12.02.2008

Die wahren Hintergründe des "Sekten"-Vorwurfs

In manchen Ländern werden Waldorfschulen insbesondere von kirchlicher Seite sehr bekämpft. Dies ist bemerkenswert, denn die Intentionen hinter den immer wiederkehrenden Vorwürfen sind für jeden, der mit der Waldorfpädagogik näher vertraut ist, vollkommen offensichtlich. So können die Gegner nur darauf spekulieren, dass die meisten Menschen, die von diesen Vorwürfen erfahren, durch die Unkenntnis der Waldorfpädagogik irregeführt werden können. | PDF


Bemerkenswert ist ebenso die Tatsache, dass sich diese Art von Gegnern der Waldorfpädagogik auf die Taktik der Vorwürfe beschränkt, ohne sich je mit Waldorflehrern in eine Diskussion einzulassen erst recht nicht öffentlich. Die Vorwürfe entfalten ihre Wirkung nur isoliert, in der Irreführung – im Dialog würde ihre Unhaltbarkeit gerade offenbar werden. 

Gegner dieser Art wollen also durch die einseitige Darstellung ihrer Vorwürfe wirken – sie wollen den Lesern (oder Hörern) ein Urteil über die Waldorfschule nahelegen, ohne dass sie je eine Waldorfschule von innen erlebt haben. Solche Urteile ohne jede eigenständige Erfahrungsgrundlage nennt man Vorurteile. Diese sind in unserer heutigen Zeit weit verbreitet, mehr oder weniger unbewusst trägt fast jeder Mensch zahlreiche Vorurteile über alles Mögliche mit sich herum. Die Gegner der Waldorfschule aber arbeiten ganz bewusst daran, anderen Menschen Vorurteile einzupflanzen – mit falschen Behauptungen.

Wenn man sich dieses Vorgehen klar macht, wird man erkennen, dass hier mit der Unfreiheit anderer Menschen gerechnet und gewirkt wird: Die anderen Menschen sollen sich kein eigenes Urteil über die Waldorfschule bilden, sondern in möglichst blindem Gefolge das aus Vorwürfen bestehende Urteil der Gegner übernehmen. Insofern die Gegner von kirchlicher Seite kommen oder dieser Seite nahe stehen, muss gefragt werden, ob die Unfreiheit anderer Menschen im Denken und Urteilen ein Prinzip ihres Glaubens ist?

Weitergehend wäre zu fragen, aus welchen Motiven heraus die Gegner ihre Vorwürfe erheben. Diese Frage ist oft wesentlich aufschlussreicher als die alleinige Frage nach dem Inhalt der Vorwürfe. Erstaunlicherweise sind die Vorwürfe in der Regel erstaunlich abstrakt. Wovon wird gesprochen? Von "Sekte", von einem Widerspruch zum "rechten Glauben" oder ähnlichem.

Hintergründe des "Sekten"-Begriffs

Wenden wir uns zunächst dem Wort "Sekte" zu, so zeigt sich, dass dieses Wort im Grunde keinerlei klaren Inhalt hat. "Sekte" ist die diskreditierende Bezeichnung für eine Abspaltung von einem Ganzen.

In anderen Zusammenhängen ist damit teilweise gemeint, dass die so als "Sekte" bezeichnete Menschengemeinschaft sich selbst nach außen abschließe. Nun dient aber gerade der "Sekten"-Vorwurf der Waldorfschul-Gegner in aller Regel der Diskreditierung der Waldorfschule. Man soll sich gerade kein eigenes Urteil mehr bilden, man soll mit der Waldorfschule nicht ins Gespräch kommen. Damit sind es also gerade die Gegner, die die Waldorfschule isolieren wollen, während sich die Waldorfpädagogik stets allen Menschen öffnen wird, die ein Interesse an ihr haben.

Auch die Abspaltung vom "rechten Glauben" kann im eigentlichen Sinne nicht gemeint sein, denn die Waldorfschule ging niemals aus der katholischen oder sonst irgendeiner Kirche hervor. Somit wird also das äußerst negativ besetzte Wort "Sekte" entgegen aller Bedeutungen irreführend nur deshalb gebraucht, um auszudrücken, dass die Waldorfschule jedenfalls nicht mit dem eigenen, "rechten" Glauben vereinbar ist, den man selbst vertritt.

Dass die Waldorfschule keine Konfession vertritt und auch von keiner Konfession vereinnahmt werden kann, davon kann sich jeder interessierte Mensch jederzeit selbst überzeugen. Die Gegner von kirchlicher Seite versuchen nun aber, daraus gerade einen Vorwurf zu machen, nach dem Motto: "Wer nicht zu uns gehört, ist des Teufels". Die Folgen einer solchen Denkweise können in der Geschichte zur Genüge studiert werden: Gerade die katholische Kirche bekämpfte Andersgläubige (seien es christliche Strömungen, seien es andere Religionen) seit vielen Jahrhunderten in der blutigsten Weise.

