21.08.2009

Das zentrale Geheimnis ernst nehmen

"Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muß."
Rudolf Steiner, 20.4.1923, GA 306, S. 131.


Diese zentralen Worte Rudolf Steiners werden eigentlich nirgendwo ernst genug genommen. Dies ist um so tragischer, als sie das zentrale Geheimnis jeder Pädagogik in Worte fassen:

Ohne Selbsterziehung ist Erziehung nicht möglich. Der eine Aspekt dieser Wahrheit ist die Tatsache, dass das Kind nichts entfalten wird, was nicht schon als Anlage in ihm verborgen ist. Der andere Aspekt aber ist, dass sich wahre Erziehung nur in dem Maße ereignen kann, wie der Erzieher sich selbst erzieht. Nur dann nämlich entfaltet er wirklich und real diejenige Umgebung, an dem sich das Kind selbst erziehen kann.

"Der Geist entwickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. Aber sein Leben ist dasjenige, das man als Erzieher in seiner Umgebung entfaltet. [...] Er muß in der Umgebung des Kindes so leben, daß der Kindesgeist in Sympathie das eigene Leben an dem Leben des Erziehers entfalten kann."
Rudolf Steiner, 19.8.1922, GA 305, S. 74f.


Es geht hier nicht um die Frage, ob ein Kind rechnen lernt, ob es sich geographisches oder geschichtliches Wissen aneignet oder sogar Stricken, Feldmessen und Eurythmie lernt. Es geht um Fragen tiefen Menschentums Fragen, wo auch der Erwachsene ganz am Anfang, eigentlich vor dem Anfang steht.

Solange man die Frage der Selbsterziehung noch nicht in ihrem ganzen Ernst und ihrer ganzen Tragweite begreift, ist man noch kein Waldorflehrer. Man wird erst in dem Maße ein Waldorflehrer, in dem man die Selbsterziehung als zentrale Bedingung wahrer Pädagogik zu erleben anfängt als realen Aufruf an einen selbst, dem man aus innerstem Entschluss heraus zu folgen beginnt.

Diese Erkenntnis und dieser Entschluss bilden die feierliche Geburtsstunde des wahren Erziehertums ja zugleich des wahren Menschentums. Der Mensch beginnt, wahrhaft Mensch zu werden, Mensch werden zu wollen. Er beginnt, sich selbst zu erziehen im wirklichen Sinne. Diese Selbsterziehung kann dann immer weiter fortschreiten, sie nimmt kein Ende, sie kann immer edler werden. Entscheidend aber ist, dass sie einmal beginnt.

"Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur läßt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben."
Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, S. 170.

Der Sündenfall der Waldorfpädagogik – ins "Paradies" der bequemen Illusion

So zentral dieses großartige Geheimnis für jede Pädagogik ist, so sehr wird es heute vernachlässigt, missachtet, ja verachtet. Man will es sich bequemer machen. Man spricht nicht darüber und man tut nichts. Nicht dass sich nicht Einzelne bemühen, hier und da ein besserer Mensch zu werden, besser zuhören zu lernen, ein wenig die eigene Cholerik unter Kontrolle zu halten, ein wenig die eigenen Antipathien zu bekämpfen. Das mag sehr wohl der Fall sein.

Aber dass man als ("Waldorf"-)Bewegung die Selbsterziehung nicht ganz und gar ins Zentrum all seiner Bemühungen stellt, das ist der Sündenfall dieser Bewegung und offenbart, wo sie steht bzw. wie weit ihre Erkenntnis und ihr Wille in Bezug auf die essentiellen Grundlagen der Waldorfpädagogik reicht.

Wie in einem Brennpunkt offenbart sich dieser Mangel an Selbsterkenntnis und dieser Unwille zur Selbsterziehung in der Tatsache, dass ein Buch, das eigentlich ganz und gar Aufruf zur Selbsterziehung ist, abgewehrt, verkannt, verleumdet und totgeschwiegen wird: "Eine Klasse voller Engel. Über die Erziehungskunst" von Mieke Mosmuller.

Dieses Buch wird nicht gewollt und nicht verstanden wie die Selbsterziehung. Wie man sich zu diesem Buch stellt, ist regelrecht ein Prüfstein dafür, wie ernst man es mit der Selbsterkenntnis und der Selbsterziehung meint. Das sind harte Worte, aber ebenso hart sollte man einmal mit sich selbst "zu Gericht gehen" und seinen eigenen Ernst prüfen. Wer nur die Kritik des Buches sieht und empfindet (und sich und die Waldorfbewegung "getroffen", "ungerecht behandelt" usw. fühlt), der kommt über das eigene angenehme Selbstbild und die bequemen Illusionen eben nicht hinaus.

Die Frage der Selbsterkenntnis und Selbsterziehung ist viel ernster und größer zu nehmen als alle alltägliche Bequemlichkeit! Selbsterziehung bedeutet gerade die Überwindung dieser allgegenwärtigen Bequemlichkeit und des völligen Fehlens eines realen Willens zu wirklicher innerer Entwicklung. Ohne dass man diese Selbsterziehung ganz real und in vollem Ernste und voller Bewusstheit begonnen hat, kann man in dieser Frage nur in vollkommenen Illusionen und Fehlurteilen verharren.

