06.02.2008

Die Waldorfschule – ihr pädagogischer und sozialer Auftrag

Veröffentlicht im Sonderheft "1.000 Waldorfschulen" der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners vom April 2008. | PDF

Die Waldorfschule hat einen pädagogischen und sozialen Auftrag. Der folgende Aufsatz stellt - u.a. anhand wichtiger Zitate Rudolf Steiners - ihr Wesen und ihren engen Zusammenhang dar. Der pädagogische Auftrag der Waldorfschule, wie er von Rudolf Steiner dargestellt wurde, kann im Grunde nur erfüllt werden, wenn auch der soziale Auftrag erkannt und in seiner ganzen Tiefe ergriffen wird.


Was ist Waldorfpädagogik? Die Waldorfpädagogik ist ein Impuls, der nicht nach Rezept funktioniert. Sie ist in ihrer Grundlegung durch Rudolf Steiner am Wesen des Kindes entwickelt – und muss von jedem einzelnen Lehrer an den konkreten Individualitäten, die seiner Obhut anvertraut sind, täglich aufs Neue lebendig gemacht werden. 

"Alle Erziehung ist Selbsterziehung"

Waldorfpädagogik ist Zukunftspädagogik, weil sie ganz auf das Wesen des Kindes ausgerichtet ist das seine Entwicklung und seine Fähigkeiten aus der Zukunft mitbringt. Die meisten Waldorflehrer werden den Satz von Rudolf Steiner kennen, wo er sagt: "Das Kind, das ich erziehe, darf ich nicht von mir aus bestimmen, sondern aus seinem rätselhaften Inneren habe ich herauszuholen, was mir selbst ganz unbekannt ist."[1] – welch eine Aufgabe! "(...) und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß."[2]

Die zentrale Voraussetzung des Waldorflehrers ist daher die eigene Selbsterziehung und die ernsthafte, ständige Arbeit an der spirituellen Menschenkunde. Allein dies "führt zu einer Menschen-Erkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann."[3] Und: "Wer den Sinn für echte Menschenerkenntnis hat, dem wird der werdende Mensch in einem solch hohen Maße zu einem von ihm zu lösenden Lebensrätsel, daß er in der versuchten Lösung das Mitleben der Zöglinge weckt."[4] – An solchen Worten ahnt man, wie sehr das ernste Bemühen des Lehrers und die Selbsterziehung des Kindes ineinander greifen müssen.

Darüber hinaus kennt wohl jeder Waldorflehrer die Schlussworte Rudolf Steiners nach dem ersten Lehrerkurs, in denen er den künftigen Lehrern vier Dinge noch einmal besonders ans Herz legte: Der Lehrer sei ein Mensch der Initiative, der bei allem, was er tut, voll dabei ist. Er soll sich für die großen und kleinsten Angelegenheiten des einzelnen Kindes und auch der ganzen Menschheit interessieren. Er muss ein tief wahrhaftiger Mensch sein, der nie Kompromisse mit dem Unwahren schließt. Und er darf seelisch nicht verdorren und versauern.[5]

Ein Wesentliches, was aus all diesen Worten spricht, ist das – durch die Menschenkunde und Seelen-Erkenntnis unendlich zu vertiefende – innere Band zu den Schülern. Rudolf Steiner klagte schon 1922 in einem Brief an Edith Maryon, die Lehrer hätten den Kontakt mit der Schülerschaft der höheren Klassen ganz verloren. Es scheint, als droht dieser Verlust auch durch die Zeitverhältnisse heute immer früher. Vermeiden kann man ihn nur durch innere Schulung, Liebe, Interesse, Begeisterung, Humor und Intuition. Das ist ungeheuer viel – aber darum geht es.

"Mit dem Kinde müssen wir innerlich zusammenleben können! Wir müssen so das Menschliche lebendig in uns aufgenommen haben, daß wir mit dem Kinde lebendig zusammenleben können. Bloßes Verstehen des Kindes nützt gar nichts."[6]

Liebe zur Tat

Mit dem Interesse des Waldorflehrers für die ganze Menschheit klang der soziale Auftrag der Waldorfschule schon an. Dieser Auftrag hat ganz verschiedene Aspekte. Letztlich geht es aber immer um das große Ziel, der Menschheit wirkliche Erneuerungskräfte einzupflanzen. Zum einen dadurch, dass die herangewachsenen jungen Menschen sowohl ein soziales Empfinden, als auch ihre individuellen Fähigkeiten und Impulse entwickeln konnten ("Erziehung zur Freiheit"). Zum anderen durch das, was aus der Schulgemeinschaft einer einzelnen Schule und einer ganzen Schulbewegung an Impulsen in die Gesellschaft hineingetragen wird.

