lang vor demjenigen Schritt stehenbleiben, der ihre innerste Sehnsucht wäre, ja ist. Sie wird überwältigt von Furcht – was passiert, wenn ich der realen Spiritualität entgegengehe...? Und sie wird überwältigt von Spott – Spott aus ihrer Umwelt, Spott aus ihrem eigenen Inneren. Was ist schon dieses ganze „Spirituelle“? Mach dich doch nicht zum Narren... Übertreibe doch nicht... Und solange nicht ganz klar und zweifelsfrei erkannt wird, dass hier die Widersachermacht spricht, die das Voll-Menschliche mit aller Kraft bekämpfen will, wird die Seele in diesen Gedanken und Zweifeln gefangen bleiben. Sie wird sich diese Zweifel zueigen machen, sie wird im Sumpf der Scham stecken bleiben – und sie wird das Voll-Menschliche allenfalls leise ahnen, nie aber zu einer immer stärkeren Sehnsucht und einem klar erkannten Ideal machen können...

Die Anthroposophie als lebendige Weisheit, als Erkenntnis des wahren Menschentums, als inneres spirituelles Aufstehen, als ein auferstandenes, spiritualisiertes Denken, Fühlen und Handeln – das ist als etwas Welterschütterndes in die Welt gekommen. In dem Werk Rudolf Steiners liegt der Weg zu einem Wahrmachen, einem Verwirklichen des wahren Menschenwesens klar vor uns. Etwas Größeres als diesen Weg und dieses Ziel gibt es nicht. Deswegen ist auch der Gegenstoß der Widersachermächte der denkbar größte. Dieser Weg wird mit aller Macht lächerlich gemacht, als Illusion hingestellt; verleumdet, abstrakt gemacht und auf alle erdenkliche andere Art abgeschwächt, abgebogen, umgelenkt und unwirksam gemacht.

Es ist bereits ein voller Sieg der Widersachermächte, wenn die Anthroposophie nur „neben dem Leben herläuft“, wie Rudolf Steiner es einmal ausdrückte. Dann kann die Anthroposophie noch so sehr scheinbar der gesamte Lebensinhalt sein, aber der volle Ernst, die reale Verwandlung der Seele wird gar nicht verwirklicht. Im Gegenteil, Einzug in die Seele halten Hochmut und Dogmatismus... Und selbst diese kleiden sich dann noch in die Vorstellung des „der-Sache-Dienens“, des selbstlosen „Vertretens von Anthroposophie“. Die Waffen der Widersacher sind unbegrenzt. Und ihr wichtigstes Ziel ist es, diesen einen entscheidenden Punkt zu verhindern: die Umkehr der Seele bis zu jenem Punkt, wo das Denken selbst verwandelt wird, etwas Heiliges wird, sich mit einem reinen Willen durchdringt und sich zur Realität der Geistes-Erkenntnis erhebt...

Wozu also Grundlagenarbeit?

Das wahre Ziel der Grundlagenarbeit ist eine Verwandlung der Seele, eine Verwandlung hin zu ihrem wahren Wesen: Anthropo-Sophia. Indem der Mensch zu seinem wahren Wesen findet, ist er in allertiefster Weise mit allem verbunden, was ihn umgibt – denn sein seelisch-geistiges Wesen lernt immer tiefer mitleben mit allem Übrigen, mit dem Wesen alles Übrigen. Dies ist die wahre Kommunion des Menschen, das Verwirklichen seiner tiefsten Sehnsucht.

Und so, möchte ich sagen, besteht der Weg [...] zunächst in einer Umwendung des Willensimpulses, dann in einem Erleben der übersinnlichen Erkenntnis, dann aber im Miterleben des Zeitenschicksals, das Schicksal der eigenen Seele wird. Und man fühlt sich dann innerhalb der Menschheitsentwickelung darinnen gerade durch diese Umwendung des Willens, durch dieses Erfahren der Übersinnlichkeit alles Wahrheitswesens. Durch dieses Miterleben des eigentlichen Sinnes des Zeitalters fühlt man sich erst im vollen Sinne des Wortes als Mensch. Im Grunde genommen soll ja Anthroposophie nichts anderes sein als jene Sophia, das heißt jener Bewußtseinsinhalt, jenes innerlich Erlebte in der menschlichen Seelenverfassung, die den Menschen zum vollen Menschen macht. Nicht „Weisheit vom Menschen“ ist die richtige Interpretation des Wortes Anthroposophie, sondern „Bewußtsein seines Menschentums“.
13.2.1923, GA 257, S. 76.


Dies ist aber nur auf einem Wege möglich, der mit der Ehrfurcht beginnt. Ohne diese Ehrfurcht kann die Seele gar keine tiefe Hingabe an die Welt entwickeln – sie wird immer in den Fängen der Gegenmächte bleiben, sei es in den Fängen des Hochmuts und der Selbstheit, sei es in denen der Abstraktheit und des toten Scheins.

Am Ende des Heilpädagogischen Kurses sagte Rudolf Steiner, dies gleichsam mit flammenden Worten in die Herzen der anwesenden Menschen schreibend:

Und so ist es schon einmal, daß eigentlich aus jeder Grundlegung für ein spezielles Tun innerhalb der anthroposophischen Bewegung gesehen werden müßte das Herausblühen einer bestimmten Gesinnung. Die Dinge, die angegeben werden, sollten eigentlich nur wie die Wurzeln angesehen werden, aus denen die Gesinnungspflanze aufsprießt. Und da ist es wirklich notwendig, daß vor allen Dingen empfunden werde das Substantiell-Anthroposophische als eine Realität. Und Sie werden nichts erreichen, das kann im voraus gesagt werden, wenn Sie dasjenige, was Sie hier aufgenommen haben, nur wie etwas hinnehmen, was Sie eben erfahren haben und was nicht gesinnungsbildend gewesen ist.
7.7.1924, GA 317, S. 182.