Wenn man die Notwendigkeit und die Bedeutung der Selbsterziehung nicht absolut klar erkannt hat, hat man sie eben noch nicht erkannt! Ohne diese zentrale Erkenntnis lebt man noch in einer Art bequemer Traumwelt. Es scheint alles in Ordnung zu sein. Es geht alles auch "ohne" und möglicherweise bildet man sich ein, mit seinem Vorhaben "etwas besser zuhören zu wollen" usw., schon bedeutende Schritte zu tun.

All diese bequemen Vorstellungen kennzeichnen die bequeme, illusionäre Wahrnehmung der "Wirklichkeit" vor der realen Erkenntnis der Bedeutung der Selbsterziehung.

Mit dieser Erkenntnis jedoch, die man sich nach und nach, immer tiefer, erringen muss, ist die Welt plötzlich eine ganz andere. Es ist, als ob man immer mehr erst in der Wirklichkeit ankommt.

Die Illusionen vergehen, man will sie nicht mehr, man will nicht mehr die bequeme, angenehme Selbstwahrnehmung, sondern man will die unbequeme, aber befreiende Selbsterkenntnis. Man will dem, der man ist, zunehmend durch und durch ehrlich ins Auge schauen und mehr und mehr sieht man den Abstand zu jenem, der man werden kann, werden möchte. Aber nun, wo die Täuschungen verschwinden, steht man zum ersten Mal wirklich am Anfang. Man darf beginnen! Die Entwicklung beginnt nun ganz real... Das ist ein wirklich wunderbarer, allerbedeutsamster Punkt in einem Menschenleben.

Tieferes Empfinden erkennt die Notwendigkeit der Selbsterziehung

Die Wichtigkeit der Selbsterziehung kann auch aus einem anderen Blickwinkel sehr deutlich werden: Jeder Erzieher wird gerade dann, wenn er den Ernst und die Tragweite seiner Aufgabe tiefer empfindet, seine Schwächen, Mängel und Unfähigkeiten erleben und erkennen. Je tiefer man seine Verantwortung empfindet, desto mehr und tiefer erlebt man, was man alles nicht vermag. Und dieses Erleben führt einen mehr und mehr zu einem Erkennen der Notwendigkeit der Selbsterziehung, und es kann auch den ersten Funken für die Entzündung des realen Willens zur Selbsterziehung bilden.

Wie könnte je etwas anderes im Mittelpunkt einer wahren Pädagogik stehen als die Selbsterziehung des Lehrers!? Nicht irgendein Lehrplan, nicht irgendeine Methodik ist das Entscheidende einer Pädagogik, sondern was der Lehrer für ein Mensch ist, was er für ein Mensch zu werden strebt, wie er strebt, ob er strebt...

Diese Realität ist wirklich das Alpha und das Omega jeder Erziehung, denn sie ist der Quell, aus dem alles andere erst seine wahre und wirkliche Realität gewinnt.

Erst auf dem Wege einer wahrhaften, ernsten, energischen Selbsterziehung darf man hoffen, die Fähigkeiten zu erringen, die ein Erzieher  und erst recht ein Waldorflehrer  wirklich braucht. Die Hingabe, das Verständnis, die Phantasie, die Geistesgegenwart den guten Willen, dann aber konkret und real bis in die einzelnen Handlungen.

Und mit Verständnis ist sowohl das liebevolle Verstehen der Sorgen und Nöte, der Hoffnungen und Freuden jedes einzelnen Kindes gemeint, als auch die Entwicklung der Kinder im umfassenden Sinne.

Die Menschenkunde Rudolf Steiners! Welche großartige Erkenntnis des Menschenwesens hat dieser große Eingeweihte gegeben und wie sehr hat er gerade den Waldorflehrern vertraut, dass diese Erkenntnis in ihnen lebendig werde dass sie alles dafür einsetzen, sie in sich lebendig zu machen! Was für ein Vertrauen, was für eine Hoffnung! Und es ist notwendig, dass es geschieht!

Der Abstieg in die völlige Verdrängung

Aber was ist die Realität? Welcher Waldorflehrer meditiert die Menschenkunde? Wieviele Waldorflehrer meditieren überhaupt? Wieviele haben auch nur ein einziges Mal meditiert, wie viele wissen überhaupt, wie das geht? Das sind die Fragen, die unmittelbar offenbaren, wo die Waldorfpädagogik heute steht. So ernst nimmt man die Grundlagen nämlich überhaupt nicht.