In welch großem Maßstab Rudolf Steiner dies immer sah, zeigt sich an folgenden Worten: "Die Sache, um die es sich handelt, ist diese, daß die Menschen weitherzig werden, daß sie mit ihrem Herzen Anteil nehmen können an der Gesamtzivilisation. Das ist etwas, was durch die Prinzipien derjenigen Pädagogik, die hier vertreten wird, hineinzubringen versucht wird zuerst in die Lehrerschaft (...) und auf dem Umwege durch die Lehrerschaft in die Schülerschaft."[7]

An mehreren Äußerungen Rudolf Steiners wird deutlich, wie zentral wichtig es ihm war, dass die Waldorfschule auf das soziale Leben hin erzieht, auf die Entwicklung eines sozialen Empfindens, durch das der "Pflichtbegriff" zusammenwächst mit der Liebe zur Tat, zur Arbeit. Und so konnte Steiner sogar sagen:

"Da begründen wir dann wahre Arbeitsschulen, (...) wo durch das Leben, das die Autorität in die Schule hineinträgt, auch das Schwerste von dem Kinde hingenommen wird, das Kind gerade sich herandrängt zu dem, was zu überwinden ist, nicht zu dem, was es nur gerne tut. Darauf ist nun auch gerade die pädagogische Grundlage der Waldorfschule angelegt, daß das Kind in der richtigen Weise arbeiten lernt, daß das Kind mit seinem ganzen vollen Menschen herangeführt wird an die Welt, die in sozialer Beziehung die Arbeit fordert, die auf der anderen Seite aber auch fordert, daß der Mensch dem Menschen selbst in der richtigen Weise, und vor allem sich selbst in der richtigen Weise gegenübersteht."[8]

"Darauf muss alle Erziehung hinauslaufen, diese moralischen Intuitionen zu wecken, so dass jeder Mensch fühlt von sich: Ich bin nicht von dieser Erde allein, ich bin nicht bloß ein Produkt der physischen Vererbung, ich bin aus den geistigen Welten heruntergestiegen auf die Erde und habe etwas zu tun auf dieser Erde als dieser einzelne individuelle Mensch."[9] – Hier zeigt sich unmittelbar, wie "Erziehung zur Freiheit" zugleich ein volles Hineinstellen in die Welt bedeutet. Denn das Erleben der Freiheit ("das Größte, was man vorbereiten kann in dem werdenden Menschen"[10]) ist unmittelbar mit dem individuellen Aufscheinen dieser moralischen Intuitionen im einzelnen Menschen verbunden.

Von der Notwendigkeit eines freien Geisteslebens

Diesen Grundcharakter muss eigentlich alle Erziehung haben. Ein wirklich existierendes freies Geistesleben würde das gesamte Bildungswesen verwandeln. Hier nun liegt der eigentlich gesellschaftliche Auftrag der Waldorfschule. Als "Kind der Dreigliederung" ist sie berufen, ganz entschieden für diese Dreigliederung des Sozialen Organismus einzutreten.

Die drei Ideale der Französischen Revolution heben sich gegenseitig auf, wenn sie nicht nach Lebensgebieten differenziert werden: "Freiheit" im Wirtschaftsleben führt zu sozialer Not und Ungerechtigkeit. "Gleichheit" und staatliche Bevormundung im Geistesleben führt zu Unfreiheit, Mittelmaß und einer Lähmung aller individuellen Impulse. "Brüderlichkeit" im Rechtsleben führt zu Korruption...

Ausgehend von der Wirtschaftsideologie, dass der Egoismus des Einzelnen zum maximalen Wohlstand Aller führe, ist dieser Egoismus weltweit auf dem Vormarsch – begleitet von einer materialistischen Weltanschauung und vollkommen abstrakt gewordenen Wissenschaft. Gesellschaftlich gesehen, sind alle wirklichen sozialen Impulse im Grunde verschwunden.