Blickt man auf dieses Vorgehen, stellt sich ganz real die Frage, wer dem wirklichen Christentum nahe steht und wer nicht. Brachte Christus etwa das Wort: "Du sollst Deinen Gegner umbringen – physisch oder zumindest in der öffentlichen Meinung."? Oder sagte er: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."? Ist der christliche Impuls das liebevolle Bemühen um ein Verständnis des anderen Menschen – oder die intolerante Verurteilung, das Säen von Vorurteilen und andere Arten der Bekämpfung?

Damit kommen wir langsam zu der Frage nach den Motiven der Gegner – und zugleich zum Wesen der Waldorfpädagogik. Die Gegner von kirchlicher Seite würden die Waldorfpädagogik ja nicht in solch heftiger Weise bekämpfen, wenn sie sie nicht als "Gefahr" sehen würden. Was für eine Gefahr?

Vom Wesen der Waldorfpädagogik

Die Grundlage der Waldorfpädagogik ist ein spirituelles Menschenbild, das den Menschen als ein geistig-seelisch-leibliches Wesen erkennt. Das frühe Christentum hat um dieses dreigliedrige Wesen des Menschen noch sehr genau gewusst. Diese spirituellen Hintergründe seien hier nicht deshalb geschildert, weil sie etwa in den Unterricht einfließen würden – das tun sie nicht –, sondern weil sie eine wesentliche Grundlage für die innere Gesinnung des Waldorflehrers bilden – und für die Motive der Gegner.

Der Waldorflehrer sieht in jedem einzelnen ihm anvertrauten Kind eine ewige, sich wiederverkörpernde Individualität, die aus Zeitenfernen der Vergangenheit kommt, Fähigkeiten mitbringt und neue Fähigkeiten erringen will. Der Grundgedanke der Waldorfpädagogik ist der der Entwicklung. Und weil das Kind und seine werdende Individualität im Zentrum dieser Pädagogik steht, ist sie eine "Erziehung zur Freiheit". Durch einen wahrhaft künstlerischen Unterricht soll dem Kind ein möglichst tiefer seelischer Reichtum vermittelt werden, aus dem heraus es sein je individuelles Wesen entwickeln wird. Mit der Pubertät wird energisch das eigene Urteil wachgerufen, vielfältigste Unterrichtsinhalte führen den jungen Menschen zugleich ganz an das praktische Leben heran. Waldorfpädagogik entwickelt zugleich ein umfassendes Interesse für die Welt und eine Entwicklung der eigenen Individualität, der eigenen Fähigkeiten und Impulse.

Im Grunde ist es dies, was die Gegner bekämpfen wollen: Aus der Waldorfschule kommen eigenständige Menschen, die das Leben und die Welt lieben, die sich aber nicht sagen lassen, was sie zu glauben, zu denken oder zu tun haben. Das Ziel der Waldorfschule sind freie Menschen, die ihre moralisch-sittlichen Impulse und auch alles religiöse Erleben in sich selbst finden. Die zahllosen Schriften und Vortragswerke von Rudolf Steiner zeigen von immer wieder neuen Standpunkten, dass das Menschenwesen diese eigenständige Beziehung zu der realen geistigen Welt finden kann. Man braucht dem erwachsenen Menschen keine Glaubensinhalte, Gedanken und Willensimpulse vorgeben – ja man darf es im christlichen Sinne überhaupt nicht –, sondern er findet all dies in sich selbst.

Als freier Mensch ist der Mensch von Gott geschaffen worden. Nicht als unmündiges Wesen, das seine Gedanken, Gefühle und Willensrichtungen von anderen (offenbar nicht unmündigen?) Menschen zu empfangen habe. Sondern als freie Individualität, die in ganz eigener Weise sittliche Impulse aus der göttlich-geistigen Welt heruntertragen und so in freier, individueller und schöpferischer Weise am Fortgang der Menschheitsentwicklung mitarbeiten kann.

Das alles wollen die Gegner jeder Konfession nicht. Was droht den Kirchen von Seiten der Waldorfpädagogik? Nicht unbedingt, dass sie überflüssig werden – aber dass sie ihre Macht verlieren! Freie Menschen werden auch eigenständig entscheiden, was eine Kirche ihnen bedeuten kann. Auch eine Kirche und ihre Vertreter und Amtsinhaber werden ihre religiöse Wahrheit und Wahrhaftigkeit dann vor dem freien, wahrhaftigen Urteil des Menschen erweisen müssen. Dies ist der tiefste Grund, warum in manchen Ländern die Waldorfpädagogik – und sei sie zunächst noch so schwach entwickelt – schon im Ansatz und mit den heftigsten Mitteln bekämpft und verleumdet wird.