Sicher kann man den einzelnen Lehrer zu nichts zwingen  aber das bedeutet noch lange nicht, dass man über diese Dinge nicht sprechen darf, ja muss. Man behandelt sie schein-heilig als Privatsache, hat es zumindest jahrzehntelang so gehandhabt, heute ist es sogar fast völlig aus dem Bewusstsein verschwunden, erfolgreich daraus verdrängt worden. War es früher zumindest klar, dass man einen inneren Schulungsweg gehen "soll", wobei man nicht genau wusste, wer dieses "soll" real macht und wer nicht, so ist heute klar, dass der Schulungsweg ein lange zurückliegendes, völlig verblichenes „sollte“ ist, und man weiß, dass es keiner oder fast keiner tut.

Es ist, als ob die zentrale Grundlage der Waldorfpädagogik einem völlig anderen Zeitalter angehört. Die "Waldorfpädagogik" wurde modernisiert der Schulungsweg ist seit neuestem nicht mehr nötig... Wer die essentiellen Grundlagen jeder wahren Erziehung derart vernachlässigt, um nicht zu sagen verleugnet, versündigt sich an allem, was Waldorfpädagogik wesenhaft ist versündigt sich an einem wunderbaren leuchtenden Ideal, versündigt sich an den Kindern, den werdenden Menschen ... und auch an sich selbst. Und es ist eine tragische Schande, dass man für das, was man dann tut (und nicht tut) noch immer denselben Namen benutzt...

Der Schlüssel zur Selbsterziehung – das reine Denken

Wer die Waldorfpädagogik liebt, wer den werdenden Menschen, die Kinder und Jugendlichen liebt, der muss und wird auch die Selbsterziehung lieben sonst ist auch jene erste Liebe keine Realität. Die Selbsterziehung aber liebt nur der, der sie ganz und gar ernst nimmt. Hier hört alle Bequemlichkeit auf. Immer mehr erlebt man wirklich alle seine Unvollkommenheiten und immer mehr ringt man energisch um die innere Entwicklung, Verwandlung.

Auf diesem Wege erkennt man früher oder später, was der Schlüssel ist, mit dem man das Reich innerer Entwicklung wirklich betreten kann. Man erkennt, dass alle Versuche ohne diesen Schlüssel letztlich zum Scheitern verurteilt sind, weil eine grundlegende, nach und nach alles umfassende Änderung ohne diesen Schlüssel unmöglich ist. Man erkennt die Bedeutung einer grundsätzlichen Verwandlung des Denkens.

Das Denken muss ein anderes werden. Man muss sein Denken kennenlernen, muss lernen zu erleben, wie wenig es bisher eine Realität ist, wie ganz und gar es bisher ein bloßes Gedanken-Haben ist. Das Denken muss geboren werden, muss geübt werden, muss gekräftigt werden. Es muss das reine Denken geübt werden, ein Denken unabhängig von der Sinneswahrnehmung. Ein Denken reiner Begriffe, ein Denken moralischer Begriffe, ein Denken des Denkens...

Auf diesem Wege erwirbt man sich langsam ein Denken, das man zuvor niemals realisiert hatte, ein völlig neues Denken, eine völlig neue Realität.  Und mit diesem Denken entwickelt sich ein Wille, der etwas ganz anderes ist, als alles, was gemeinhin als "Wille" bezeichnet wird. Das neue Denken ist genau deshalb eine völlig neue Realität und bringt den Zusammenhang mit der wahren, voll erlebten Wirklichkeit, weil in diesem Denken erst der wirkliche, der reale Wille geboren wird. In der Entwicklung, in der Schulung, in der Kräftigung des reinen Denkens wird erst der wahre Mensch geboren! Es ist eine zweite Geburt, das allererste Erwachen des geistigen Menschen, das ungeheuer bedeutsame Ereignis, auf das Rudolf Steiner immer wieder hinweist.

Darum sind die Bücher von Mieke Mosmuller so wesentlich und so wunderbar, weil hier ein Mensch diesen entscheidenden Weg gegangen ist und geht und auf verschiedenste Weise immer wieder zu diesem Weg aufruft, ermutigt, ja regelrechte Schulungsbücher gibt. Und in "Eine Klasse voller Engel" zeigt sich konkret, wie erst durch diesen Schulungsweg das wunderbare Wesen der Waldorfpädagogik zu einer Realität werden könnte und auch werden würde...

Schlussworte

Waldorfpädagogik ohne Selbsterziehung ist eine Lüge. Selbsterziehung ohne Entwicklung des reinen Denkens ist letztlich eine Illusion, eine Unmöglichkeit.

Die Frage, wie sich die Waldorfbewegung zu diesen grundlegenden Wahrheiten stellt, ist der Prüfstein für ihre grundlegende Wahrhaftigkeit. Werden diese Tatsachen nicht anerkannt, dann ist jede Hoffnung auf eine Auferstehung der Waldorfpädagogik, auf eine Verwirklichung ihres Wesens vergeblich. Die große Tragik besteht darin, dass gerade die Waldorfschule einen allergrößten Auftrag hatte und hätte. Denn auch die gesamte Menschheitsentwicklung, die immer weiter einem dunklen Abgrund entgegengeht, steht und fällt mit dem Wesen der Selbsterziehung...