Entscheidend für eine Veränderung wäre ein freies Geistesleben, weil ein soziales Wirtschafts- und Rechtsleben nur entstehen kann, wenn die Menschen sozial denken und empfinden können: "In dem freien Geistesleben wird der Einzelwille seine soziale Richtung erhalten; in dem selbständigen Rechtsstaate wird aus den sozial gesinnten Einzelwillen der gerecht wirkende Gemeinschaftswille entstehen. Und die sozial orientierten Einzelwillen, organisiert durch die selbständige Rechtsordnung, werden sich gütererzeugend und güterverteilend im Wirtschaftskreislauf den sozialen Forderungen gemäß betätigen."[11]

Solange es kein freies Geistesleben gibt, gibt es auch noch keine wirkliche Demokratie, denn der Staat nimmt Einfluss auf etwas, was nicht demokratisch ge-regelt werden kann. "Auf demokratischem Boden (...) kann kein Impuls entstehen, der richtunggebend sein darf für eine menschliche Betätigung, die frei aus der individuellen Begabung des Menschen fließen soll. (...) Will man aus dem bisherigen Staate eine wahre Demokratie herausgestalten, so muß man aus dieser alles dasjenige herausnehmen und es seiner vollen Selbstverwaltung überliefern (...)"[12]

Der soziale Auftrag – und die Frage der Finanzierung

Wie sehr die Waldorfschule den Auftrag hat, für ein solches freies Geistesleben einzutreten, das hat Rudolf Steiner immer wieder betont. Sie soll und kann auch gar nicht als isolierte "Winkelschule" existieren: "Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal so viel Verständnis entwickeln, daß ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule [des Schulwesens, H.N.] vom Staat, mit allen Kräften dafür einzutreten, (...) die Loslösung der Schule vom Staat anzustreben, dann ist die ganze Waldorfschulbewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben."[13]

In diesem Zusammenhang wies Steiner aber auch immer wieder auf die Notwendigkeit eines "Weltschulvereins" hin, der ein solches freies Geistesleben (nicht nur Waldorfschulen) finanziell überhaupt erst ermöglichen müsste: "Daher versuchen Sie (...) zu wirken dafür, daß nicht bloß durch allerlei idealistische Bestrebungen gewirkt wird, sondern daß gewirkt werde durch ein solches Verständnis für die Freiheit des Geisteslebens, daß wirklich im weitesten Umfange für die Errichtung freier Schulen und Hochschulen in der Welt Geld beschafft werde."[14]

Die individuelle "zivilgesellschaftliche" Finanzierung des freien Geisteslebens betonte Rudolf Steiner auch an anderer Stelle: "Hat diese Anthroposophische Gesellschaft in irgendeinem Staate je eine Staatssubvention gehabt?" Und direkt danach spricht er von der gemeinsamen Aufgabe, den Menschen klarzumachen, "dass alles Geistesleben von dieser Art sein muss, von dieser Art von Verfassung sein muss."[15]

Soll nun die Waldorfschule noch mehr eine "Reichen-Schule" werden? Ganz im Gegenteil. Auch die erste Waldorfschule war eine (wenn auch im wesentlichen durch Emil Molt) frei finanzierte Schule für Arbeiterkinder. Es kommt also gerade darauf an, neue, freie Wege der Finanzierung zu erproben. Natürlich geht dies nur, wenn man überhaupt Verständnis für die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens zu gewinnen sucht. Wenn die Erkenntnis wächst, dass ein wirkliches Geistesleben heute überhaupt nicht existiert – aber tief notwendig ist, wenn die Not der Gegenwart überwunden werden soll. Andernfalls wird sich der Vormarsch der Abstraktion, der Kontrolle und Einflussnahme und der unsozialen, ja lebensfeindlichen Impulse auf allen Gebieten unaufhaltsam fortsetzen.

Die Waldorfschule soll also weder eine von Staates Gnaden finanzierte, noch eine ohne Zuschüsse ums Überleben kämpfende "Winkelschule" sein, sondern mit ihren Lehrern (und Eltern) gerade das Zentrum und der kräftigste Impulsator für die dringend notwendigen Anfänge eines wirklichen neuen Geisteslebens. Ist ein solches erwacht, werden sich die neuen Wege der Finanzierung gleichsam von selbst entwickeln.

Wer sonst?