Aber die Stimmung, die Gesinnung der Ehrfurcht ist nur die Grundlage, das möge man nicht vergessen! Es ist dasjenige, in das dann die höhere Erkenntnis aufgenommen werden soll. Der Weg, die Seele wirklich zum Geistigen zu erheben, muss dann erst noch gegangen werden. Die Verwirklichung des wahren Menschentums liegt erst im Verlauf dieses Weges. Wir begleiten die Kinder in ihrem Wachstum, aber was tun wir für das Wachstum unserer eigenen Seele? Lassen wir sie, wie sie ist? Betreiben wir allenfalls eine gewöhnliche Selbsterziehung, indem wir unsere Impulsivität und unsere Egoität ein wenig unter Kontrolle bringen – oder suchen wir wirklich das Geistige, eine radikale Überwindung der Totheit des Intellekts, eine wirkliche Auferstehung im Denken?

Worauf hier hingedeutet ist, das möge aus einem längeren Zitat Rudolf Steiners hervorgehen. Anthroposophie übersetzte er ins Englische einmal mit „Spiritual Activity“, das heißt wirkliches inneres Aufstehen, Entfalten einer geistigen, übersinnlichen Potenz; ein Verwirklichen des Ich als reale geistige Aktivität. Die „Philosophie der Freiheit“ heißt im Englischen auch „Philosophy of Spiritual Activity“. In anderem Zusammenhang beschrieb er den notwendigen Schritt, mit dem auch das ganze zentrale Freiheits-Erlebnis des inneren Menschen verbunden ist, so:

Man kann, wenn man diese Freiheit erfassen will, die ja ein unmittelbar mit dem Menschen identisches Erlebnis ist, nicht an Äußeres sich anlehnen. Man muß das Denken selber verbinden mit demjenigen, was man, ich möchte sagen, in dem Prozesse seines Ichs ist. Man muß dasjenige anschauen, was in der Freiheit vor einem steht, aber indem man anschaut, muß man zu gleicher Zeit das Denken entwickeln, wie man es sonst an den Erscheinungen der äußeren Natur entwickelt. [...] Will man dieses, wenn ich es da noch so nennen darf, gegenständliche Denken auf die Freiheit anwenden, dann muß man ein Übersinnlich-Geistiges, das im Menschenseelenweben in fortwährender Tätigkeit ist, noch auf eine viel innigere Weise durchdringen mit der Aktivität des Denkens. Man muß nicht ein Äußerliches, man muß dasjenige, was in einem selber sich entwickelt, mit der Aktivität des Denkens durchdringen. Dadurch aber reißt sich das, was nun Inhalt des Denkens wird, los von einem jeglichen Haften an einem Objekt im gewöhnlichen Sinne.
Was hier das Denken vollzieht, es wird selber ein Akt der Befreiung. Es hebt sich das Denken, indem es nicht inhaltlos wird, sondern gerade indem es angefüllt ist mit dem intimsten Fließen des Menschenwesens selbst, herauf zu einem freien Flusse, der das eine aus dem andern hervorströmen läßt. Es erfüllt sich der Seeleninhalt mit etwas, das er selber erzeugt und das in seiner Erzeugung zu gleicher Zeit objektiv ist. [...]
Wer dann in vollem Sinne ernst nimmt, was er da eigentlich tut, was da eigentlich in ihm geschieht, indem er sich in diesem Strom übersinnlicher Forschung bewegt, bei dem bietet sich nach und nach selbst der Weg, dasjenige, was er nun angewendet hat behufs Untersuchung der menschlichen Freiheit, auch für weitere Gebiete anzuwenden [nämlich die eigentliche Geistes-Forschung].
31.8.1921, GA 78, S. 49-51.


Mögen diese Absätze einem zunächst recht unverständlich erscheinen, so mag doch zumindest deutlich sein, dass hier im Grunde auf etwas Allergrößtes hingewiesen ist. Dass das Menschenwesen sich noch auf eine viel innerlichere und realere Weise erfassen kann, als das gewöhnliche, gegebene Bewusstsein es hergibt, möge aus diesen Worten deutlich hervorgehen. Der Rest kann nur aus einem eigenen inneren Tun und Aktivwerden, aus eigenen Versuchen, diesen inneren Weg zu betreten, bestehen. Man wird dabei im Werk Rudolf Steiners oder in der heutigen Zeit auch in den Büchern und Seminaren Mieke Mosmullers immer wieder die notwendige Unterstützung finden. Es kommt nur auf den Willen an, dies auch wirklich innerlich zu tun... 

Dann aber – wenn der Mensch in dieser Weise aktiv wird und sein wahres Menschentum sucht – wird auch die Grundlagenarbeit zu etwas, wodurch höheres Wissen so aufgenommen wird, dass es lebendig bleibt – und dieses lebendige Wissen führt einen zu einer wahren, tiefen Erkenntnis des Kindeswesens und macht einen zu einem wahrhaften Pädagogen. Aus dieser Grundlagenarbeit geht dann wirklich jene Weisheit und Intuition hervor, die Rudolf Steiner den Waldorflehrern so innig gewünscht hat.

Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts.
1.7.1923, GA 304a, S. 89.


Weisheit und Liebe – das ist das wahre Ziel des Menschen, sein wahres Menschentum. Und dies ist auch das einzige wahre Ziel aller Grundlagenarbeit...