Das einfache Entgegennehmen staatlicher Subventionen (und das Klagen über ihre Reduzierung) dagegen lähmt die Initiative und macht blind für die eigene Aufgabe – und die Not der freien Schulen in anderen Ländern, die eben ohne alle Zuschüsse, aber auch ohne ein existierendes Geistesleben im Grunde kaum dauerhaft existieren können. Subventionen schläfern ein – zumindest für den sozialen Auftrag. Es ist eigentlich kaum anderes möglich, als dass durch Subventionen ein bürgerlich-egoistisches Element in die Waldorfschule eindringt. In allgemeinerem Zusammenhang sagte Rudolf Steiner einmal:

"Einfach das Bourgeois-Sein entwickelt antisoziale Impulse, weil das Bourgeois-Sein im Wesentlichen darin besteht, sich eine solche Sphäre des Lebens zu schaffen, wie es einem passt, so dass man in ihr beruhigt sein kann. Wenn man dieses eigentümliche Streben des Bourgeois untersucht, so besteht es darin, dass er sich nach den Eigentümlichkeiten unseres gegenwärtigen Zeitraumes auf ökonomischer Grundlage eine Lebensinsel schaffen will, auf welcher er mit Bezug auf alle Verhältnisse schlafen kann (...) Besitz schläfert ein; Notwendigkeit im Leben zu kämpfen, weckt auf."[16]

Ob man die Frage der Finanzierung so ernst nehmen kann, wie sie hier dargestellt wurde, oder nicht – die Waldorfschule hat den sozialen Auftrag, Vorkämpferin eines freien Geisteslebens zu sein, und überall fehlt es nicht nur an Impulsen, sondern auch an Mitteln für ein solches. An der Frage der Finanzierung kommt man daher letztlich nicht vorbei – vorbei sind dagegen unwiderruflich die Zeiten voller Staatskassen. Es müssen also andere Wege gefunden werden, wenn man überhaupt den Mut hat, für ein freies Geistesleben einzutreten. Und wer sonst sollte – und könnte überhaupt – Vorkämpfer eines solchen Geisteslebens sein, wenn nicht die Waldorfpädagogen?

Nur wer die Not der Zeit wirklich empfindet, kann auch ein guter Waldorflehrer sein. Man wird die jungen Menschen im hier angedeuteten Sinne gar nicht anders erziehen können. Und wenn man sich fragt, mit welchen Impulsen diese jungen Menschen auf die Erde gekommen sind, muss man sich doch auch fragen: Erwarten denn diese Kinder und Jugendlichen nicht sehnlich solche Lehrer, die ihnen zeigen, wie man stark und mutig für andere Verhältnisse eintreten und wirkliche soziale Impulse in die Welt stellen kann? Hier schließt sich der Kreis – sozialer Auftrag und pädagogisches Ziel der Waldorfschule gehören engstens zusammen.

"Wer nicht in einer Art von Seelenschlaf die gegenwärtige Krisis des europäischen Zivilisationslebens an sich vorübergehen läßt, sondern sie voll miterlebt, der (...) muß sie [ihre Ursprünge] tief im Innern des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens suchen. (...) Die Waldorfschule ist nicht eine "Reformschule" wie so manche andere (...), sondern sie ist dem Gedanken entsprungen, daß die besten Grundsätze und der beste Wille in diesem Gebiete erst zur Wirksamkeit kommen können, wenn der Erziehende und Unterrichtende ein Kenner der menschlichen Wesenheit ist. Man kann dies nicht sein, ohne auch eine lebendige Anteilnahme zu entwickeln an dem ganzen sozialen Leben der Menschheit. Der Sinn, der geöffnet ist für das Wesen des Menschen, nimmt auch alles Leid und alle Freude der Menschheit als eigenes Erlebnis hin. Durch einen Lehrer, der Seelenkenner, Menschenkenner ist, wirkt das ganze soziale Leben auf die in das Leben hineinstrebende Generation. Aus seiner Schule werden Menschen hervorgehen, die sich kraftvoll in das Leben hineinstellen können."[17]

Fußnoten


  [1] GA 53, S. 312f.
  [2] GA 306, S. 131.
  [3] GA 24, S. 269. 
  [4] GA 24, S. 87.
  [5] GA 294, S. 193f.
  [6] GA 304a, S. 89.
  [7] GA 307, S. 244f.
  [8] GA 304, S. 117.
  [9] GA 305, S. 225.
[10] GA 308, S. 72.
[11] GA 24, S. 247.
[12] GA 24, S. 206.
[13] GA 337b, S. 248.
[14] ebd., S. 249.
[15] GA 190, S. 212.
[16] GA 186, S. 102.
[17] GA 300c, S. 15.